Professor D. Emil Kautzsch in Tübingen.
Ev. Matth. 11, 16-24. (II. Jahrgang.)
Wem soll ich aber dies Geschlecht vergleichen? Es ist den Kindlein gleich, die an dem Markt sitzen und rufen gegen ihre Gesellen und sprechen: wir haben euch gepfiffen, und ihr wolltet nicht tanzen; wir haben euch geklagt, und ihr wolltet nicht weinen. Johannes ist kommen, aß nicht und trank nicht; so sagen sie: er hat den Teufel. Des Menschen Sohn ist kommen, isst und trinkt; so sagen sie: siehe, wie ist der Mensch ein Fresser und ein Weinsäufer, der Zöllner und der Sünder Geselle! Und die Weisheit muss sich rechtfertigen lassen von ihren Kindern. Da fing er an die Städte zu schelten, in welchen am meisten seiner Taten geschehen waren, und hatten sich doch nicht gebessert: Wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Bethsaida! Wären solche Taten zu Tyrus und Sidon geschehen, als bei euch geschehen sind, sie hätten vor Zeiten im Sack und in der Asche Buße getan. Doch ich sage euch: es wird Tyrus und Sidon erträglicher ergehen am jüngsten Gerichte denn euch. Und du, Kapernaum, die du bist erhoben bis an den Himmel, du wirst bis in die Hölle hinunter gestoßen werden. Denn so zu Sodom die Taten geschehen wären, die bei dir geschehen sind, sie stünde noch heutigen Tages. Doch ich sage euch: es wird der Sodomer Land erträglicher ergehen am jüngsten Gerichte denn dir.
In Christo geliebte Gemeinde! Wohl in wenig Punkten möchte das Urteil der Menschen so einig und zugleich durch alle Zeiten hindurch so beständig sein, wie in der bitteren Klage über die Unbeständigkeit des menschlichen Urteils, über den jähen Wechsel menschlicher Liebe und menschlichen Hasses. Soweit nur eine Überlieferung über das Tun und Treiben der Menschen zurückreicht, da stoßen wir auf diese Klage und auch die Heilige Schrift stimmt mit in dieselbe ein. „Lasst ab von dem Menschen, dessen Odem nur Hauch ist; wofür ist er zu achten?“ so warnt der Prophet. „Es ist gut auf den Herrn vertrauen, und sich nicht verlassen auf Menschen,“ so mahnt der Psalmist. Und durch hundertfältige Erfahrung wird solche Warnung und Mahnung gerechtfertigt. Ja wir sagen nicht zu viel: Das, was wir Lebenserfahrung nennen, besteht zum größten Teile eben in der Erkenntnis, dass auf Menschen kein Verlass und dass Undank der Welt Lohn ist. Aber es kostet Manchen gar bittere Enttäuschung, ehe er zu solcher Erfahrung hindurchdringt, ehe er ablässt von der raschen Art der Jugend, die schnell fertig ist mit ihrem Urteil und mit ihrem Vertrauen, und sollte sie es auch an die Unwürdigsten verschwenden. Und da sind solche Erfahrungen am bittersten, wo sie von denen gemacht werden, die vielleicht Jahre lang von der Sonne des Ruhmes und der Volksgunst beschienen wurden, und es zuletzt doch erfahren mussten, wie es um Ruhm und Gunst ein gar gebrechlich Ding sei. Wer dächte dabei nicht an so manchen Herrscher, dem alles Volk zujauchzte bei seinem Auftreten, und der zuletzt durch Mörderhand oder in der Verbannung geendet hat, an so manchen Großen dieser Erde, vor dessen Wort und Blick Tausende gezittert hatten und dem zuletzt Niemand eine Stätte gönnen wollte, um ruhig zu sterben.
Und die Nutzanwendung von dem allen? fragt ihr mich; soll es die sein, dass wir mit unserer Liebe und unserem Vertrauen zu den Menschen auf das Äußerste an uns halten, um ja von vornherein gegen alle Enttäuschung gesichert zu sein? Nimmermehr. Nicht dem werden wir wahrhafte Lebenserfahrung und Lebensweisheit zusprechen, den getäuschtes Vertrauen zu Menschenhass und Verbitterung getrieben hat, sondern dem, der sich trotz alledem den liebevollen und vertrauenden Sinn bewahrt hat. Mag es auch nicht mehr das Vertrauen des Kindes sein, das den Gedanken an Verrat und Enttäuschung gar nicht zu fassen vermochte, so kann es doch nicht weniger aufrichtig sein, und wohl dem, der nach allen Enttäuschungen immer wieder fest hält an dem Wort des Weisen: „Böse Erfahrungen sollen uns nicht abhalten, das Gute zu tun.“ Das alles aber schließt eine andere Nutzanwendung nicht aus, die wir aus der Unbeständigkeit und Trüglichkeit des menschlichen Urteils zu ziehen haben, dass wir nicht ohne weiteres mit einstimmen sollen in der Welt Urteil, und wenn es uns noch so lärmend und zuversichtlich entgegenträte, sondern dass wir eingedenk sein sollen der Mahnung des Apostels: „Prüft alles und das Gute behaltet!“
Und wann wäre diese Mahnung mehr am Platz als da, wo es sich um unsere höchsten und wichtigsten Interessen handelt, um die Fragen unseres Glaubens und des Heils unserer Seele für Zeit und Ewigkeit! Da möchte uns wohl ein Grauen ankommen, wie auch in diesem Stücke das Urteil der Welt so schnell fertig ist und doch so trotzig Zustimmung fordert; wie so groß die Zahl derer ist, die den schlichten Glauben ihrer Kindheit nicht etwa um eine neue bessere Erkenntnis, sondern um ein neues blendendes Schlagwort unbesehen dahingeben. Es gehört eben auch zu den merkwürdigen Widersprüchen in der Menschennatur, dass sie zwar in den natürlichsten und gewöhnlichsten Dingen Verständnis fordert, ehe sie ein Recht zum Urteilen einräumt, dagegen in den höchsten und wichtigsten Dingen hält sie es für erlaubt, zu urteilen ohne Verständnis, auch wo das falsche Urteil zu bleibendem Schaden führen kann. Das ist die ernste Wahrheit, die uns unser heutiger Text predigt. Ihr wollen wir jetzt nachgehen, indem wir zum Gegenstand unserer Betrachtung machen:
Dreierlei Urteil in wichtiger Sache; nämlich:
I. Das Verwerfungsurteil der Welt über die göttliche Weisheit.
II. Das Rechtfertigungsurteil, das der Weisheit von ihren Kindern zu Teil wird.
III. Das Verdammungsurteil der göttlichen Weisheit über ihre Verächter.
„Wem soll ich aber dies Geschlecht vergleichen? Es ist den Kindlein gleich, die an dem Markt sitzen und rufen gegen ihre Gesellen und sprechen: wir haben euch gepfiffen und ihr wolltet nicht tanzen: wir haben euch geklagt und ihr wolltet nicht weinen.“ Es ist ein Vergleich, der mitten in das volle Leben, in die alltäglichsten Vorkommnisse hineingreift. Es sind Kinder, die am Markte, auf öffentlichem Platz spielen und sich über einen Teil ihrer Gespielen beklagen, dass sie sich dem vorgeschlagenen Spiele nicht haben fügen wollen. Und zwar handelt es sich um Spiele, in denen sie das Tun der Erwachsenen, die wechselnden Ereignisse des wirklichen Lebens nachahmen. Als sie aber ein Freudenfest, etwa einen Hochzeitszug unter dem Klang der Flöten, nachahmen wollten, da mochten die Andern nicht teilnehmen an dem Reigen; und als es ihnen dann wieder einfiel, Begräbnis zu spielen und sie anhoben mit Trauergebräuchen, da mochten die Andern nicht einstimmen mit Klagen und Weinen. Die eigene Auslegung des Herrn lässt uns nicht darüber im Zweifel, wer mit diesem Vergleiche gemeint sei. „Dieses Geschlecht,“ das am Markte sitzt und sich bitter über seine Genossen beklagt, ist der große Haufe der Zeitgenossen des Herrn unter den Juden; die Genossen, über die sie sich beklagen, sind Johannes der Täufer und Jesus selbst. „Johannes ist gekommen, aß nicht und trank nicht, so sagen sie, er hat den Teufel.“ Wohl hatten sie Jahrhunderte lang auf das Erscheinen des Propheten gewartet, der vor dem Messias einhergehen sollte, um seine Ankunft zu verkündigen; aber sie hatten sich ihn anders gedacht als diesen finsteren Bußprediger, der ein Kleid von Kamelhaaren trug und einen ledernen Gürtel um seine Lenden, der allen herrschenden Gebrauch verachtete und sich nährte von Heuschrecken und wildem Honig, der nicht im Tempel lehrte und in den jüdischen Schulen, wo man in Bequemlichkeit hätte zuhören können, sondern draußen in der Wüste des jüdischen Landes, und was das Schlimmste war, der nicht bloß Buße predigte, sondern harte Drohungen beifügte. Hatte er sich doch nicht gescheut, den Pharisäern, den erlesenen Trägern israelitischer Gerechtigkeit, zuzurufen: „Ihr Otterngezüchte! Wer hat denn euch gewiesen, dass ihr dem zukünftigen Zorn entrinnen werdet? Seht zu, tut rechtschaffene Früchte der Buße!“ Und vollends an dem wundesten Punkt griff er sie an, wenn er hinzufügte: „Denkt nur nicht, dass ihr bei euch wollt sagen: Wir haben Abraham zum Vater! Ich sage euch: Gott vermag dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken! Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt. Darum, welcher Baum nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen!“ Da können wir es wohl begreifen, wie enttäuscht gerade die Pharisäer heimgekehrt sind, wenn sie teils aus Neugier, teils in angenehmen Erwartungen den weiten Weg durch die Wüste an den Jordan zurückgelegt hatten. Frohe Botschaft hatten sie zu hören vermeint, eine Predigt, die ihrem Eigendünkel als den Söhnen Abrahams schmeichelte, und nun riss ihnen dieser Bußprediger erbarmungslos den Mantel der Selbstgerechtigkeit herunter und stellte sie hin in trauriger Blöße. Da konnten sie denn mit ihrem Verwerfungsurteil nicht säumen. Und es ist so bezeichnend für Menschenurteil überhaupt, dass sie sich nicht an das halten, was das Wichtigste war: Den Ruf der Buße, die Anklagen des Bußpredigers, die Drohungen des Gerichts lassen sie lieber auf sich beruhen, als ob sie das nichts anginge. Dafür sind sie aber gar erfinderisch, eine Nebensache herauszugreifen und als etwas Maßgebendes hinzustellen: Er isst nicht und trinkt nicht, wie andere Menschen! Beweis genug, dass es mit ihm nicht recht bestellt ist, dass er besessen ist von einem unheimlichen Geist. Und damit sind sie glücklich an dem Punkte angelangt, auf den ihr Verwerfungsurteil eigentlich hinauswill. Sie sind froh darüber, sich selbst belügen zu können und den weiteren Schluss zu ziehen: Von einem solchen sind wir nicht verbunden, Lehre und Warnung anzunehmen, der so von allem menschlichen Brauch und Herkommen abweicht; wie leicht könnten wir gar selbst in die Gewalt des finsteren Geistes kommen, der ihn beseelt! Das war das Verwerfungsurteil über Johannes, und wie Viele mögen ihrer gewesen sein, die da wähnten, sie hätten mit solchem Urteil Gott einen Dienst getan!
Aber gar bald änderte sich die Szene. „Des Menschen Sohn ist kommen, isst und trinkt, so sagen sie: Siehe, wie ist der Mensch ein Fresser und Weinsäufer, der Zöllner und der Sünder Geselle!“ Es wiederholt sich dem Herrn gegenüber dasselbe Spiel, wie bei Johannes dem Täufer. Sie können ihm nicht vorwerfen, dass er sie geschreckt hätte mit harten Vorwürfen und Drohungen. Galt doch von ihm das Wort des Propheten: „Er wird nicht zanken noch schreien und man wird sein Geschrei nicht hören auf den Gassen; das zerstoßene Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“ Hat er doch selbst von sich bezeugt: „Ich bin sanftmütig und von Herzen demütig,“ und eines der Evangelien erzählt uns, wie sie dort in der Synagoge zu Nazareth ihm alle Zeugnis geben mussten und sich alle verwunderten der holdseligen Worte, die aus seinem Munde gingen. Aber auch in seinem Auftreten war etwas, daran sie sich ärgerten. Einen solchen Messias hatten sie gewollt, in dem sich die Herrlichkeit des auserwählten Volkes, sein hohes Vorrecht vor allen andern Völkern offenbarte. Wie stimmte dazu nun, dass er sich vor allem an die wendete, in denen der Vorzug Israels am wenigsten zur Erscheinung kam, an die Armen und Elenden, ja an Zöllner und Sünder? Und hatte er ihnen nicht sogar in dem Gleichnis vom Weinberg das Unglaubliche prophezeit, das Reich Gottes werde von ihnen genommen und den Heiden gegeben werden? Was Wunder, dass sie auch bei ihm nach einem Vorwand suchten, um den beunruhigenden Eindruck seiner Predigt zu ersticken. Und sie fanden ihn auf demselben Gebiete, wo sie ihn bei Johannes gefunden hatten, in einem Nebensächlichen, Äußerlichen, nur mit dem Unterschied, dass der Vorwurf gegen den Herrn auf eine giftige Lüge hinauskam. Weil er sich auch darin als Freund der Menschenkinder offenbarte, dass er sich freuen konnte mit den Fröhlichen und weinen konnte mit den Weinenden, weil er sich selbst entäußerte und ward wie ein anderer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden darum schalten sie ihn der Zöllner und Sünder Gesellen. Was die Gemeinde der Seinen durch die Jahrhunderte hindurch singt und preist als ihren erhebendsten Trost „Jesus nimmt die Sünder an!“ das war der Grund zum Verwerfungsurteil über ihn bei jenem Geschlecht!
Wir sagen: „Bei jenem Geschlecht.“ Aber wir wollen uns wohl hüten, über jene das Verwerfungsurteil auszusprechen, als ob wir von der Höhe unserer Zeit dazu das größte Recht hätten. Wie bei den Kindern, die am Markte sitzen, bald dieser, bald jener Vorwurf gegen die Gespielen laut wird, so hat allezeit und noch heute die Frage ihre Berechtigung: „Wem sollen wir dieses Geschlecht vergleichen?“ dieses heutige Geschlecht, in Bezug auf die Stellung, die es zu den Wegen der göttlichen Weisheit, zu den Anstalten Gottes für unser Heil Seligkeit einnimmt? Der Vorwand, den jenes Geschlecht wider den Herrn erhob, mag wohl allenthalben verstummt sein, aber die Vorwände sind geblieben, ein ganzes oder doch teilweises Verwerfungsurteil über die göttliche Weisheit zu fällen. Dabei würde es zu nichts führen, die zu widerlegen, die mit dem Glauben an die Offenbarungen Gottes und vielleicht an Gott selbst überhaupt gebrochen haben; solche würde unser Wort doch nicht erreichen. Aber eine andere Frage ist es, inwieweit wir Alle mit einbegriffen sind unter den Kindern, die am Markte sitzen und in wechselnder Laune bald den, bald jenen Zweifel oder Vorwurf wider die Weisheit Gottes laut werden lassen.
Da heißt es wohl: Wonach ich vor allem verlangte, das wäre mehr unmittelbare Gewissheit in den Dingen des christlichen Glaubens, eine solche Gewissheit, die mich und Andere dazu nötigte, allen Widerspruch und Zweifel aufzugeben, die es mir leicht machte, unverbrüchlich in dem Glauben zu verbleiben, den ich als Kind gelehrt worden bin. Wie viel Streit und Zwiespalt würde nicht dahinfallen, wenn es der Weisheit Gottes gefallen hätte, die Überlieferung des Evangeliums, die Geschichte des Christentums mit einer so festen Mauer zu umgeben, dass alle Angriffe wirkungslos daran abprallen müssten! Und ein anderer spricht: Das will mir nicht in den Sinn, dass mich das Wort Gottes in so mancher wichtigen Frage mit einer Auskunft im Stich lässt. Wo ich erst recht zu fragen anfangen möchte, da gerade hört die Bibel zu antworten auf. Sie zeigt uns die Geheimnisse der göttlichen Weisheit von ferne, aber sie zeigt uns nicht den Weg, den Schleier zu lüften und das Geheimnis zu durchdringen. Und doch von welcher Wichtigkeit würde es für uns sein, gewisse Auskunft zu erhalten, z. B. von den Dingen des jenseitigen Lebens, von der Natur des verklärten Leibes, ob uns dort neue und höhere Aufgaben gestellt sein werden, ob wir dann in persönliche Gemeinschaft treten werden mit allen den Männern Gottes aus vergangenen Jahrhunderten, ob wir dann einen klaren Einblick haben werden in alle die Rätsel und Streitfragen, die hienieden unsern Geist beschäftigten? Und wieder ein anderer spricht vielleicht: Ich wäre schon zufrieden, wenn ich nur den Schlüssel in die Hand bekäme zu den seltsamen Führungen meines irdischen Lebens. Wie gern wollte ich die Weisheit Gottes verehren, wenn ich erst die feste Zusicherung hätte, dass da nichts auf Zufall, sondern alles auf weisen Planen beruht, warum ich gerade dieses Kreuz auf mich nehmen, gerade diese Lebenshoffnung zerstört sehen musste. Sage Niemand: Das sind doch nur die Kleingläubigen und halb Ungläubigen, die solches Verlangen an die göttliche Weisheit stellen. Wenn sie Glauben hätten, so müssten sie gelernt haben, dass auch ihnen gilt: Vor Gott sind auch die Haare auf eurem Haupte alle gezählt wie sollte nicht sein Auge über dem wachen, was ihre wahre und bleibende Wohlfahrt angeht? Es ist eben noch etwas Anderes, die Allweisheit und Allgüte Gottes im Allgemeinen zu glauben und sie auch in den verschlungenen Führungen des eigenen Lebens zu verehren, wenn sich ringsum rätselhafte Nacht gelagert hat! Und weiter: Wer hätte noch nie von der Klage vernommen, dass uns die Unterweisung des Evangeliums in verschiedenen Beziehungen unseres irdischen Lebens leer ausgehen lasse. Da heißt es wohl: Die Vorschriften des Evangeliums sind eben für den Lauf zum Himmel berechnet, für solche, die abgeschlossen haben mit den Dingen dieser Welt oder doch ihnen fremd und gleichgültig gegenüber stehen. Wir können es nun aber nicht ändern, dass wir hienieden tatsächlich am Markte sitzen müssen, nicht zu müßigem Spiel, sondern um den vielen Aufgaben zu genügen, die uns das Erdenleben stellt, und zwar nicht bloß die niedere Sorge für Nahrung und Kleidung, sondern auch die Stellung in der bürgerlichen Gemeinschaft, im Staate oder endlich in der menschlichen Gesellschaft überhaupt. Nun gebietet uns zwar das Evangelium, gehorsam zu sein der Obrigkeit, die Gewalt über uns hat; es fordert auch, dass wer ein Amt hat, des Amtes warten soll, dass sorgfältig sein soll, wer da regieret aber von der besten Form der Staatsverfassung, von der Pflicht der Vaterlandsliebe und gar manchen anderen Dingen sagt es uns nichts.
Du sprichst vielleicht: Darin würde ich zuletzt einen Mangel erblicken. Das sind eben doch die Dinge dieser Welt; das mögen die schlichten und richten, denen es befohlen ist, und mögen sich damit nach bestem Wissen und Gewissen zurechtfinden. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass mit diesen Dingen auch die Geschicke des Reiches Gottes auf Erden nur zu eng verknüpft sind. Auch dieses ist in Gestalt der Kirche an bestimmte Formen der äußeren Erscheinung gebunden und es sind wohl nicht die lauesten und kleingläubigsten unter den Bekennern des Namens Christi, die bei dem Blick auf die sichtbare Kirche mit Seufzen fragen: Ach Herr, warum? warum lässt es deine Weisheit geschehen, dass die Ausbreitung deines Reiches auf Erden so langsam und unter so vielen Hindernissen von Statten geht? dass der eine hochgelobte Christenname in so viele Kirchen und Sekten zerspalten ist? dass auch unsere eigene evangelische Kirche, das Werk der Reformation, zu dem sich Gott so sichtbarlich bekannt hat, dass auch sie zerrissen ist durch den Hader der Parteien, also dass wir seufzen möchten nach einer sichtbaren Kundgebung des himmlischen Herrn der Kirche, die allem Streit ein Ende macht?
Nicht ein Verwerfungsurteil möchten wir fällen mit allen solchen Fragen und Zweifeln. Aber ohne dass wir es wissen und wollen, gestalten sie sich eben doch zu einem Verwerfungsurteil. Wir glauben an die Weisheit Gottes, die sich in Christo Jesu offenbart hat, und möchten sie doch in dem und jenem Stücke anders haben ein anderes Evangelium für die Lebensmutigen und Fröhlichen, ein anderes für die Trauernden und Verzagten. Und so gleichen eben auch wir den Kindern mit ihren launenhaft wechselnden und oft so törichten Wünschen. Gottlob, dass die göttliche Weisheit hoch erhaben dasteht über all unserem Urteil; Gottlob auch dafür, dass es ihr nicht gebricht an einem
Rechtfertigungsurteil, das ihr zu Teil wird von ihren Kindern. Mit Kindern hat der Herr die verglichen, die in launenhafter Willkür das Verwerfungsurteil aussprachen über die göttliche Weisheit; Kinder heißen jetzt auch diejenigen, durch welche der göttlichen Weisheit das Rechtfertigungsurteil zu Teil wird: freilich nicht Kinder an Laune und Unverstand, sondern Kinder an Glauben und felsenfestem Vertrauen. Es sind die Jünger Christi, die sich mit ungeteiltem Herzen in die Schule der göttlichen Weisheit begeben haben vielleicht unter manchem Straucheln und Rückfall, vielleicht oft mit dem Seufzer jenes Mannes im Evangelium: „Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben!“ aber doch zuletzt mit dem Erfolg, dass sie fortgeschritten sind von Kraft zu Kraft und dastanden als ein lebendiges Beispiel von den wunderbaren Lebenskräften des Evangeliums, auf das der Herr hinweisen kann als eine Rechtfertigung der göttlichen Weisheit.
Was es um solche Rechtfertigung sei, das lernen wir verstehen, wenn wir dem im Einzelnen nachgehen, wie sich solche erprobte Kinder Gottes zu den Fragen und Zweifeln stellen, die wir vorhin als ein Verwerfungsurteil oder doch als ein Meistern der göttlichen Weisheit bezeichnet haben. Auch die rechten Jünger der Weisheit verlangen nach einer Gewissheit ihres Glaubens, die sie fröhlich und sicher macht in ihrer irdischen Pilgrimschaft, die ihnen Stecken und Stab ist in allen Anfechtungen und Nöten. Aber sie erwarten solche Gewissheit nimmermehr von irgendwelchen äußeren Zeichen und Veranstaltungen. Sie wissen, dass wahrhafter Glaube nie etwas anderes ist als die gewisse Zuversicht dessen, das wir hoffen und nicht sehen, also dass wir nicht zweifeln an dem, was wir nicht sehen. Wo der Sinn fehlt, der auf ein künftiges Ziel der Hoffnung gerichtet ist, die Sehnsucht, die diesem Ziele entgegeneilt, da würde doch alle äußerliche Bürgschaft nichts helfen und selbst ein Wunder würde nur neue Fragen und Zweifel hervorrufen. Hat nicht jenes Geschlecht, das nach seiner Mehrzahl den Herrn verwarf, alle nur mögliche Bürgschaft des Glaubens vor Augen und gleichsam in den Händen gehabt und hat darum doch nicht geglaubt? Und so würde es sich noch heute bewahrheiten, was der Herr in der Erzählung von dem armen Lazarus ausspricht: „Und ob Jemand von den Toten auferstände und hinginge, ihnen zu predigen, so würden sie ihm doch nicht glauben!“ Das ist eben das Geheimnis der göttlichen Weisheit, dass der wahre, lebenskräftige Glaube nicht eine Frucht ist von äußerlichen Zeichen und Bürgschaften, sondern eine Frucht der demütigen Hingabe an die Wege Gottes, die aus dem Verlangen nach seiner Gemeinschaft hervorgeht. Wohl ist es bereits Glaube, mit dem wir die Hand Gottes ergreifen; aber die ganze volle Glaubensgewissheit ist doch erst eine Gnadengabe Gottes, die dem zu Teil wird, der sich in herzlichem Verlangen zu ihm genaht hat. „Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden.“ Das ist nichts anderes, als was der Apostel ausspricht in den Worten: Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, kommt aus Glauben zum Glauben. Glaube ist ihre Bedingung, und Glaubensgewissheit ist ihre Bewährung und ihre Frucht. Darin aber liegt die Rechtfertigung der göttlichen Weisheit, dass solcher Glaube eine unendlich tiefere und tröstlichere Gewissheit verschafft, als sie irgendeine äußere Nötigung oder Beweisführung zu geben vermöchte. Solcher Glaube wird nicht berührt durch den Streit über Dinge, die man gar oft irrtümlich für Glaubensfragen ausgegeben hat, während sie doch mit den Mitteln menschlichen Erkennens und Wissens ausgemacht werden können; desto unerschütterlicher aber hält er fest an den Dingen, an die kein menschliches Wissen und Erkennen heranreicht, an den großen Tatsachen des göttlichen Heilswegs mit der Menschheit, an der Vorbereitung dieses Heils im Alten Bunde, an der Erlösung in Christo, an der Gewissheit der seligen Vollendung des Heils in einem ewigen Leben. Solcher Glaube entschlägt sich aber auch weiter der müßigen Fragen nach dem tiefinnersten Zusammenhang der göttlichen Geheimnisse; er lässt sich daran genügen, dass wir hier eben im Glauben leben sollen und nicht im Schauen; er glaubt der Versicherung des Herrn, dass er seinen Jüngern wohl noch viel zu sagen gehabt hätte, wenn sie es hätten ertragen mögen. Und so fragt er auch nicht, wie viele und welche zum Himmelreich eingehen werden, sondern er lässt es sich gesagt sein: Ringe du danach, dass du eingehst auf dem schmalen Weg und durch die enge Pforte; schaffe, dass du selig werdest, mit Furcht und Zittern! Und weiter: Solcher Glaube bewährt sich auch in dem Urteil über die Führungen des eigenen Lebens. Und wenn auch ihm anfangs alles Nacht und Dunkel erscheinen sollte, was der Wille Gottes über ihn verhängt hat, er wird darum nicht irre an der Vaterliebe Gottes, so wenig wie ein rechtes Kind irre wird an dem für ihn unbegreiflichen Tun seines irdischen Vaters. Und wie oft findet nicht solches kindliche Vertrauen mitten im Kreuze seinen Lohn darin, dass es plötzlich wie Schuppen von den Augen fällt und die Erkenntnis kommt: Gerade das musste über mich kommen, um den alten Menschen in mir gründlich zu brechen und dem neuen Menschen Platz zu machen, der nach Gott geschaffen ist in rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit! Solcher Glaube hat auch für die Klage, dass uns die Unterweisung des Evangeliums in den Fragen des öffentlichen Lebens im Stich lasse, keinen Raum. Er straft die Behauptung Lügen, dass die höheren Anforderungen des Christentums nichts seien als ein Ideal, dem man höchstens in völliger Weltflucht, etwa innerhalb der Mauern einer klösterlichen Zelle, annähernd genügen könne. Er besteht vielmehr die Probe auch auf dem Markte des Lebens und macht es zur Wahrheit, dass Vaterlandsliebe und Bürgertugend, Pflichttreue in Amt und Beruf und inniges Familienleben da am schönsten blühen, wo sie Wurzel geschlagen haben in einem durch Gottesfurcht und die Liebe zum Heiland geheiligten Herzen. Solcher Glaube lässt sich endlich auch nicht beirren durch die Knechtsgestalt, in der er die Kirche Christi auf Erden befangen sieht. Er hält fest daran, dass sie in aller Schwachheit und Befleckung dennoch ein Abglanz sei der unsichtbaren Kirche, die in die Ewigkeit hineinreicht, eine Hütte Gottes bei den Menschen, welche die Verheißung hat, dass die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen sollen.
Es mag sein, dass sich Niemand unter uns anmaßt, solchem Ideal des Christenlebens und Christenglaubens zu entsprechen. Aber ebenso gewiss ist auch Niemand unter uns, der nicht aus der Geschichte der Kirche oder aus persönlicher Erfahrung Solche zu nennen wüsste, die ihm entsprochen haben. Und wenn du je einer solchen Christengestalt begegnet bist, die dir bei aller Demut in der ganzen Hoheit des Christennamens entgegentrat und dich zur Ehrfurcht hinriss, dann verstehst du das Wort des Herrn: Die göttliche Weisheit wird gerechtfertigt von ihren Kindern!
Zum Schluss lasst uns wenigstens noch einen Blick werfen auf das Dritte, was uns unser Text an die Hand gibt; auf
Das Verdammungsurteil der Weisheit über ihre Verächter. Ein Wehe ruft der Herr über Chorazin und Bethsaida und vor allem über Kapernaum, das durch die Predigt und die Taten des Herrn bis zum Himmel erhoben worden ist, das aber zum Lohn für seine Verwerfung des Herrn bis in die Hölle hinunter gestoßen werden soll. Wer heute an dem Ufer des galiläischen Meeres entlang zieht, auf welchem alle diese Städte dereinst gestanden haben, der kann sich des erschütternden Eindruckes nicht erwehren, wie sich auch äußerlich der Weheruf des Herrn erfüllt hat. Nur spärliche Trümmer bedecken hier und da die menschenleere Einöde und Niemand kann mit Gewissheit sagen: hier oder da sind die Ruinen von Kapernaum; bis auf den Namen ist ihr Gedächtnis von der Erde verschwunden. Noch erschütternder aber ist der Gedanke, dass jener Weheruf forthallt durch alle folgenden Jahrhunderte, dass er noch heute Allen gilt, zu denen die Predigt von der göttlichen Weisheit vergeblich gedrungen ist. Da wird es ihnen nichts helfen am Tage des Gerichts, dass sie sprechen: Wann wären unter uns solche Taten geschehen, wie sie zu Chorazin und Bethsaida und Kapernaum geschehen sind? Da wird vielmehr gelten: „Auch euch ist das Wort der Wahrheit reichlich verkündigt worden, auch euch habe ich zu mir gelockt mit freundlichem Ruf, auch euch habe ich so oft versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein versammelt unter ihre Flügel, doch ihr habt nicht gewollt!“ Nun wohlan: Noch ist die Zeit der Geduld und Langmut Gottes nicht abgelaufen, noch ist unter uns der Leuchter des Evangeliums nicht hinweggestoßen von seiner Stelle. Darum wollen wir es uns abermals gesagt sein lassen: „Heute, so ihr seine Stimme hört, verstocket eure Herzen nicht!“ Gott wolle Gnade geben, dass wir trotz aller Schwachheit und Sünde doch nicht erfunden werden unter den Verächtern seiner Weisheit, dass wir, wenn auch unter viel Trübsal, doch dereinst eingehen zum Leben. Darum lasst uns noch einmal von ganzer Seele einstimmen in das Flehen unseres Dichters: „Ja Vater, führ' uns immerdar, Nur selig, wenn auch wunderbar!“ Amen.