Predigt über Hesekiel 34, Vers 31.
Gehalten am 1. September 1861.
Es fragen Viele nach dem Weg zur Ruhe, ohne den Weg selbst noch auch die Ruhe zu wollen. Es haben Viele von diesem Wege Beschreibungen oder Gemälde gemacht, welche ihrem Gegenstande weniger entsprechen, als etwa die Beschreibung eines Landes, das der Verfasser nie gesehen, als die Lehre einer Kunst, welche der Lehrer nie selbst ausgeübt hat, ihre Aufgabe erfüllen mag. Der wirkliche Übergang von dem Wege, worin man sich zerarbeitet, auf den Weg nicht zur Ruhe, sondern auf den Weg der Ruhe, geschieht eben so rasch, als der Übergang von dem Ende eines schlechten Weges auf einen guten. Der Übergang ist da, wo man Gott aufs Höchste erhöht, und wo der Mensch sich selbst aufs Tiefste erniedrigt, wo der Mensch Gotte die Ehre gibt und sich selbst verklagt und verdammt, das ist, mit seinem Wesen und Wert sich selbst verwirft. Kenntnis Gottes in dem Angesicht Jesu Christi und Kenntnis seiner selbst gehen Hand in Hand. Wo Beides nicht zusammen geht, ist Eines mangelhaft, ja Lüge. Man muss sich selbst kennen, um zu erfahren, was ewige Liebe, was freies Erbarmen, was wahrlich Gnade ist. Die Kenntnis seiner selbst hat keiner von sich selbst, sondern Gott gibt sie. Wo Gott diese Kenntnis gibt, da gibt er sie so, dass er uns sagt, wie er uns kennt; und nachdem er das gesagt, überwältigt er uns mit seiner Gnade, dass wir es erfahren, was wir für unmöglich hielten, wie unser Wesen ihn nicht abgehalten hat, noch abhält, uns Barmherzigkeit widerfahren zu lassen auf Grund dessen, was Gottes Lamm vor Gott ist und Gotte gebracht hat.
Solche Kenntnis gibt nun Gott durch seinen heiligen Geist in der Weise, dass er uns gründlich demütigt unter seinem Gesetz und durch die Gewalt seiner Liebe. Und weil er es allemal durch sein Wort tut, so bringen wir Euch Gottes Wort, auf dass Ihr für die wahre Ruhe Eurer Seelen, im Anfang oder Fortgang vernehmet, wie Gott, wie sein Wort uns kennt; was Gott, was das Wort von uns sagt, auch wenn es uns sagt, dass Gott unser Gott ist.
So lesen wir bei dem Propheten Hesekiel Kap. 34. Vers 31, nach dem Hebräischen: „Und ihr, meine Schafe, Schafe meiner Weide: Menschen seid ihr, Ich bin euer Gott, spricht der Herr Herr.“
Etliche übersetzen: „Ihr seid die Menschen,“ oder: „Ihr seid die Menschheit,“ was offenbar falsch ist; sowie auch Luthers Übersetzung hier das Richtige nicht getroffen hat, es sei denn, dass wir zuvor die Meinung Gottes verstanden haben.
Wir behandeln in dieser Stunde zur Selbstkenntnis, was Gott von den Seinen sagt: „Menschen seid ihr,“ spricht der Herr Herr. Beantworten wir die Frage, was Gott uns damit sagen will.
Der Herr spricht in diesem selbigen Kapitel von den Seinen unter dem Bilde von Schafen. Und da redet er von Kranken, die geheilt, von Verwundeten, die verbunden, von Verirrten, die geholt, von Verlornen, die gesucht werden sollen, von Tyrannisierten, die er in Freiheit gesetzt wissen will. Er beschreibt die Seinen als Schafe, die keinen Hirten haben, die den wilden Tieren zur Speise geworden und gänzlich zerstreut sind; als Solche, die auf den Bergen und auf den hohen Hügeln hin und wieder irre gehen, ohne etwas zur Stillung ihres Hungers zu finden; als Solche, die auf dem ganzen Lande hin und her zerstreut sind. Und es ist Niemand, spricht er, der nach ihnen fragt, oder ihrer achtet. Schafe sind es, die essen müssen, was die Hirten, als wahre Böcke, mit ihren Füßen zertreten haben; und trinken müssen sie, was die Böcke mit ihren Füßen trübe gemacht haben. Magere Schafe sind es, und schwache, die mit Hörnern gestoßen worden, bis sie gar zerstreut sind. Sie sind unter das Joch der Dienstbarkeit gebracht, sind voller Furcht, die Beute jeglichen Raubtiers. Sie gehen irre hin und wieder, wo es nicht geregnet hat, wo keine Weide, keine Frucht ist, wo nichts wächst gegen ihren Hunger und Kummer. Fassen wir dieses Alles zusammen, so will der Herr, wenn er spricht: „Menschen seid ihr,“ sagen: Ihr seid verloren, verirrt, verwundet und so schwach, dass ihr euch nicht wehren könnt, ihr seid ohne Hut und Pflege.
Menschen seid ihr, ist demnach ein Spruch des Erbarmens, wobei der ewige Erbarmer den Seinen zu verstehen gibt, was sie sind, nämlich: verloren, verirrt, verwundet, wehrlos und hilflos. Es sagt der Spruch aber noch mehr. Denn wird gleich in diesem Kapitel den Hirten, die statt der Schafe sich selbst weideten, die Schuld gegeben, so ist es doch aus andern Aussagen des Propheten offenbar, dass sie einstmal bessere Weide gehabt, und durch Verführung des Feindes und eigenen mutwilligen Ungehorsam unter solche Hirten gerieten.
Der Herr sagt: Ihr seid um und um schwach und könnt euch selbst nicht helfen noch erlösen; ich weiß, dass ihr es redlich versucht habt, aber es ist euch Alles fehlgeschlagen; ihr seid mit Allem nicht weiter gekommen, als dass ihr erfahren habt, dass und wie ihr Menschen seid; wohlan, ich kenne euch nicht anders, und erbarme mich eurer, so wie ihr seid.
Wo der Herr mit der Bekehrung anhebt, da hebt auch der Mensch an, sich selbst zu bekehren, und da geht es redlich und wohlgemeint her; aber der Mensch versteht die Gnade nicht, wie sie durch weg und allenthalben Gnade ist; sein Streben ist, über den menschlichen Standpunkt hinaus sich empor zu schwingen. Ist es da Gottes Wert, so wird der Mensch im Lichte des Gesetzes verkehrter und verkehrter, immer sündiger und sündiger, und das Ende ist, dass er gewahr wird, wie er um und um Mensch ist; - da kommt dann das völlige Verzagen an sich selbst, aber da kommt auch Gott mit seinem Trost: „Menschen seid ihr,“ ich habe euch nie anders gekannt und nehme mich so eurer an.
Woher der verkehrte Sinn bei den Gläubigen und der unbekehrte Sinn bei den Ungläubigen, wenn nicht daher, dass sowohl der Eine wie der Andere des nicht eingedenk ist, dass er ein Mensch ist. Dazu kommt nun das Wort, es uns anzusagen, wer wir sind, auf dass dem Einen der verkehrte Sinn genommen sei, und der Andere den unbekehrten Sinn ablege.
Was hilft die Predigt, was der Mensch in Christo ist, wenn er nicht zur Selbsterkenntnis kommt, wer er an und für sich ist? Denn ohne gründliche Demütigung gibt es keine Erhöhung, es sei denn eine solche, welche doch später zum Fall gereicht. Ohne voraufgegangene demütigende Selbsterkenntnis bleibt man ein grausamer Richter seines Nächsten, ein Heuchler und ungerechter, voller Zorn und Bosheit, ein rachsüchtiger Tyrann. Es ist ein Merkmal aller Verworfenen, dass sie hier auf Erden sich selbst nicht kennen; wie es ein Merkmal aller Heiligen ist, dass sie, an sich selbst, sich offenbar und aufgedeckt werden, um in Demut zu bekennen, dass sie Menschen sind. Was man auch vom Evangelio wissen möge, ohne Selbstkenntnis bleibt man doch unbekehrt, oder man erstickt in seiner Rechthaberei; oder lehrt Andere und lehrt sich selbst nicht, man bleibt in seinem Wahn von freiem Willen und allgemeiner Gnade im Groll gegen Gott und seine Heiligen, und verfehlt des Weges in dem Nebel von Demut und Geistlichkeit der Engel, wie der Apostel Paulus an die Kolosser schreibt Kap. 2, V. 18.
Menschen seid ihr, spricht der Herr durch den Propheten Hesekiel. Horchen wir auf das, was die Schrift, anderwärts in demselben Sinne von uns bezeugt, so ist die Summa davon enthalten in dem, was der Prediger sagt Kap. 6, V. 10 (nach dem Hebräischen): „Was auch Jemand sei, bereits ist sein Name genannt, und ist es bekannt, dass er ein Mensch ist, und kann nicht hadern mit dem, der ihm zu mächtig ist.“
Mensch heißt von Anfang an das, was Staub und Erde ist, was irdisch und demnach nicht himmlisch ist, wie geschrieben steht 1. Kor. 15, 47: „Der erste Mensch ist von der Erde und irdisch.“
Was soll nun solche Erde? Sie wird wieder zur Erde, wovon sie genommen ist. Staub bist du, und sollst zu Erde werden, spricht Gott, der Herr. Indem wir bekennen, dass Gott Alles aus Nichts gemacht, was sind wir dann mehr als ein Nichts in uns selbst; die wir doch, was wir sind, nur durch Gottes Erschaffung sind und nur durch Gottes Erhaltung bleiben.
Wenn Gott seinen Hauch aus uns zurückzieht, so sind wir ja Leichen, die verwesen. Kann ein Machwerk wirken oder kann es bestimmen, was es wirken soll? Hängt es nicht ganz von der Bestimmung dessen ab, der es gemacht, dass er damit tue, was er will? Kann ein Mensch dichten, trachten, wollen, sich bewegen, sehen, urteilen, entscheiden, Hände und Füße ausstrecken, kann er essen, trinken, schlafen, arbeiten, kann er hören, fühlen, kann er überhaupt einen Augenblick atmen und leben ohne Gott? O, wie wahr ist es, was geschrieben steht Jes. 40,15.17: „Siehe, die Heiden sind geachtet wie ein Tropfen, so am Eimer bleibt, und wie ein Scherflein, so in der Waage bleibt. Siehe, die Inseln sind wie ein Stäublein. - Alle Heiden sind vor ihm wie ein Nichts, und wie ein Nichtiges und Eitles geachtet.“ Und Kap. 41,23.24: „Trotz, tut Gutes oder Schaden, so wollen wir davon reden und mit einander schauen. Siehe, ihr seid aus Nichts, und euer Tun ist auch aus Nichte, und euch erwählen ist ein Gräuel.“ Wenn das von Völkern gilt, wie vielmehr von dem einzelnen Menschen; darum : „Wehe dem, der mit seinem Schöpfer hadert, nämlich der Scherbe mit dem Töpfer des Tons. Spricht auch der Ton zu seinem Töpfer: Was machst du? Und Dein Werk: er hat keine Hände.“1) O, wie gilt von uns allen, wenn wir uns unabhängig von Gott wähnen, oder meinen, wir könnten auch Etwas, und sollten demnach Etwas, das Wort: „Aber Menschen sind doch ja nichts, große Leute fehlen auch, sie wägen weniger denn nichts, so viel ihrer ist.“2)
Möchten wir dieser Abhängigkeit von Gott und unserer eigenen Hilflosigkeit doch eingedenk bleiben! Wein haben wir es zu verdanken, dass wir empfangen und geboren wurden, dass wir nicht erstickten im Mutterleibe? Wie hilflos waren wir als Junggeborne, und wie lange blieben wir hilflos? Was weiß der Mensch, - als nur dieses, was er, bei allem Wissen, doch nicht wissen will, oder nicht weiß, wie er es wissen soll: dass er geboren wurde, um zu sterben! Und wer weiß den Tag seines Todes, wenn Gott denselben ihm nicht zuvor offenbart? O, wohl sind wir Menschen, von unserem ganzem Leben es gilt, was Hiob sagt Kap. 14,1: „Der Mensch vom Weib geboren lebt kurze Zeit, und ist voll Unruhe; geht auf wie eine Blume, und fällt ab; flieht wie ein Schatten, und bleibt nicht. Und du tust deine Augen über solchem auf, dass du mich vor dir in das Gericht ziehst.“ Vers 22: „Weil er das Fleisch an sich trägt, muss er Schmerzen haben, und weil seine Seele noch bei ihm ist, muss er Leide tragen.“
Wahrlich, wir Menschen, wie wir Erbe sind, und das Vieh sind einander gleich; wie der Prediger sagt Kap. 3, 18-20: „Ich sprach in meinem Herzen von dem Wesen der Menschen, darinnen Gott anzeigt, und lässt es sehen, als wären sie unter sich selbst wie das Vieh. Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh; wie dies stirbt, so stirbt er auch, und haben alle einerlei Odem; und der Mensch hat nichts mehr denn das Vieh; denn es ist Alles eitel. Es fährt Alles an einen Ort; es ist Alles von Staub gemacht, und wird wieder zu Staub.“ Und Kap. 9,12: „Auch weiß der Mensch seine Zeit nicht, sondern wie die Fische gefangen werden mit einem schädlichen Hamen3), und wie die Vögel mit einem Strick gefangen werden, so werden auch die Menschen berückt zur bösen Zeit.“ Und Ps. 49,21: „ Kurz, wenn ein Mensch in der Würde ist, und hat keinen Verstand, so fährt er davon wie ein Vieh.“ „Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, so sind es achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen, denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon,“ heißt es Ps. 90, V. 10.
Menschen seid ihr, spricht der Herr. Und was ist das Los unserer Leiber? - sie werden zuletzt von den Würmern gefressen. Sieht es aber besser mit unseren Seelen aus? Verhält es sich nicht also, dass unser Wissen und Verstand beschränkt und unvollkommen ist in allem unserem Denken? Ob der Verstand auch viele Dinge begreift, so gibt es doch noch unendlich viel mehr, wovon er nichts begreift. Wie Vieles gibt es nicht, das wir nicht wissen! wie vieles, was den Menschen mit einem Mal von Sinnen bringen kann! Wie wenig kennen wir uns selbst! wer weiß an sich selbst, was für eine Wirkung die Seele auf den Leib, der Leib auf die Seele ausübt? – Ist das Gedächtnis, wie scharf es auch sei, sich selbst überlassen, nicht der wichtigsten Dinge vergessen? der Wille mag große Dinge, ja, das höchste Gut wollen, was hilft's? Dieses Wollen macht den Menschen nur umso unglücklicher, weil er sich selbst nicht glücklich machen kann, weil er das Glück nicht darzustellen vermag, weil er empfindet, dass er es nicht besitzt. Mit allen Kräften und allem Vermögen des Verstandes und des Willens sind wir nicht im Stande, was außer uns ist, zu bewegen, oder auch nur eine einzige Leidenschaft in uns zu bewältigen. Wenn man will, kann man nicht, und wenn man kann, will man nicht. Alles hat seine Zeit, und kein Mensch kann gebieten über die Umstände.
Menschen seid ihr, spricht der Herr, und da mögen wir wohl mit Hiob sagen: „Und du tust deine Augen über solchem auf, dass du mich vor dir in das Gericht ziehst.“ Hiob 14. Gott zieht uns vor sich in das Gericht. Vor diesem Gericht wird es noch in einer andern Weise klar, was wir sind, und wie Gott uns kennt, wenn er es von uns aussagt, dass wir Menschen sind. „Wer glaubt es, dass du so sehr zürnst? und wer fürchtet sich vor solchem deinem Grimm?“ heißt es Psalm 9011. Denn das ist ja alles Zorn und Grimm Gottes, dass wir allem Ende und dem Tode unterworfen sind. Obschon wir von Erbe sind, schuf uns doch Gott in seinem Bilde und nach seiner Gleichheit.4)
Wenn es jetzt in voller Bedeutung des Wortes von uns gesagt wird, dass wir Menschen sind, woher kommt das anders, als von unserer Sünde und mutwilligen Übertretung? Und wo sollen wir anfangen, wo enden, um es recht deutlich zu machen, was es heißt, wenn Gott von uns sagt: „Menschen seid ihr.“ Da haben wir es wohl vor Gott zu bekennen, dass wir, dass unser ganzes Wesen, Dichten, Denken und Handeln Sünde ist; ein non-ens et non-sens5) vor Gott und seinem heiligen Gesetz!
Lassen wir uns noch durch folgende Aussagen der Schrift belehren, was es heißt, dass wir Menschen sind; denn was könnte uns wohl näher angehen?
Wie wir von Hause aus beschaffen sind, wie wird und das so ganz nach Wahrheit offenbart Ezech. Kap. 16, V. 2-5, Psalm 51, V. 5 und 1. Mos. Kap. 8, V. 21!
„Was ist ein Mensch, dass er sollte rein sein, und dass der sollte gerecht sein, der vom Weibe geboren ist. Siehe, unter seinen Heiligen ist keiner ohne Tadel, und die Himmel sind nicht rein vor ihm, wie viel mehr ein Mensch, der ein Gräuel und schnöde ist, der Unrecht läuft wie Wasser,“; - lesen wir Hiob 15, V. 14. - Oder wer hat, wie begabt auch mit Geistesanlagen, nicht Ursache sich zu demütigen, da es doch von uns, wie wir von Natur sind, heißt, dass der natürliche Mensch nichts vernimmt von dem Geiste Gottes, dass es ihm eine Torheit ist, und er es nicht erkennen kann? ja, da ein Weiser es von sich bekennt: Ich bin der Allernärrischste, und Menschenverstand ist nicht bei mir. Ich habe Weisheit nicht gelernt, und was heilig ist, weiß ich nicht.6) Weise sind sie, um Böses zu tun; Gutes zu tun wissen sie nicht, spricht der Herr. Wenn ein Ochse seinen Herrn kennt, und ein Esel die Krippe seines Herrn, strafen da Ochse und Esel nicht Israel, dass es seinen Herrn nicht kennt; strafen sie nicht des Herrn Volk, dass es nicht vernimmt?7) Es ist der Mensch mit seiner Vernunft und allem Verstand fein geschliffen genug, um mit Hilfe des Teufels Ausflüchte zu suchen, wenn ihm seine rechte Pflicht vorgehalten wird. Aber in den Dingen Gottes und seiner Seligkeit bedeckt Finsternis seinen Verstand. - Soll der Mensch da noch vertrauen auf sein Herz, er, der Gottes Wege nie kennt und nicht kennen will? Hat nicht der Mund der Wahrheit gesagt: Aus dem Herzen der Menschen gehen heraus böse Gedanken, Ehebruch, Hurerei, Mord, Dieberei, Geiz, Schalkheit, List, Unzucht, Schalksauge, Gotteslästerung, Hoffart, Unvernunft?8) O, wie machen diese bösen Stücke den Menschen zum Menschen, das ist, gemein! wie auch der Prediger sagt (Kap. 9, V. 3): „Das Herz der Menschen wird voll Arges, und Torheit ist in ihren Herzen, dieweil sie leben.“ Darum klagt der Prophet Jeremias: „Es ist das Herz ein trotziges und verzagtes Ding, wer kann es ergründen?“9) - Hat da der Mensch bei solchem Unverstand noch einen andern Willen, als einen sklavischen, den Willen des Teufels zu tun, und dem Willen und den Gelüsten des Fleisches zu dienen? Wie kann da die Gesinnung eine andere sein als Feindschaft wider Hott? das Bestreben, ein anderes als unbekümmert um Gottes Zorn und ewige Strafe, nach eignem Willen und eigner Wahl einherzugehen?
Menschen seid ihr, spricht Gott, das ist: solche, die der ewigen Strafe gewärtig sind, wenn ich mich nicht eurer erbarme. Solche ewige Strafe haben wir Menschen wohl verdient. Von der Fußsohle an bis auf das Haupt ist nichts Gesundes an uns, wenn Gott kommt uns heimzusuchen; das Herz ist verhärtet, die Ohren sind unbeschnitten, die Nase riecht nur noch gerne Höllengestank; die Augen sind voll Ehebruchs, der Mund ist der Verfluchungen und des Gottentehrenden voll, die Zunge giftig, die Hände voller Unrats, die Füße eilend, Blut zu vergießen, und von dem Weg des Friedens gar kein Verstand.10) Alle Gedanken sind eitel und nur auf Gräuel und Bosheit aus, so dass nicht eine Faser Gutes am Menschen ist, die wahrhaftig gut und nach dem geistlichen Sinne des Gesetzes wäre, wenn er auch dem Buchstaben nach Manches tut, was löblich ist.
Menschen seid ihr, spricht der Herr. Und ist dieses die Meinung des göttlichen Ausspruchs, dass es nichts so Scheußliches, so Gräuliches, so Entsetzliches, so Grausames, so Verderbliches gibt, als einen Menschen. Ist der Mensch doch zu allen Sünden und Gräueln geneigt, richtet er doch alle Sünden mit Lust und Liebe aus; ja mutwillig stürzt er sich mehr und mehr in die Sünde hinein, verdirbt sich und reibt sich auf, ja nährt die Sünde noch in der Seele, wenn er sie auch mit dem Leibe nicht mehr ausrichten kann. Dabei sollen wir nun nicht an Andere denken, sondern vielmehr, wo wir es von Andern lesen, zu uns selbst sprechen: du bist ja eben derselbe Mensch, von gleicher Erde gemacht, in gleiche Sünde und Abfall von Gott hineingeraten. Was in dem Herzen des Einen ist, das kann auch in deinem Herzen aufkommen, und ist es denn nie darin aufgekommen? war es nicht noch strafbarer, was in dir aufkam? wie jener angezündet wurde von der Hölle, so kannst auch du angezündet werden. - Und o, worauf kommen wir Menschen nicht? Gehen wir doch den Heiligen zehn Worten des Gesetzes nach, sie gelten dem Einen wie dem Andern; - alle diese Worte übertreten wir mit Gedanken, Worten und Werken! Ach ja, so sind wir Menschen! Lesen wir in den Büchern Mosis die Flüche von Ebal und welchen Übertretungen allen sie fluchen!11) Lesen wir, was Paulus von den Heiden an die Römer im ersten Kapitel schreibt, in welche widernatürliche Sünden dieselben verfielen; lesen wir von den Heiligen des Herrn, von Davids Ehebruch und Mordtat, von Salomos Abgöttereien; lesen wir bei den Propheten, wie Israel von dem Auszuge aus Ägypten an wider den Herrn gesündigt, und was Menschen taten, als sie Jesum verwarfen und kreuzigten; lesen wir endlich von so vielen, die, nachdem sie anfangs fein gelaufen, am Ende doch durchfielen, so werden wir von Schauder ergriffen bei der Erkenntnis unseres tiefen Verderbens und seufzen zu Gott: „Gehe nicht ins Gericht mit deinem Knechte, denn vor dir ist keiner gerecht, der da lebt.“
Der Unbekehrte, dem Heiden gleich, ob er auch unter dem Evangelio lebt, versteht nichts davon, will nichts davon wissen, dass Gott von ihm sagt, er sei ein Mensch, Er meint, das verstehe sich von selbst, und wenn er auch spricht: ich bin ein Mensch, halte mich nicht dafür, dass ich mich anders benehmen werbe, so spricht er dies nur aus, um einen Freibrief für die Sünde zu haben. Nur derjenige, der sich zu Gott dem Herrn gewandt, versteht es, was der Herr damit meint. Der Unbekehrte dagegen bekennt sich höchstens dieses oder jenes Vergehens schuldig, sagt, er sei allerdings ein Sünder, aber das seien wir ja alle; er findet bald Selbstentschuldigungen, und kommt somit nie zur demütigenden Selbsterkenntnis. Der Halbbekehrte, der sich selbst bekehrt, misst sich in unklarer Allgemeinheit die Schuld bei, zieht sich aber zurück und beißt um sich, wenn man ihn von drei oder vier Übertretungen überführen will; er will Alles recht getan haben. Der von Gott Bekehrte weiß sich aller Gebote Gottes schuldig, es ist schon genug, dass er sie mit den Gedanken begangen. Dieser hat es erfahren und erfährt es, dass er ein Mensch ist, dass er deshalb fluch- und verdammungswürdig ist; da meint er, Gott müsse nach seinem heiligen Recht ihn auf ewig verstoßen und zur Hölle verweisen, weiß auch nicht anders, denn dass er zur Hölle sinken müsse. - Er meint, es gebe sonst keinen solchen Gegensatz, wie Mensch und Gott, meint, Gott und Mensch können nie zusammenkommen, sondern müssen ewig geschieden bleiben.
Daran möge sich nun ein Jeder prüfen, ob sein Glaube rechter Art ist. Es frage sich ein Jeder, ob er also verdammungswürdig sich vor Gott befand und befindet, dass er ein elender Mensch ist, dass er es für sich nicht für wahr, noch fest halten kann: dass der heilige Gott mit einem Menschen sich sollte einlassen und ihm seine Huld erzeigen können. Denn wahrlich, ohne solche Selbstkenntnis, bei welcher der Mensch sich als Menschen demütig und reumütig verklagt, und als ein Mensch vor der Türe der Gnade, über Hoffnung hinaus, liegt, gibt es keine seligmachende Erkenntnis Gottes und Christi.
Wo wir dagegen uns selbst als Menschen verurteilen und verdammen, da werden wir zu Nichts und sind Nichts. Und dann kommt Gott, tröstet unerwarteter Weise, holt die Seele aus der Grube hervor, die Seele, welche auf Hoffnung gefangen lag; - da macht er des Harrens auf Ihn ein Ende, gibt Freudenöl für Traurigkeit, und schöne Kleider für einen betrübten Geist. So nimmt Gott die Verlassenen auf, die Gotte und sich ein Gräuel sind, die, weil sie sich bei allen Bestrebungen nur als Menschen erfunden haben, sich selbst ausschlossen und meinten, für sie sei das Seligwerden nicht möglich. Er spricht: „Menschen seid ihr,“ und will sagen: so kennt ihr euch ja selbst, und seid deswegen hart krank, seht kein Licht, und liegt unter den Toten; ihr wisst nicht, wo es zu suchen oder zu finden, oder wie es zu ergreifen. Ich aber kenne euch wohl, wie ihr um und um Menschen seid, wie ihr auch als Sünder verklagt, wie ihr so schwach seid, dass ihr euch von der Hölle lasst einschüchtern; wohlan, Menschen seid ihr, aber darum will ich euch nicht zur Hölle fahren lassen, euch nicht verstoßen, nicht über euch zürnen, sondern euch aufnehmen, euch, die ihr von ferne steht, so wie ihr seid: Ich bin euer Gott, spricht der Herr, Herr.
O, dieses vollselige und allgenugsame Ich, wie verschlingt es unser sündiges, gräuliches, scheußliches, verdammungswürdiges, wie verschlingt es unseren Tod! So widerfährt den Auserwählten Barmherzigkeit, und die Furcht des ewigen Todes ist gewichen, und der zeitliche Tod ist nur noch eine Absterbung der Sünden und ein Eingang in das ewige Leben. Dass wir Menschen sind, es ist gesühnt; Gott hat es uns selbst gesagt, es ist die Sühne geschehen durch Immanuel, Jesum Christum, Gottes eingebornen Sohn, den andern Adam, den Menschen an unserer Statt. - Dieses „Ich“ Gottes nimmt weg alles Nagen, alles Beißen des Gewissens, alle Sünden der Jugend, alle Übertretung; es steht nichts mehr in dem Schuldbuche, Gottes Stärke ist ergriffen, Friede ist mit ihm gemacht. Denn er hat es gesagt: Ihr Schafe! Wir gingen alle in der Irre wie Schafe, ein jeglicher sah auf seinen Weg, aber der Herr warf alle unsere Sünden auf sein Lamm. - Er hat es gesagt: Ihr seid meine Schafe, Schafe meiner Weide; ich habe euch auserwählt, dass ihr nicht mehr den Tieren des Felles zur Beute seid, dass ihr nicht umkommt vor Hunger und Durst, vor Kummer der Seele, eurer Sünden wegen; ich habe euch auserwählt, ihr seid mein, mein teuer erkauftes Eigentum, dass ihr nicht mehr hin und her irre geht, sondern gute, fette Weide habt und allen Überfluss. Ihr seid meine Schafe, zu hören meine Stimme; ich kenne euch, ich habe euch geliebt, auf dass ihr mir folgen sollt, dass ich euch das ewige Leben gebe, und ihr nimmer umkommt und Niemand euch aus meiner Hand reiße.
Ich bin euer Gott, spricht der Herr, und der Getröstete. spricht: Mein, Du, mein Gott. Das „Euer Gott“ sagt: ihr habt mein Herz und meine ewige Liebe und Gewogenheit; ich nehme euch auf in meinen Bund ewiger Gnade, in meinen Schutz und Schirm; Alles, was ich als Gott bin, das bin ich euch zu gut, euch zur ewigen Seligkeit, euch zum leiblichen Durchkommen, durch Feuer und Wasser, durch sechs Trübsale und auch durch die siebente. Durch die Not, durch den Tod führe ich euch zum Leben, führe ich euch zu mir, dass ihr ewig mein Angesicht schauen werdet in Gerechtigkeit.
O, wie glücklich sind die daran, die, namentlich in ihren jungen Jahren, zu dieser Selbstkenntnis, dass sie Menschen sind, durch Gottes Heiliges Gesetz gebracht sind und gebracht werden; sie finden in Nichts Ruhe, bis der Herr es auch zu ihnen gesagt: Ich bin euer Gott. Das sagt Gott zu ihnen, weil sie heilsverlegen und bekümmert, indem sie den gewissen Tod vor Augen haben, auch den Ernst Gottes ihrer Sünden wegen empfinden, des Herrn Angesicht suchen mit vielen Tränen und Seufzern, und in der heiligen Schrift forschen, ob ihnen der Herr auch noch in Gnaden darin begegnen möchte.
Nehmen wir es zu Herzen, dass es heißt: spricht der Herr, Herr. Dieses Sprechen ist ein Sprechen in das Ohr des Herzens hinein vermittelst des geschriebenen Wortes. Was da auf dem Blatte des Buches steht, kommt durch den heiligen Geist für den Heilsverlegenen vernehmbar in das Herz hinein, dass die begnadete Seele spricht: Du wirfst alle meine Sünden hinter Dich zurück. Und der erste Name Herr tröstet mächtig, denn er sagt es aus, dass Alles unter seinen Füßen liegt; und der andere Name, dass er Wort und Treue hält, und nicht fahren lässt die Werke seiner Hände.
Wer so beglückt ist, der hat das Leben hindurch einen lebendigen Gott für sein Herz und auf allen seinen Wegen einen gnädigen und versöhnten Gott gegen alle seine Sünden, einen allmächtigen Gott gegen alle seine Nöte. - Wer so beglückt ist, der kann und wird hienieden und ewiglich singen von der Gnade des Herrn, und seine Wahrheit verkünden mit seinem Munde für und für. (Ps. 89.) - Die so gepflanzt sind in dem Hause des Herrn, werden in den Vorhöfen unseres Gottes grünen, und wenn sie gleich alt werden, werden sie dennoch blühen, fruchtbar und frisch sein, dass sie verkündigen, dass der Herr so fromm ist, mein Hort, und ist kein Unrecht an ihm. (Ps. 92.)
Dagegen wie unglücklich sind alle, denen solche Selbstkenntnis abgeht, wie wandeln sie die Wege, deren Ende der ewige Tod ist! Möchten sie es bedenken, die mich hören, und Gottes Gesetz übertreten, ohne darüber Reue zu empfinden; möchten sie es doch verstehen, dass sie Menschen sind, dass sie fluch- und verdammungswürdig sind! Wie würden sie in sich schlagen, und um Gnade und Erbarmung schreien zu dem Gott, der sie noch in seiner Langmut trägt, der ihnen jede Minute den Odem nehmen kann, und auf ewig von seinem Angesicht zur Hölle wird verstoßen müssen, weil sie als Menschen nicht gesucht haben, mit Gott vertraut und vereinigt zu werden.
Hier ist reicher Trost für alle Bekümmerten, und es kann nicht ausbleiben, sobald diese Worte des Herrn im Glauben erfasst werden, so werden sie in Not und Tod erfahren, dass dieser Gott uns nicht täuscht, uns, die wir uns immerdar täuschen, bis wir uns mit des Herrn Erklärung und Aussage über uns begnügen und mit seinem Lamm, um deswillen er mit uns Menschen alle Menschen will zufrieden sein, wie es auch hieß in Bethlehems Feldern: „Und den Menschen ein Wohlgefallen“; und wie die Weisheit spricht: „Meine Lust ist bei den Menschenkindern“. Amen!