Predigt am neunzehnten Sonntag nach Trinitatis.
Herr! Herr! der du nicht willst, dass der Sünder verloren gehe, sondern dass er umkehre von seinem bösen Wesen und lebe, lehre uns erkennen, dass deine Langmut uns zur Buße leitet; erhalte in uns recht lebendig die Hoffnung auf Deine Gnade, dass wir immer eifriger werden mögen, sie zu suchen! Sei auch uns ein gnädiger Richter; lass auch uns die Barmherzigkeit zu Teil werden, die du den Bußfertigen verheißt. Nicht auf unser Verdienst, auf deine Gnade hoffen wir; lass uns nicht zu Schanden werden! Amen.
Geliebte Gemeinde! Unter den mancherlei Streitpunkten, welche so lange als das Christentum besteht, die denkende Christenheit beschäftigt haben, nimmt der über die sittliche Grundanlage des Menschen eine bedeutende Stelle ein. Dies ist auch natürlich; denn an diese sittliche Anlage will das Evangelium ja anknüpfen, sie will es entwickeln, zur Heiligkeit fortbilden, und die Menschen zu vollkommenen Kindern Gottes machen. Es ist darum für die ganze Auffassung des Evangeliums von entschiedener Wichtigkeit, ob der Mensch, der durch dasselbe dem Gottesreiche gewonnen werden soll, als von Natur gut, oder von Natur böse gedacht wird. Dass Alles, was aus der Schöpferhand des heiligen Gottes hervorgegangen, ursprünglich gut gewesen sein müsse, daran konnte wohl nicht gezweifelt werden; eben so klar lag es aber auch vor Augen, dass die Menschen nicht mehr gut, sondern dass sie allzumal Sünder seien, und es erhob sich nun die Streitfrage: ob diese Sündhaftigkeit dem menschlichen Geschlechte mit unausweichlicher Notwendigkeit anhafte, oder ob sie nur eine Folge mangelnder Treue der Einzelnen sei? Die erstere Meinung herrschte lange Zeit vor. Man glaubte, dass durch die erste Sünde der Ureltern im Paradiese, von welcher Moses berichtet, diese von Gott verworfen, ihrer ganzen Natur nach umgewandelt und zu allem Guten unfähig geworden seien, und dass diese ihre Sündenschuld mit allen ihren entsetzlichen Folgen auch auf alle ihre Nachkommen als Erbsünde übergegangen sei. Die Welt habe sich dadurch der Herrschaft Gottes entzogen und sei unter die Herrschaft des Bösen, des Satans, geraten, welcher sich die Menschen auch nimmer entziehen, aus der sie nur durch Gottes unmittelbar wirkende Gnade gerettet werden könnten. Alle Menschen seien daher von Natur böse, der Verdammnis verfallen; Gott aber habe sich ihrer erbarmt, und zu ihrer Erlösung den eigenen Sohn in die Welt gesandt, der durch seinen Tod Gottes Zorn versöhnt, und dadurch allen denen, die an ihn glauben, die ewige Seligkeit wiedergewonnen habe. - Wenn sich nun auch nicht leugnen lässt, dass dieser Vorstellung eine Wahrheit zum Grunde liegt, in so fern die Menschen wirklich alle sündigen, und es erst die Lehre und das Vorbild Jesu ist, welche eine rechte Gotteserkenntnis, die wahre Idee der Sittlichkeit und den rechten Trieb zur Heiligung, also alle Bedingungen, durch welche die Welt zu einem Gottesreiche erwachsen kann, erst in die Welt gebracht hat, so ist es doch eben so wenig zu verkennen, dass jene Lehre in der oben angeführten Schärfe, in welcher sie auch noch die Reformatoren festhielten, aus dem Evangelio nicht zu begründen ist. Jesus erkennt unwidersprechlich die ursprüngliche Güte der menschlichen Natur an, indem er von den Kindern sagt: ihrer ist das Himmelreich, indem er seine Jünger auffordert, zu werden wie die Kindlein, um in das Himmelreich zu kommen; indem er von dem guten Schatz des Herzens spricht, aus welchem der Mensch das Gute hervorbringe. Seine Forderung: Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist! und sein Ruf: Tut Buße! haben jedenfalls die doppelte Voraussetzung: einmal, dass der Mensch die Fähigkeit habe, der Vollkommenheit nachzustreben - denn ohne diese wäre jene Forderung ja unmöglich gewesen; - dann aber, dass die Menschen sämtlich Sünder geworden seien, denn sonst hätte die Mahnung: Tut Buße! nicht in solcher Allgemeinheit aufgestellt werden können. Dieselbe Grundanschauung findet sich auch bei allen Aposteln. Sie klagen wohl, dass alle Menschen Sünder geworden seien; nie aber sagen sie, dass sie es notwendig hätten werden müssen; sondern sie sind es geworden, weil das Irdische und Sinnliche in ihnen das Geistige und Göttliche überwunden hat und sie preisen das Evangelium als das hohe Gnadengeschenk Gottes, welches die Kraft habe, in den Menschen, die es gläubig annehmen und sich ihm hingeben, dem Geistigen den Sieg über das Sinnliche zu verschaffen, sie dadurch zu Gott hinzuführen, und ihnen die Vergebung ihrer Sünden durch Gottes Gnade zu erwirken. - Somit ist es denn wohl nur der Neigung des Menschen zur Übertreibung zuzuschreiben, wenn die Lehre Jesu und seiner Jünger bald so verkannt wurde, dass man behauptete: An dem Menschen ist nichts Gutes; er ist der Sünde willenloser Knecht und zu allem Guten so unfähig, dass er nur durch Gottes Gnade, ohne irgend welche Mitwirkung von seiner Seite gerechtfertigt werden kann, und diese Übertreibung rief dann als Gegensatz die andere hervor, nach welcher es hieß: Der Mensch ist ganz gut; seine Sünden haben nichts zu bedeuten, und er kann durch sein eigenes Verdienst vor Gott gerecht werden. - Dieser Gegensatz zieht sich durch die ganze Geschichte der christlichen Kirche hindurch. Jede Zeit hat ihn in einer ihr eigentümlichen Form erblicken lassen, und auch in unserer Zeit steht er jedem Auge erkennbar da. Auf der einen Seite kleidet sich der sittliche Ernst in ein düsteres Gewand, verliert darum leicht den freudigen Mut und den Eifer zum eigenen Kampfe wider das Böse, verlässt sich leicht zu sehr auf das ohne sein Zutun durch Gottes Gnade ihm bereits Gewonnene, während auf der andern Seite die sittliche Leichtfertigkeit nur zu viel Nahrung empfängt. Dort traut man sich zu wenig, hier zu viel zu. Dort erwartet man von Gott Alles und von der eigenen Kraft nichts, hier von der eigenen Kraft Alles und von Gott nichts, und während man dort ohne eigene Mitwirkung auf den Gnadenruf: deine Sünden sind dir vergeben! hofft, meint man hier, einen solchen gar nicht zu bedürfen! - Auf beiden Seiten, Geliebte, vermag ich die Wahrheit nicht zu erblicken; wir haben sie wohl in der Mitte zu suchen: Wir sind nichts und vermögen nichts ohne Gottes Gnade, die in uns mächtig ist; aber wir sind auch nichts, wenn diese Gnade Gottes in uns nicht kräftig wird, wenn wir die eigene Kraft nicht gebrauchen, um uns die göttliche Gnadengabe zu eigen zu machen; nur durch Treue in ihrem Gebrauche erringen wir uns Gottes Gnade. Zu dieser Erwägung wurde ich hingeführt durch unser heutiges Sonntagsevangelium, in welchem Jesus dem Gichtbrüchigen ermutigend zuruft: Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben! Das ist ja jener Zuruf, den die Einen leidend erwarten zu müssen, während die Anderen seiner gar nicht zu bedürfen glauben. Was das Rechte sei, wollen wir heute näher erwägen. Von der Vergebung der Sünden will ich heute zu euch reden.
(Gesang. Gebet.) Evangelium Matth. 9, 1-8.
Vertrauensvoll ließ sich der von Schmerz gequälte Gichtbrüchige zu Jesu bringen, und wir können es uns denken, wie ermutigend das Wort des Herrn auf ihn wirkte: Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben! - In welche Verbindung Jesus dies Wort mit der körperlichen Heilung des Kranken setzte, bleibe hier unerörtert. Wir fassen lediglich seine Beziehung auf das Geistige ins Auge und finden in ihm den Beweis, dass Jesus Gottes wiederkehrende Gnade als Vergebung der Sünden bezeichnet. Über diese wollen wir heute nachdenken, um dessen gewiss zu werden, was wir christlicher Weise davon zu halten und zu hoffen haben. Lasst mich denn zuerst auch darauf hinweisen
1) wie unbedingt notwendig für unser Leben und Sterben uns die Hoffnung ist auf eine Vergebung unserer Sünden.
Ja, unbedingt notwendig, denn ohne sie verlöre unser Leben seine Kraft und unser Sterben seinen Trost. - Die Hoffnung ist unsere freundliche Begleiterin in diesem Leben; ginge sie uns einmal verloren, wie entsetzlich elend wären wir dann! Wir wissen, dass das Dunkel der Zukunft für uns unerhellbar ist, dass es eben sowohl Glück, Freude und günstige Erfolge unserer Bestrebungen, als Unglück, Leid und bittere Enttäuschung für uns bergen kann. Wie sehr wir uns nun auch darauf gefasst machen müssen, dass das Letztere uns treffe, wie geneigt dann das schwache Her; auch ist, schon bei solcher Aussicht in Verzagtheit zu versinken: die Hoffnung zeigt uns immer noch Auswege, und wenn selbst diese sich verschließen, immer noch Stützen, die wir ergreifen können, wenn auch alles Andere uns verloren geht. Als auf die letzte, erhabenste und zuverlässigste, weil alles Irdische gebrechlich und hinfällig ist, weiset sie uns hin auf Gottes Gnade, die da bleibt von Ewigkeit zu Ewigkeit, ob auch Himmel und Erde vergehen. Sie ruft uns zu: Ist Gott für dich, wer will dann wider dich sein? - Aber, meine Lieben, eine leichtsinnige und unberechtigte Hoffnung frommt und erquickt nicht. Dürfen wir denn hoffen, dass Gott immerfür uns sein werde? Doch nur dann, wenn wir nicht wider ihn sind! Können wir denn aber mit Zuversicht uns wohl sagen: du bist stets mit Gott, auf seinen Wegen gewandelt, du hast stets seinen Willen getan? Unsre Hoffnung auf Gott kann gerechter Weise nur in dem Maße fest sein, als unsere Überzeugung von unserer Treue gegen ihn es ist. Können wir aber diese Überzeugung hegen, wir, denen ihr Gewissen täglich bezeugt, dass sie Sünder sind? Wenn auch, so lange Glück und Fülle uns umgeben, es uns gelingt, des Gewissens Ruf zum Schweigen zu bringen, wenn zu solcher Zeit auch die Eitelkeit und das Vertrauen auf die eigene Kraft reiche Nahrung finden, so dass wir uns selbst zu genügen meinen: das hält nicht Stich, wenn das Unglück kommt. Da drängt sich dann unwiderstehlich die Frage auf: Ist es nicht Folge, ist es nicht Strafe deiner eigenen Schuld? Alle Irrtümer, in die wir gefallen sind, obschon wir sie wohl hätten vermeiden können; alle Fehlgriffe, die wir in unseren Bestrebungen taten; alle Trägheit, die unseren Fleiß im Guten schwächte, alle Leidenschaften, die uns zu Zeiten übermannten, - sie alle treten dann vor unsere Seele, rufen dann uns zu: du bist nicht gerecht, du bist nicht mit Gott gewesen, du bist ein Sünder! Wie kann Gott für dich sein, der du so oft wider ihn warst? Damit, Geliebte, wäre dann jede Hoffnung vernichtet, und unser Elend wäre unermesslich! Ja unermesslich, denn wenn wir uns auch bekehren wollten, was könnte es uns helfen? Die begangene Sünde bleibt; kein Gott kann sie ungeschehen machen, ihr Fluch drückt uns fort und fort, bis in alle Ewigkeit!
So würde unser Zustand sein, Christen, wenn wir keine Hoffnung hätten auf eine Vergebung der Sünden durch Gottes Gnade! Jede Zuversicht würde dann unserem Leben genommen sein, ja selbst jeder Trieb, jede Kraft zur Besserung! Erdrückt von der Last der Schuld der vergangenen Zeit, bliebe uns für die kommende nichts als endlose Trauer, Gewissenspein, ja Verzweiflung! Erkennt ihr es nun an, wie wahr es ist, das ich behauptete, dass die Hoffnung auf eine Vergebung unserer Sünden uns unbedingt notwendig sei für unser Leben, und dass es ohne sie jede Kraft verlieren würde?
Nicht weniger aber für unser Sterben, das ohne sie trostlos wäre. Das Irdische entschwindet uns dann, und unser Herz hängt doch so sehr an ihm! Dies Leben sollen wir verlassen, und wir lieben es doch so sehr, weil Gottes Liebe es so reich für uns geschmückt, es mit so vielen Reizen ausgestattet hat? Welcher Trost bleibt uns dann? Der, dass uns nichts Wesentliches, dass uns überhaupt nichts verloren geht, das uns nicht wieder ersetzt würde; dass unser Leben erhalten bleibt, dass wir in eine andere Welt eintreten zu weiterem Fortstreben nach dem Ziele, das uns Jesus gesteckt hat; dass nun die Ernte kommt von unserer Saat! Aber, können wir denn dieser Ernte mit Freudigkeit entgegen sehen? Wenn uns auch manches Gute gelang, wie viel Böses haben wir auch vollbracht? Das Gute was wir taten, war unsere Schuldigkeit, damit haben wir nichts verdient; das Böse aber, das wir vollbrachten, ist unsere Schuld, und der Tod ist der Sünden Sold! Stehet nicht geschrieben: Wer auf sein Fleisch säet, der wird von dem Fleische das Verderben ernten? Können wir es uns verhehlen, dass damit unsere Ernte bezeichnet sei, der wir mit Schrecken entgegen sehen müssen? Welche Hoffnung, welcher Trost bleibt uns bei dieser Aussicht? Nur der eine: dass Gott gnädig und barmherzig ist, Sünde vergibt und hilft in der Not; dass er die Liebe ist, der auch unserer sich erbarmt und will, dass wir nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben. Aber täuschen wir uns nicht, Geliebte, durch unser eigenes Verdienst haben wir ihn nicht. Nur der würde Solches von sich sagen können, der sich rein wüsste von jeder Schuld. Denn jede Schuld bedingt Strafe, und wenn auch auf die Schuld noch so viel Gutes folgt, so wird doch dadurch die begangene böse Tat nicht ungeschehen gemacht und ihre Schuld nicht aufgehoben. Wohl aber kann der Richter um des Ernstes der Buße und der Sinnesänderung willen beschließen, die Sünde nicht zu strafen, die Schuld zu verzeihen. Aber das ist Gnade, und auf die müssen wir hoffen. Unsere Seligkeit hat zur Voraussetzung die Hoffnung, dass auch uns einst, wenn wir vor den Herrn treten werden, der Ruf empfange: Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben! Diese Hoffnung ist uns unbedingt notwendig, soll anders unser Leben und Sterben nicht trostlos sein; wer der eigenen Gerechtigkeit allein vertraut, hat auf Sand gebaut!
Dass dem so sei, sagt dem Menschen auch ein von Natur ihm einwohnendes und sehr richtiges Gefühl. Wie der Glaube an Gott dem Menschengeiste unvertilgbar eingepflanzt ist, so auch das Bewusstsein der Pflicht gegen ihn, die Anerkennung der eigenen mangelnden Treue, und des Bedürfnisses seiner Gnade. Darum haben auch alle Religionsformen, die es zu allen Zeiten und in allen Ländern je gab, ohne Ausnahme ihren Bekennern gewisse Hilfsmittel dargeboten und anempfohlen, durch welche sie die Gottheit versöhnen, und sich ihrer Gnade, so wie der Vergebung der Sünden versichern könnten. Es ist natürlich, dass in demselben Grade, als man sich die Gottheit menschlich und unvollkommen dachte, auch die Sühn- und Bußmittel sinnlich und unvollkommen erschienen, und es ist schon im Voraus anzunehmen, dass in gleicher Art, wie das Evangelium die einzig richtige Vorstellung von Gott als dem vollkommenen Geiste, dem heiligen Vater, der die Liebe ist, der Menschheit geoffenbart hat, auch seine Anweisung zur Erringung der göttlichen Gnade die einzig richtige sein werde. So ist es denn auch wirklich; allein die christliche Gottesidee ist eine so hohe und hehre, die aus ihr für die Menschen sich ergebende Aufgabe eine so gewaltige und unendliche, zu derselben nicht erheben können, und daher kommt es, dass auch unter Christen noch vielfach mangelhafte Auffassung des Willens Jesu herrscht, noch mancher falscher Weg gelehrt und eingeschlagen wird, um die Hoffnung auf den einstigen Zuruf: Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben, zu erwecken. Haben wir daher erkannt, wie unbedingt notwendig für unser Leben und Sterben uns die Hoffnung auf Gottes sündenvergebende Gnade ist, so haben wir nun unsere Aufmerksamkeit dahin zu wenden, dass wir auch den rechten Weg erkennen, den wir einschlagen müssen, um diese Hoffnung bei uns verwirklicht zu sehen. Lasst mich daher zuvörderst
2) vor den trügerischen Hoffnungen auf Vergebung der Sünden warnen, die auch in der christlichen Kirche sich noch vorfinden. -
Diese sind darum so gefährlich, weil sie die sittliche Trägheit der Menschen stärken, den Trieb zum lebendigen Trachten nach der Heiligung in ihnen schwächen, und eine falsche Sicherheit hervorbringen, indem sie vorspiegeln, als sei schon hier auf Erden eine vollkommene Tilgung der Sündenschuld möglich. Dies geschieht auf der einen Seite dadurch, dass der ausdrücklichen Erklärung des neuen Testamentes, nach welcher alle Christen ein priesterliches Geschlecht sind, zuwider, ein besonderes bevorrechtetes Priestertum in der christlichen Kirche angenommen wird, welchem Gott angeblich die Berechtigung zugestanden habe, die Sünden zu vergeben und zu behalten. Da heißt es dann: Du hast weiter nichts zu tun, als dem Priester deine Sünden zu bekennen, und was er dir auflegt zu erfüllen. Vergibt er dir dann deine Sünden, so bist du sie los! - Das ist freilich eine sehr bequeme Lehre, zumal wenn noch außerordentliche Gelegenheiten hinzukommen, bei welchen man durch einzelne Andachtsübungen Ablass der Sünden für Jahre, für die Lebenszeit, ja für die Ewigkeit mühelos erlangen kann. Wer ihr glauben könnte, der würde der Mahnungen des strafenden Gewissens, des fortgesetzten Kampfes gegen die böse Lust des Herzens und die Macht der Leidenschaften mit einem Male ledig; denn wenn sie uns auch wieder besiegen, die Entsündigung ist ja entweder schon vorher gewonnen, oder immer wieder leicht zu haben! - Aber kann der nachdenkende gewissenhafte Christ wohl im Ernste glauben, dass Gott den Spruch seiner Gerechtigkeit und Gnade selbst sündigen und leicht zu täuschenden Menschen anvertraut habe? Dass wenn sie durch erheuchelte Äußerungen der Reue betrogen, oder aus Leichtfertigkeit einem im Herzen Unbußfertigen die Sünden vergeben, Gott dann diesen auch nicht strafen könne? Oder wenn sie aus Leidenschaft und priesterlichem Gelüste den wirklich Bußfertigen vom Altare fortweisen, dass Gott auch diesen Spruch der Ungerechtigkeit bestätigen müsse? Hat die Geschichte diese vermeinte Beichtgewalt nicht oft als einen Zügel für betörte Völker zur Befestigung der Priesterherrschaft missbrauchen sehen? Haben wir es nicht in unserer Zeit erleben müssen, dass fromme, christliche Frauen, weil sie wider den Willen der sogenannten Kirche, dem Manne ihres Herzens ihre Hand gaben, weil sie den ehelichen Frieden nicht durch religiöse Unduldsamkeit stören, und das gesetzliche Recht ihres Gatten auf die Erziehung der Kinder nicht kränken wollten, vom Altare als Verstoßene zurückgewiesen worden sind? Glaubt etwa Jemand, dass auch dies ein Spruch Gottes sei? Nein, meine Geliebten, jene Lehre von einer Sündenvergebung durch Menschenwort trägt das Zeugnis ihrer Unwahrheit so deutlich an sich und hat in dem ganzen Geiste des Evangeliums so durchaus gar keinen Halt, dass wir sie getrost als ein Abirren von demselben bezeichnen können. Sie kann dem Reich Gottes auf Erden nur schaden, indem sie wohl die Gewissen beschwichtigen, nie aber beruhigen, indem sie wohl das Streben nach der Heiligung schwächen, nie aber fördern kann. So leicht lässt der heilige und gerechte Gott sich nicht abfinden! -
Erblicken wir diese Verirrung vorzugsweise in einer andern Kirchengemeinschaft ausgebildet, so geht in der eigenen eine andere, nicht minder gefährliche in neuerer Zeit wieder vielfach im Schwange: Es ist die Lehre von der sogenannten stellvertretenden Genugtuung Christi, nach welcher Jesus die Sünde, welche alle Menschen begangen haben und begehen werden, bereits auf sich genommen, den darüber entbrennenden Zorn Gottes durch seinen Tod bereits versöhnt und, mit seinem Blute die Sünden bereits rein gewaschen habe, sofern sie nur recht ernstlich glauben, dass dies Alles wirklich so sei! Abgesehen davon, dass diese Lehre nur auf einzelne aus dem Zusammenhange gerissene und unverstandene Stellen der heiligen Schrift sich gründet, wer kann denn bei einigem Nachdenken im Ernste glauben, dass bereits vor 1800 Jahren eine Sühnung für alle auch heute noch vollbrachten Sünden geleistet sei, dass der Tod eines Unschuldigen die Schuldigen ohne Weiteres frei mache, sobald sie nur in Folge dessen frei zu sein glauben? Ist hier nicht wieder ersichtlich, wie der sich hier aussprechende Gedanke: Ich habe, nachdem ich gesündigt, nichts mehr zu tun, es ist schon Alles für mich getan! der Bequemlichkeit, der sittlichen Trägheit des Menschen einen höchst gefährlichen Vorschub leistet? Nein, meine Geliebten, solcher Täuschung wollen wir uns nimmer hingeben. Wenn irgend wo, so heißt es hier: Selbst ist der Mann! Wie du die Sünde selbst getan hast, so musst du auch selbst Buße tun, und kannst keinen Ersatzmann für dich stellen. Dies näher zu erweisen, lasst mich denn euch
3) dartun, wie wir christlicher Weise eine begründete Zuversicht auf die Vergebung unserer Sünden gewinnen können.
Dies kann nur dann geschehen, wenn wir der Anweisung dessen folgen, der der Anfänger und Vollender unsres Glaubens ist, der allein Worte des ewigen Lebens für uns hat, Jesu Christi. Wie er in seinem ganzen Evangelio die Menschen aufrichtet durch die Verkündigung von der Vergebung der Sünden aus Gottes Gnade, so hat er es auch an der Anweisung nicht fehlen lassen, wie wir dieser Gnade Gottes teilhaftig werden können. Er will die Menschen zu Gott hinführen; die Sünde ist's aber die sie von ihrem himmlischen Vater scheidet; darum will er sie anleiten, dass sie die Sünde, das Ungöttliche von ihrem Wesen ausscheiden; dann regiert sie der Geist Gottes, dann sind sie Gottes Kinder! Wie es aber der eigene freie Wille war, in welchem sie der Sünde Knechte wurden, so muss es auch der eigne freie Wille sein, der sie die Rückkehr zu Gott wieder suchen lässt. Dem Willen diese Richtung zu geben: dadurch dass er die Herrlichkeit und Seligkeit der Kinder Gottes schildert, dass er des Vaters ewige Liebe preist, die sich des verloren gewesenen aber wieder gefundenen Kindes freue, dadurch dass er selbst das Vorbild der vollkommensten Treue wird, das ist sein vorzüglichstes Bemühen. Er will den Mut der Menschen zum Ringen nach der Heiligung erwecken, darum predigt er nicht Gottes Zorn, sondern Gottes Liebe, nicht das Gericht, sondern die Rettung. Indem er so den Menschen eine ganz veränderte Gottes- und Pflichtanschauung gibt, wird er der Mittler, durch den sie zu Gott kommen. - Tut Buße! ist darum sein erster Ruf, und dieses Bußetun bedeutet bei ihm dasselbe, was er an einem andern Orte mit „von Neuem geboren werden“ bezeichnet: die gänzliche Umwandlung des Geistes und Strebens des Menschen, das früher dem Irdischen, Sinnlichen und Sündigen zugewandt, sich nun auf das Ewige, Sittliche, Göttliche hinwenden soll. Gott soll dann in den Herzen wohnen, seine Liebe soll sie locken, ihm sollen sie treu sein in ihrem ganzen Leben, ihm sich angeloben, das heißt: an ihn glauben! Alle äußerliche Religionsübung soll den Zweck haben, diesen göttlichen Sinn in den Menschen zu erwecken und zu beleben; darum kann sie auch nur nützen, wenn sie mit reinem Herzen geschieht, und darum ermahnt er auch: Wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst, und wirst allda eindenken, dass dein Bruder etwas wider dich habe, so lass allda vor dem Altar deine Gabe, und gehe zuvor hin, und versöhne dich mit deinem Bruder; und alsdann komm und opfere deine Gabe. Also nicht bloß auf die kommende Zeit soll die Buße sich beziehen, sondern sie muss das Bestreben haben, das in der Vergangenheit Gefehlte möglichst wieder gut zu machen. Erst dann aber ist die Buße vollendet, wenn sie eine solche Festigkeit im Guten hervorgebracht hat, dass die Sünde ihre Kraft verloren hat und nicht mehr lockt; darum spricht er zu der Sünderin, die er begnadigt: Gehe hin, und sündige hinfort nicht mehr! - Denselben Weg zur Gnade bezeichnen auch sämtliche Jünger in ihrer Predigt. Sie zeigen, dass der Opfer- und Tempeldienst, die ganze Werkheiligkeit der Juden nicht zur Rechtfertigung vor Gott führen könne, sondern die lebendige Dahingabe des ganzen Herzens an Jesum und sein Evangelium, in welchem sich Gottes Wille und Verheißung ausspreche. Sie fordern auf zu verleugnen das ungöttliche Wesen, einen neuen nach Gott in Heiligkeit und Gerechtigkeit geschaffenen Menschen anzuziehen, der Sünde zu sterben und der Gerechtigkeit zu leben. Nicht Gott ist es, der versöhnt werden muss: Er ist die ewig unwandelbare Liebe. Aber die Menschen haben sich durch ihre Sünde mit Gott entzweit, sie müssen sich mit ihm und seinem heiligen Willen wieder versöhnen, und darum ruft Paulus an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Das ist die wahrhaft christliche Anschauung, aus welcher sich der christliche Begriff der Buße zum Gegensatze zu dem jüdischen ergibt. Dort wurde Gott als der Zornige gedacht, der versöhnt werden müsse; hier erscheint der Mensch als der, in welchem die Versöhnung durch Heiligung zu vollziehen sei.
Wendet nun, Geliebte, diese deutlich in der Lehre Jesu und seiner Apostel enthaltenen Grundsätze auf die Beantwortung der von uns gestellten Frage an, und ihr werdet erkennen, wie wir eine begründete Zuversicht auf die Vergebung der Sünden durch Gottes Gnade gewinnen können. Nur dann also, wenn wir uns ganz zu Gott bekehrt haben, wenn nichts Ungöttliches mehr an uns ist! Wird dies aber der Fall sein, so lange wir leben? Wird jemals jede Sünde ihre Lockung für, ihre Kraft über uns verloren haben? Nein! Darum können wir Gottes Gnade und die Vergebung unserer Sünden uns auch nimmer so verdienen, dass wir einen Rechtsanspruch darauf hätten! Darum muss unser sittlicher Kampf unausgesetzt fortgeführt werden bis an unser Ende, und wenn wir in diesem Kampfe treu sind, dann haben wir die Hoffnung auf Gottes Gnade!
Ihr seht also, geliebte Mitchristen, dass dieser evangelische Glaube uns das Streben nach der Sündenvergebung keineswegs so leicht macht, als jene vorher erwähnten Glaubensmeinungen. Aber er täuscht uns auch nicht mit eitler Hoffnung, er stimmt auch mit der Heiligkeit Gottes, und mit dem Worte Jesu; er beschwichtigt auch nicht mit trügerischer Verheißung die uns so nötigen Mahnungen unseres Gewissens, er lähmt auch nicht unser sittliches Streben, welches ein unendliches ist, sondern er regt es zu immer entschiedenerem Kampfe wider alles Böse an. -
Dass wir diesen Weg erkannt haben, dass wir auf demselben geleitet werden durch das Evangelium und durch die Hilfsmittel der christlichen Kirche: Gottesdienst, Gebet und Saerament, das ist Gottes Gnade und Jesu Verdienst. Mit Recht rühmen wir darum: Durch Gottes Gnade und Jesu Verdienst werden wir selig; aber nicht, indem wir beides blind glauben, und träge hoffen, sondern indem wir das Eine uns aneignen und nach dem Anderen in treuer Liebe ringen. Tun wir das, so haben wir Kraft im Leben und Trost im Sterben, dann dürfen 'auch wir hoffen, dass, wenn wir durch den Tod eingehen zum andern Leben, uns das Gnadenwort beglücken werde: Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. Amen.