Es ist lange her, daß ich anfing, von jeder Einnahme den zehnten Teil in eine besondere Kasse abzulegen, aus der ich dann die an mich herankommenden Zwecke bedenken konnte. Damals kam ich mir sehr wohltätig und gebefreudig vor. Da machte ich eine Reise zu einem großen Missionsfeste und wurde als auswärtiger Missionsgast von einer wohlhabenden Witwe beherbergt. Wir unterhielten uns auch über das Geben, und ich sagte sehr selbstbewußt, daß ich streng den Zehnten gebe. Meine Wirtin aber lächelte fein und meinte: „Da geben sie aber für ihre Verhältnisse nicht sehr viel. Ich verbrauche für mich nur einen Zehnten meines Einkommens, und neun Zehnte opfere ich auf die verschiedenste Weise dem Herrn.“ Das warf meine ganze Theorie über den Haufen und ich konnte erst gar nicht über dergleichen Wohltätigkeit zur Ruhe kommen. bis ich erfuhr, daß dieselbe Dame, die kinderlos war, fast 10000 Mark an Staats- und Kommunalsteuern zu zahlen hatte! Dann war ihr Zehnter zum Leben noch reichlich genug.
Man sieht aus diesem Beispiel, wie falsch es wäre, allgemeine Regeln derart aufstellen zu wollen, als müsse jeder Christ den Zehnten geben. Unsere Verpflichtungen zum Aufwand sind bei gleichem Einkommen sehr verschieden. Die Unterstützungen, die wir unseren Verwandten und Angehörigen zuteil werden lassen, weichen bei den einzelnen weit voneinander ab. Der eine hat fünf Kinder, der andere nur eins oder keine. Der eine hat eine sparsame, kräftige Frau, und der andere eine kränklichere, die weniger Hausarbeiten selbst tun kann - kurz, all solche Nebenumstände machen es eigentlich ganz unmöglich, eine feste Regel aufzustellen.
Den Rat aber würde ich doch den meisten meiner Leser geben, es mal selbst mit dem Zehnten für die regelmäßig wiederkehrenden und vorauszusetzenden Zwecke so zu machen, daß sie immer bei der Einnahme gleich den Zehnten weglegen. Reicht diese Kasse nicht, so kann man ja immerhin noch etwas Besonderes dazutun…!
Man macht die Erfahrung, daß Geschwister, die sich dieses regelmäßige, treue Geben angewöhnt haben, immer eine offene Hand haben für des Herrn Werk und für des Bruders Not. Wo aber keine Ordnung ist im Geben, da verengt sich das Herz und man täuscht sich selber über seine Anteilnahme am Werk des Herrn.