Ach, Gott vom Himmel, sieh' darein
Und laß es dich erbarmen!
Wie wenig Herzen sind noch dein!
Entzieh' dich nicht uns Armen!
Laß, heil'ger Geist, durch deine Gnad
Vor argem Sinn und böser That
Mit ganzem Ernst uns hüten!
Die Christenheit ist groß, aber sind Alle Christen, die sich so nennen? Gehen wir einmal in jene Scheune. Wir finden dort einen großen Haufen liegen. Das ist Weizen, sprichst du. Weizen? Wahrlich, es ist mehr Spreu darin, als Korn. Laßt uns die Spreu scheiden von dem Weizen, wie viel kleiner wird der Haufen dann! Und wenn wir nun vollends aus einem Spreuhaufen die Weizenkörner heraussuchen wollten: ein wie noch viel kleineres Häuflein gäbe das! Ich rede von der Christenheit, die ein Fünftel der ganzen Menschheit ausmacht. Zweihundert Millionen - O wären sie Alle Christen: wie große Freude müßte unter den Engeln im Himmel sein! Man unterscheidet in der Einen Kirche zwei Kirchen: die sichtbare; die ist's, welche der Herr mit dem vollen Netz vergleicht, darin große und kleine, gute und schlechte Fische sind. Dann die unsichtbare; das sind die guten, welche übrig bleiben, wenn man die schlechten aussondert, und ach, wie wenige bleiben übrig, wenn der allwissende Gott die Guten von den Bösen scheidet! Damit ihr aber nicht denket, daß der Christenheit zu nahe geredet werde, so hört ein Wort aus dem Munde des Apostels Paulus, auf dessen Urtheil etwas zu geben ist.
Phil. 2 V. 19 - 24: Ich hoffe aber in dem Herrn Jesu, daß ich Timotheum bald werde zu euch senden, daß ich auch erquickt werde, wenn ich erfahre, wie es um euch stehet. Denn ich habe keinen, der sogar meines Sinnes sei, der so herzlich für euch sorget. Denn sie suchen Alle das Ihre, nicht das Christi Jesu ist. Ihr aber wisset, daß er rechtschaffen ist; denn wie ein Kind dem Vater hat er mir gedienet am Evangelio. Denselben, hoffe ich, werde ich senden von Stund an, wenn ich erfahren habe, wie es um mich stehet. Ich vertraue aber in dem Herrn, daß auch ich selbst schier kommen werde.
Möglich war es, daß der Apostel in Rom den Märtyrertod sterben mußte. Doch hat er das feste Vertrauen in dem Herrn, daß er von seinen Banden frei werden und bald wieder zu den Philippern kommen werde. Vorläufig will er einen Andern senden, den Timotheus, will aber doch mit dieser Sendung warten, bis er „absehen könne, wie es ihm ergehe“, nämlich wie der Stand und Gang seiner Angelegenheit sei. „Ich hoffe in dem Herrn Jesu, ihn bald zu euch zu senden.“ Seine Hoffnung ruhet in der Hand des Herrn, wie er auch anderswo sagt: „So der Herr will“ (1 Cor. 4, 19), „So der Herr es zuläßt“ (1 Cor. 16, 7), „Will's Gott“ (Apg. 18, 21). Die Zukunft stehet ja nicht in unserer Macht, daher Niemand sagen soll: Ich will, sondern: „So der Herr will, wollen wir dies oder das thun“ (Jak. 4, 15). Falls nun Timotheus zum Reisen kam, sollte er nicht nur den Philippern schriftliche und mündliche Nachricht über den Apostel bringen, sondern auch dem Apostel Nachricht über die Philipper nach Rom zurückbringen, damit auch ich (spricht er) gutes Muthes werde dadurch, daß ich erfahre, wie es mit euch stehet.„ Warum aber will er nun eben den Timotheus senden? „Weil er außer ihm keinen Gleichgesinnten habe, der so aufrichtig für sie Sorge tragen werde. Denn (setzt er hinzu) Alle suchen das Ihre, nicht was Jesu Christi ist.“ Das ist die Klage, die ich herübernehme in meine Predigt.
Viele Christen, aber wenig gute Christen. So muß das Urtheil lauten, wenn wir 1. auf ihre Gesinnung, 2. auf ihr Streben, und 3. auf ihre Vergangenheit sehen.
Ach, Gott vom Himmel, sieh' darein,
Und laß es dich erbarmen!
Wie wenig Herzen sind noch dein!
Entzieh dich nicht uns Armen!
„Ich habe keinen Gleichgesinnten“, lautet die Klage des Apostels. Es ist das die Klage aller Frommen zu allen Zeiten gewesen, und ist es noch jetzt. Denket nur nicht, daß Paulus die Sache übertreibe. Je höher Jemand nach seiner christlichen Gesinnung steht, je mehr Erkenntniß er hat, je mehr Glauben, je mehr aufrichtige Liebe zu seinem Gott und Heiland; je reiner sein Herz, je uneigennütziger sein Streben ist, desto einsamer und verlassener muß er sich fühlen in dieser Welt, desto größer ist die Zahl der ihm Ungleichgesinnten, desto kleiner die Zahl der ihm Gleichgesinnten. „Ich habe keinen Gleichgesinnten.“ Wer hat das mehr erfahren, als der Herr selbst! Hätte er die Königskrone annehmen wollen, die man ihm anbot, ja, dann hätten sich nicht Tausende, sondern Millionen um ihn gesammelt, und fast die ganze Welt wäre ihm gleichgesinnt gewesen. Aber ihr wisset, wie es ging, als er, statt der Königskrone, sich die Dornenkrone auf das Haupt setzen ließ: da schrieen die, welche kurz zuvor Hosianna gerufen hatten: Kreuzige ihn! und selbst die ihm am nächsten gestanden hatten, verließen ihn alle, der eine floh, der andere verläugnete, der dritte verrieth ihn gar.
Paulus stand weit unter seinem Meister, und doch stand auch er noch so hoch, daß er unter den vielen Christen in Rom fast nur Einen, den Timotheus, ihm gleichgesinnt nennen konnte. Wie schön stände es um eine Gemeinde, wenn von allen ihren Mitgliedern gesagt werden könnte, was gesagt ist von der ersten Christengemeinde in Jerusalem: „Sie waren Alle Ein Herz und Eine Seele“!! Es kommt ja bei einem Christen vor Allem auf die Gesinnung an. Zähle die wahrhaftigen Jünger des Herrn nicht nach ihren Köpfen, zähle sie nicht nach den Namen, die im Taufregister geschrieben sind, sondern nach der Gesinnung, die sie offenbaren. Viele werden an jenem Tage sprechen: Herr, sind wir nicht getauft worden auf deinen Namen? haben wir nicht eine christliche Schule und Kirche besucht? sind wir nicht Mitglieder dieser und der Gemeinde gewesen? haben wir nicht unter Christen gelebt und gewirkt? Da wird der Herr antworten: Was ihr gewesen seid nach eurem Herzen und Sinn, darnach empfangt ihr jetzt euer Urtheil, entweder zum Leben oder zum Tode. -
Viel weniger noch kommt es auf eines Menschen äußerlichen Stand und Vermögen an. Ob Bauer oder Tagelöhner, ob Herodes oder Lazarus, ob Salomo oder ein Armer, der von Almosen lebt: das entscheidet nicht über die Frage: Bist du ein Christ oder bist du es nicht? sondern vor Allem die Gesinnung, die du in dir hast. Worauf anders geht das Christenthum aus, als in uns den alten Menschen zu tödten, und in uns einen neuen Sinn zu pflanzen, der nach Gott geschaffen ist in rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit? Dadurch, dadurch allein wirst du ein Gleichgesinnter des Apostels Paulus, sonst gehörst du zu der großen Menge derer, die wohl Christen heißen, es aber nicht sind.
Paulus aber bezeichnet uns diese Gesinnung noch näher in unserm Texte. Ich habe keinen Gleichgesinnten, als welcher aufrichtig für euch Sorge tragen wird. Er suchte einen solchen Christen, der, wenn er zu den Philippern käme, mit ganz lauterm Sinn, ohne Rücksicht auf sich selbst und sein eigenes Interesse, ihrer Angelegenheiten sich annähme, und für ihr Wohl sorgte mehr als für sein eigenes. Es galt, nicht nur die beschwerliche Reise von Rom nach Macedonien zu machen, sondern dort auch, in Philippi, würdig die Sache des Herrn zu vertreten. Es galt, etwaige Zwistigkeiten in der Gemeinde zu schlichten; es galt, den Unrechtleidenden zu ihrem Rechte zu verhelfen, und die Unrechtthuenden durch Milde oder Ernst zurückzubringen von ihrem Wege; es galt, die Schwachen zu stärken, die Traurigen zu trösten, die Irrenden ihres Irrthums zu überführen, Alle zu fördern in ihrem Christenthum; es galt, ein freies öffentliches Zeugniß abzulegen, nicht nur vor der Gemeinde, sondern auch vor der Heidenwelt, um Schwankende herüber zu führen zu Christi. Dazu aber war eine große Liebe zu dem Herrn und zu den Brüdern erforderlich, eine Liebe, die nicht bedacht ist auf ihre eigene Sicherheit, Bequemlichkeit, Gewinn und Vortheil, sondern mit Selbstverläugnung und Muth jegliche Gefahr zu bestehen, jegliche Mühe zu übernehmen bereit und willig ist. Paulus war ein solcher Mann - seine Bande in Rom zeugen davon, - aber (klagt er) ich habe keinen Gleichgesinnten. Gilt die Klage nicht auch für unsere Zeit? Zu einem Christen gehört die Gesinnung einer sich selbst verläugnenden Liebe, welche bereit ist, selbst unter großen Mühen und Gefahren zu sorgen für der Brüder Wohl. Bringt auf diese Waagschale die Christen, einen nach dem andern, wie sie euch begegnen: wie wird bei den mehrsten, wenn ihr sie gewogen habt, das Urtheil lauten müssen? „Ich habe dich gewogen, aber zu leicht erfunden.“ Christen, weigert euch nicht, auf dieser Wage euch wiegen zu lassen. Wollt ihr eurer Gesinnung nach zu der großen Menge der Lieblosen gehören, um mit der großen Menge verloren zu gehen? Stellt euch doch nicht länger der Welt gleich; werdet gesinnet, wie Paulus, werdet vor Allem gesinnet, wie Jesus Christus war.
Viele Christen, aber wenig gute Christen. Es gilt das von ihrer Gesinnung, und demgemäß, zweitens, auch von ihrem Streben. Denn Alle, heißt es in unserm Texte, suchen das Ihre, nicht was Jesu Christi ist. Stand es wirklich so um Alle? Waren nur Zwei - Paulus und Timotheus, die, umgekehrt, nicht das Ihre, sondern das suchten, was Christi ist? Ist's nicht, als hörten wir die Klage des Propheten Jesaias: Ein Jeglicher siehet auf seinen Weg, ein Jeglicher geizet für sich in seinem Stande (Jes. 56,11)? Alle suchen das Ihre. Das „Alle“ ist freilich so nicht zu verstehen, als ob in der ganzen römischen Gemeinde kein Uneigennütziger gewesen wäre. Manche wären zu der Mission nach Philippi wohl tauglich und auch willig gewesen, aber ihre äußere Lage hinderte sie, auf Monate sich den Ihrigen zu entziehen; sie waren Gatten, Väter, die der Apostel nicht aus ihrem Berufskreise entfernen konnte, ohne die Ihrigen dem Mangel preiszugeben. Viele hinderte ihre äußere Lage nicht, aber ihnen fehlte die Tauglichkeit, das Geschick zu jener Mission. Es war dazu ein Mann erforderlich, der außer dem christlichen Sinn auch ein nicht ganz gewöhnliches Maß von Erkenntnis, von Erfahrung besaß, und dessen ganze Persönlichkeit sich dazu eignete, das Vertrauen der philippischen Gemeinde zu gewinnen. Der Apostel also redet nur von den, durch ihre Lage nicht gehinderten, von den geeigneten Personen, die um ihn waren. Diesen nun trug er die Mission an, aber sie zeigten sich zu ihrer Annahme nicht geneigt, sondern suchten, einer nach dem andern, Entschuldigungsgründe, um der beschwerlichen und gefährlichen Reise sich zu entziehen, Ihre Bequemlichkeit, Ruhe, Sicherheit, Nutzen stand ihnen höher als die Sache Christi. Daher die Klage: Alle suchen das Ihre. Es ist das in der Weise der alttestamentlichen Propheten so geredet, daß wir dabei besonders an die Hirten und Lehrer in der römischen Gemeinde zu denken haben. Aber wie betrübend war es nun doch für den Apostel, erfahren zu müssen, daß Keiner sich fand, der Liebe zu Christo und Muth genug besaß, um die Wahrheit unter Mühen und Gefahren frei zu verkündigen! Wir kennen aus den andern Briefen, die Paulus von Rom aus schrieb, die Namen etlicher Christen, die dort um und bei ihm waren. Eines Aristarch, eines Jesus Justus, eines Demas, eines Lukas wird erwähnt. Also auch Lukas gehörte zu den Selbstsüchtigen? Da in unserer Epistel seiner gar nicht Erwähnung geschieht, obgleich er den Philippern persönlich bekannt war, so müssen wir annehmen, daß er in Rom eben jetzt nicht anwesend war. Von Demas wird, geklagt (2 Tim. 4), er habe Paulum verlassen und diese Welt lieb gewonnen, und sei nach Thessalonich gezogen. Die nun aber noch da waren, hatten nicht den rechten Muth, wie denn auch bei des Apostels erster Verantwortung Niemand ihm beigestanden hatte - „sie verließen mich Alle“, spricht er (2 Tim. 4,16). Das ist es, was ich sage: Viele Christen, aber wenig gute Christen. An ihrem Streben ist das zu erkennen: - sie suchen das Ihre; von der Liebe aber wird gesagt (1 Cor. 13,5): sie suchet nicht das Ihre. Spiegelt euch in diesem Worte. Wir wissen aus eigener vielfältiger Erfahrung, wie es geht, wenn die Liebe mit ihren Forderungen an die Menschen tritt. Selbst wenn sie zu ihrem Sprecher einen Apostel Paulus hat, findet ihre Rede bei Wenigen Gehör und Eingang. Man sollte denken, daß, wenn ein so angesehener und nach seinem Vorbild, das er leuchten läßt, so hochstehender Apostel den Mund aufthäte und Opfer der Liebe forderte, daß dann auch die sonst Eigennützigen freigebig und die Trägen fleißig und die Feigen muthig würden; aber nein! auch einem Paulus gegenüber siegt das Fleisch über den Geist. Eines Apostels Wort gilt mehr, wenn er gestorben ist, als wenn er noch lebt; durch Jahrhunderte von uns geschieden, glänzt er wie der Mond; aber wandelt er noch unter den Menschen und steht ihnen ganz nahe, so ist er wie ein dunkler Planet. Haben doch Tausende selbst Christi Wort für Nichts geachtet: wie hätte denn Paulus etwas ausrichten sollen! Worin hat das seinen Grund? Darin, daß die Menschen keine Liebe haben; sie suchen das Ihre. Was ist's, wenn man's genau betrachtet, eine Handvoll Geld? Eine Hand voller Sand, und doch, bittest du die Leute um diese Handvoll Sand, sei es auch, daß ein Unglücklicher damit zu retten, daß für das Reich des Herrn etwas Großes damit auszurichten wäre, so wirst du unter den Vielen wenige finden, die es dir geben. O ihr Halb-, ihr Achtel-, ihr Sechzehntelchristen, in deren Augen ein kleines Stück Erz mehr Werth hat als ein christlich Herz! -
Was ist, wenn man's genau betrachtet, die äußerliche Ruhe unsers Lebens? Ein Traum, ein Schlaf; und doch, wenn du die Leute aus dem Traum ihres Alltagslebens weckst und sie bittest, daß sie selbst nur einige Wochen im Dienste der Liebe wachen und thätig seien, so blicken sie dich finster an und fallen zurück in ihren Schlaf. Beruft euch nicht auf eure Arbeit und Thätigkeit: ihr arbeitet nur für euren eigenen Geld- und Magensack. Was ist, wenn man's genau betrachtet, das Leben? Eine irdene Schale, die, wenn sie niederfällt, in Scherben zerbricht; und doch, wenn du die Leute bittest, daß sie diese an sich so werthlose Schale mit Werken der Liebe füllen mögen, so füllen sie sie lieber mit dem Dreck irdischer Wollust und Genußsucht, als mit dem lebendigen Wasser der Liebe.
Viele Christen, aber wenig gute Christen. Das ist, schon den Brüdern gegenüber, nicht brüderlich. Niemand suche, was sein ist, sondern ein Jeglicher, was des Andern ist, lautet die Forderung der Bruderliebe (1 Cor. 10). Es gibt Menschen, die nicht an Christum, selbst nicht an Gott, sondern nur an eine Menschheit glauben, aber an eine Menschheit in dem Sinne, daß das Ganze nicht da ist um des Einzelnen, sondern der Einzelne nur um des Ganzen willen, und fürwahr, es sind unter ihnen nicht wenige, die für die Menschheit Gut, Blut und Leben hingeben. Du, mein Theurer, sprichst: Ich glaube an Jesum Christum, meinen Herrn, der für mich verlornen und verdammten Sünder in den Tod gegangen ist: und doch suchst du das Deine und nicht was Jesu Christi ist? doch steht dir dein Silber, deine Gemächlichkeit, dein Leben höher als die Sache deines Erlösers? Muß es demnach am Tage des Herrn jenen Ungläubigen nicht weit erträglicher ergehen als dir? Ich glaube an deinen Glauben nicht, solange du der großen Menge dich gleichstellst, die von einem Christo im Himmel redet, aber vor zehn Götzen dieser Welt ihre Kniee beugt, und ihr Hauptgötze sind sie selbst, ihr Ich, Ich, das mit Gut, Ehre, Freude zu schmücken ihr einziges Streben ist. Daß sie doch die Wohlthat ansähen, uns von Christo erwiesen, der durch das Opfer seines Lebens uns von dem ewigen Verderben errettet hat! daß sie doch bedächten, wie diese Wohlthat, wenn sie mit Undank vergolten wird, die Qual, wovon sie uns erretten möchte, noch einmal so qualvoll macht! daß sie doch bedächten, wie eines Christen Leben, in Eigennutz und Selbstsucht zugebracht, das Urtheil nach sich ziehen muß: Ich habe euch nie erkannt, weichet alle von mir, ihr Uebelthäter!
Viele Christen, aber wenig gute Christen. Seht darauf, drittens, ihre Vergangenheit an. Wo die christliche Gesinnung fehlt, wo das Streben ein selbstsüchtiges ist, da kann auch der geführte Wandel nichts als ein Zeugniß der Armuth sein. Paulus stellt den Timotheus jenen Selbstsüchtigen gegenüber und sagt: Seine Bewährtheit kennet ihr, daß er wie ein Kind dem Vater mit mir gedienet hat für das Evangelium. Der Apostel hatte den Mann auf seiner frühern Missionsreise in Lystra kennen gelernt, wo er ein gutes Gerücht bei den Brüdern hatte (Apg. 16). Daher nahm er ihn zu sich als Gehülfen auf seinen weitern Reisen, und Timotheus war auch mit ihm in Philippi gewesen. Also kannten sie ihn dort und kannten ihn als einen Christen, der in den Gefahren, die er bei ihnen bestanden, und unter den Verfolgungen, die er mit Paulo erlitten, keine Furcht gezeigt, sondern um Christi willen Alles freudig über sich ergehen, ja in seinem Gefängniß den Herrn betend und singend gepriesen hatte. Er war auch später nicht treulos geworden, sondern in der Ausbreitung und Verkündigung des Evangeliums dem Apostel zur Hand gegangen mit einer Liebe und Folgsamkeit, als wäre er sein Sohn. Er hatte aber auch in dem Apostel einen echten geistlichen Vater. Denn sollen Väter ihren Söhnen mit gutem Beispiele vorleuchten: wessen Beispiel konnte leuchtender sein als Pauli Beispiel, der nimmer suchte, was ihm, sondern was Vielen frommte, daß sie selig würden (1 Cor. 4,33). So sind doch also unter den vielen Christen auch gute Christen. Ja, aber wenige! Zwei unter Zwanzig oder Vierzig, was ist das! Und doch wollen wir uns darüber freuen in dem Herrn. Und wenn's von Hundert nur Einer wäre, so sollt ihr wissen, daß über diesen Einen, dessen Beispiel leuchtet wie der Mond in der Nacht, Freude auch unter den Engeln im Himmel ist.
Ich glaube an eine Liebe Gottes, die, wenn auch nur eine Seele von Millionen hätte gerettet werden können, dennoch Knechtsgestalt angenommen und in dieser Knechtsgestalt sich hätte kreuzigen lassen. Es sind nun aber allenthalben unter den vielen Etliche, deren Vergangenheit für sie zeugt, daß sie wahrhaftige Christen sind. Sie haben wie Timotheus ein gutes Gerücht bei den Brüdern; sie haben's, wie er, an Werken und Erweisungen der christlichen Selbstverläugnung und Liebe nicht mangeln lassen. Sie haben Christum bekannt vor den Menschen und haben Gott gepriesen in der Trübsal. Sie müssen Kinder. des Apostels Paulus heißen, denn wie sie durch des Apostels Wort von Neuem geboren sind, so sind sie auch ihrem geistlichen Vater nachgegangen auf seinem Wege, worauf er ihnen vorgeleuchtet hat. O lieber Christ, ist es dir darum zu thun, zu erfahren, ob du zu den guten Christen gehörst, so befrage darüber deine Vergangenheit. Ein Schiff, das durch die Wellen geht, verschwindet bald, und nicht lange sieht man seine Spur; aber der Christ, der mit seinem Glaubensschiff durch's Leben fährt, hinterläßt eine Spur, die für oder wider ihn zeuget, jetzt und ewiglich. Du kennst das Wort des Herrn: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Ein guter Baum bewährt sich durch die Früchte, die er trägt, ein guter Christ durch seine Werke, die er thut, durch sein Leben, das er führt.
Viele Christen, aber wenig gute Christen. Ich beweise das mit den Werken ihrer Vergangenheit. Wie so gar arm an Liebe ist ihr bisheriges Leben! Es ist manches Wort über ihre Zunge gegangen - ständen sie alle in Büchern geschrieben, kein Schrank könnte die Bücher fassen: - aber unter den vielen wie wenige, die geredet sind aus einem christlichen Herzen zum Troste, zur Besserung, zum Frieden, zum Heile ihrer Brüder! - Es sind manche Schritte von ihnen gethan worden - sagte ich: Millionen, so wäre es zu wenig; - aber unter den vielen wie, wenige Schritte und Gänge in die Häuser der Witwen und Waisen, der Kranken, der Verlassenen! - Es sind viele Münzen durch ihre Hand gegangen - so arm ist fast kein Tagelöhner, daß nicht in seinem Leben etliche Tausend Thaler durch seine Hand gingen: - aber das Viele, für wen ist's ausgegeben worden und wofür? Das Capital, das die Liebe bekommen hat, ist klein, obgleich kein Geld bessere Zinsen trägt, als was wir aus Liebe der Liebe weihen. - Es sind viele Arbeiten von ihnen gethan, viele Nöthen von ihnen getragen, viele Thränen von ihnen geweinet worden: aber unter den Arbeiten wie wenige in Gott gethan! unter den Nöthen wie wenige um der Gerechtigkeit willen erlitten! unter den Thränen wie wenige in Liebe geweint! Irre ich nun in dem allem nicht, so irre ich ja auch nicht, wenn ich sage: Viele Christen, aber wenig gute Christen. - Aber warum wird's gesagt? Bloß, um eure Herzen um eine traurige Wahrheit reicher, und um einen Trost ärmer zu machen? Nein, Christen, es geschieht, damit sich Keiner täusche über sich selbst, sondern wir Alle mit Ernst unsere Gesinnung, unser Streben, unsern bisherigen Wandel prüfen und erfahren mögen, wie es, um uns steht. Wo keine Selbsterkenntniß ist, wie kann da Besserung des Herzens und Lebens eintreten? Sei denn, das Wort des Apostels: Alle suchen das Ihre, nicht das Jesu Christi ist, sei es uns wie ein Blitz aus dem heitern Himmel unserer bisherigen Ruhe und Sorglosigkeit; sei es uns ein Wecker, daß wir fragen: stand's so in Rom, wie steht's in Brügge? sei es uns eine Leuchte, womit wir hinabsteigen in die Tiefen unsers Herzens und Lebens, um zu erfahren, was dort vorgeht, vorgegangen ist. Und wenn wir nun nicht läugnen können, daß jenes Wort mehr oder weniger ein Gericht über uns alle und daß auch der Beste unter uns nicht rein ist vor diesem Wort: was dann thun?
Buße thun und beten: Barmherziger Gott, fass uns doch an und rüttle, schüttle uns, daß wir aufwachen aus dem bösen Schlaf unserer Trägheit und Sicherheit! Ist es wahr, daß wir noch alle suchen, was unser, nicht aber was dein ist, ach, so sind wir ja noch keine wahrhaftigen Christen und wandeln auf der breiten Heerstraße der Welt, die zum Verderben führt. Zieh uns ab von dieser Straße und führe uns auf den Weg, auf dem Paulus und Timotheus uns vorangegangen sind! Pflanze Liebe in unser Herz, eine Liebe, die ihr Eigenes ganz zurückstellt gegen das, was Christi ist.
Prüf, Herr Jesu, meinen Sinn
Und erfahre, wie ich's meine.
Ob ich dein zu sein nur scheine,
Oder ob ich's wirklich bin,
Daß ich doch von Heuchelei
Ganz und gar geschieden sei.
Gib mir, Herr, ein treu Gemüth.
Das zu dir allein sich kehret,
Dich in tiefster Andacht ehret,
Nur für dich in Liebe glüht,
Und nichts anders kann und weiß,
Als nur deines Namens Preis!