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Kähler, Carl Nikolaus - Auslegung der Epistel Pauli an die Kolosser in 36 Betrachtungen - 22. Betrachtung

Auf der Versammlung der Apostel zu Jerusalem (Apg. 15.), wo etliche aus der Pharisäer Sekte, die gläubig geworden waren, forderten, man müsse die neubekehrten Christen aus den Heiden beschneiden, und ihnen gebieten, zu halten das Gesetz Mosis, trat der Apostel Petrus auf und sprach: Was versucht ihr Gott mit Auflegen des Jochs auf der Jünger Hälse, welches weder unsere Väter noch wir haben mögen tragen? Sondern wir glauben durch die Gnade des Herrn Jesu Christi selig zu werden, gleicherweise wie auch sie. - Gott selbst hatte den Apostel durch eine Offenbarung überzeugt, dass er keinen Unterschied mache zwischen Juden und Heiden, sondern ohne Beschneidung und ohne alle Beachtung des alttestamentlichen Gesetzes die Herzen der Menschen reinige durch den Glauben. Da nun gleichwohl die Pharisäer auf die Beobachtung des Gesetzes drangen, verwies ihnen dies der Apostel, wie auch der Herr selbst getan hatte, da er sprach (Luk. 11.): „Ihr beladet die Menschen mit unerträglichen Lasten,“ und zeigte ihnen dann den alleinigen Weg zur Seligkeit in den Worten: „Wir hoffen durch die Gnade Jesu Christi selig zu werden.“ Dasselbe tut der Apostel Paulus in unserm heutigen Text. Was er schon zuvor erinnert hatte, dass die Christen sich nicht sollten durch menschliche Satzungen gefangen nehmen lassen, nachdem der Herr sie davon erlöst habe durch sein Blut, das wiederholt er nun noch einmal am Schluss des zweiten Kapitels, und warnt dabei noch insonderheit vor dem strengen äußerlichen Leben der Irrlehrer und den Enthaltsamkeitsregeln, die sie den Christen gaben.

Kap. 2, 20-23: So ihr denn nun abgestorben seid mit Christo den Satzungen der Welt, was lasst ihr euch denn fangen mit Satzungen, als lebtet ihr noch in der Welt? Wie da sagen: Du sollst das nicht angreifen, du sollst das nicht kosten, du sollst das nicht anrühren, welches sich doch alles unter Händen verzehret, und ist Menschen-Gebot und Lehre; welche haben einen Schein der Weisheit durch selbst erwählte Geistlichkeit und Demut und dadurch, dass sie des Leibes nicht verschonen, und dem Fleisch nicht seine Ehre tun zu seiner Notdurft.

Es ist

die verkehrte Enthaltsamkeit,

von der Paulus lehrt:

1.) was sie von uns fordert,
2.) wie unverträglich sie mit dem Christentum, und
3.) wie trüglich der Schein ihrer Weisheit ist.

1.

Der Apostel redet noch einmal von den Satzungen oder Anfangsgründen der Welt, davon schon Kap. 2, 8. die Rede gewesen ist. Dazu rechnet er auch die Enthaltsamkeitsregeln, welche die falschen Apostel den Christen gaben. Sie forderten ein strenges, allem Weltgenuss entfremdetes Leben. Sie sagten: „Du sollst das nicht angreifen, du sollst das nicht kosten, du sollst das nicht anrühren.“ Man kann nicht mit Gewissheit sagen, ob diese Verbote bloß auf gewisse Speisen, oder auch auf andere Dinge zu ziehen sind. Will man jedem der drei Gebote eine besondere Deutung geben, so kann man bei dem letzten: „rühre nicht an,“ daran denken, dass das Gesetz Moses die Anrührung der Toten und vieler anderen Dinge verbot, die es für unrein erklärte (3 Mos. 15.). Sonderlich drangen wohl die Irrlehrer auf den Unterschied der Speisen, worauf das zweite Verbot geht: „koste nicht.“ Was endlich die erste Regel betrifft, so ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Irrlehrer auch auf den ledigen Stand drangen, und den Christen die eheliche Berührung eines Weibes untersagten, wie es zu Ephesus geschah, davon Paulus sagt (1 Tim. 4, 3.): Und verbieten, ehelich zu werden. So treffen jene Verbote ungefähr mit den Klostergelübden in der römischen Kirche zusammen, wo man sich verpflichtet, ehelos zu leben, zu gewissen Zeiten gewisser Speisen sich zu enthalten, und freiwillige Armut zu leiden. Das steht jedenfalls fest und geht aus jenen Verboten hervor, dass man zu Kolossä auf eine strenge Beobachtung des Buchstabens des Gesetzes drang, und dass man die Heiligkeit, die man im Innern hätte suchen sollen, im Äußern suchte. Was nützt doch ein zurückgezogenes Leben, Hungern und Martern des Leibes, solange das Herz nicht gebessert ist? und wiederum, wenn das Herz rein ist, wozu dann noch das Joch jenes strengen Lebens? Die Frucht des Geistes ist nicht hungern, ehelos leben und dergleichen, sondern Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit, Glaube, Sanftmut, Keuschheit.

2.

Doch lasst uns von Paulus selbst hören, wie unverträglich jene Enthaltsamkeit mit dem Stand eines gläubigen Christen, und mit seiner Hoffnung sei. „So ihr“ spricht er „abgestorben seid mit Christo den Satzungen der Welt, warum, als lebtet ihr noch in der Welt, lasst ihr euch mit Satzungen fangen?“ Der Apostel räumt ein, dass es eine Zeit gegeben habe und einen Zustand, wo die Menschen von Gott in die Schule einer strengen äußerlichen Zucht hatten geführt werden, und das Joch der alttestamentlichen Satzungen hatten tragen müssen, damit so ihre natürliche Rohheit gebrochen, ihr starrer Hals gebeugt werden, und sie anfangen möchten, sich zu sehnen und zu strecken nach der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes, die nach der Verheißung der Propheten der Messias ihnen bringen sollte. Christus hat nicht gleich zu Anfang die himmlische Freiheit in die Welt bringen können, sondern Moses hat ihm mit harten Geboten und Satzungen den Weg bereiten, und es hat das Volk noch außerdem durch viele Plagen und Leiden gehen müssen. Darum nennt der Apostel alle jene Satzungen, darin es heißt: rührt nicht an, koste nicht, taste nicht an, tue dies nicht, tue das nicht, und wenn du es tust, so bist du verflucht, er nennt sie Anfangsgründe. Aber ist, nachdem nun Christus erschienen ist, und wir mit ihm gestorben, das heißt, des ganzen vollen Segens seines Todes, also auch der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes, teilhaftig worden sind, mit dieser unserer Freiheit jene Marter noch verträglich? Wollt ihr sie euch dennoch aufladen, so bedenkt, in welchen Widerspruch ihr euch verwickelt. Ihr wollt für Leute gelten, die mit Christo gestorben, also frei sind, und doch, indem ihr unter jene Satzungen euren Nacken beugt, lebt ihr noch, das heißt, seid nicht mit Christo gestorben, seid nicht frei, sondern noch gebunden an jenes sklavische Leben. Ihr wollt für Leute gelten, deren Leben Christus ist, und doch, indem ihr euch jenen Geboten fügt, lebt ihr noch in der Welt, will sagen, in einem Zustande, da ihr noch ohne Christum seid und ohne die Gemeinschaft seines Todes und der Frucht desselben.

Es könnte aber jemand sagen: wir leben zwar in den Zeiten des Neuen Testaments, aber wir sind noch nicht so reif für die evangelische Freiheit, dass wir der alttestamentlichen Zucht entbehren können. Darum glauben wir zwar an Christum, aber beugen uns zugleich unter das Gesetz Moses.

Das heißt, Freiheit und Knechtschaft in einen Sack stecken. Wollt ihr Knechte sein, so rühmt euch nicht mehr der Freiheit in Christo; wollt ihr aber Freie sein, so gebt die Knechtschaft auf. Sogar mit dem ewigen Verderben seid ihr bedroht, wenn ihr jenen Satzungen Gehorsam leistet, welche alle zum Verderben gereichen durch ihren Missbrauch nach den Verordnungen und Lehren der Menschen. Es wird eingeräumt, dass jene Satzungen, soweit das Alte Testament sie enthält, an sich göttlich sind und auch zu ihrer Zeit einen Segen brachten; aber in jetziger Zeit gereichen sie zum Verderben, wenn man sie missbraucht, wie in den Verordnungen der Irrlehrer geschieht, das heißt, in ihren Geboten und Verboten, und in den darüber von ihnen aufgestellten Lehren oder Grundsätzen, wodurch sie jene stützen. Das aber ist der Missbrauch, dass sie jene Satzungen als ewig gültig und ihre Beobachtung als zur Seligkeit notwendig betrachten lehren, und wohl gar durch neue Satzungen sie erweitern und vermehren. Dadurch werden die Satzungen des Alten Testaments Gebote und Lehren der Menschen oder der Welt, also ihre Quelle getrübt und ihr Segen in Verderben verwandelt. Denn werden die Werke des Gesetzes als notwendig zur Seligkeit gefordert, so wird ja durch solche Lehre das Auge des Glaubens, das allein auf Christum blicken soll, zugleich auf das Gesetz hingewandt, die Gerechtigkeit aus dem Glauben wird eine Gerechtigkeit aus den Werken, der Dienst Gottes im Geiste und in der Wahrheit wird in ein sklavisches Menschenjoch verwandelt, die alte Knechtschaft wird wieder eingeführt, die kindliche Glaubensfreudigkeit geht verloren, das ewige Heil steht in Gefahr.

3.

Es ist noch übrig, den trügerischen Schein der Weisheit aufzudecken, der über jene Verordnungen und Lehren ausgebreitet ist, als welche freilich einen Schein der Weisheit haben durch selbst erwählte Geistlichkeit und Demut und dadurch, „dass sie des Leibes nicht verschonen, und dem Fleisch nicht seine Ehre tun zu seiner Notdurft.“ Der Schein der Weisheit liegt fürs erste in der selbsterwählten Geistlichkeit oder Dienst der Irrlehrer. Sie meinten, sie täten etwas Gott Wohlgefälliges, täten Gott einen Dienst, wenn sie jene Satzungen befolgten, und ihre Befolgung auch von andern forderten. Aber es heißt von dergleichen Gottesdienst: Wer fordert dieses von euren Händen (Jes. 1, 12.)? Vergeblich ist es, dass sie mir dienen, dieweil sie lehren solche Lehre, die nichts ist denn Menschengebot (Mark. 7, 7.). -

Fürs andere liegt der Schein in der Demut der falschen Propheten. Denn wie sie sagten, die Demut fordere es, dass man sich nicht unmittelbar an Gott selbst, sondern durch die Engel an ihn wende, so auch schien es Demut zu sein, wenn sie sich fern hielten von dem Hochmut, welcher Glanz und Wohlleben fordert, und geneigt waren, sich allerlei Opfer und Entsagungen aufzulegen. Aber da wechseln sie nur das Kleid des Hochmuts, der ebenso oft barfuß und in einem zerrissenen Rock, als in Purpur und köstlicher Leinwand geht.

Fürs dritte liegt der Schein in der Schonungslosigkeit gegen den Leib. Sie sahen den Leib als einen Kerker der Seele an, und lehrten, es sei die Pflicht eines Weisen, daran zu arbeiten, dass der Kerker je eher je lieber zerbrochen werde, damit die Seele wieder in Freiheit komme. Steckt die Sünde bloß im Fleische, wovon die Seele eingeschlossen ist, so folgt ja, dass mit dem Fleische auch die Sünde ausgezogen wird. Wenn sie demnach der Fleischspeisen sich enthielten, und durch strenges Fasten, vielleicht auch durch Ehelosigkeit ihrem Leibe Abbruch taten, so schienen sie darin ausnehmend heilige und weise Menschen zu sein. Aber auch hier ist der Schein offenbar. Denn wenn es zwar sündlich ist, den Bauch zum Gotte zu machen (Phil. 3, 19.), und das Herz mit Fressen und Saufen zu beschweren (Luk. 21, 34.), so lehrt uns doch wiederum die Schrift, dass wir dem Leibe die schuldige Ehre und Notdurft nicht versagen sollen, weil Gott beides, Leib und Seele, wunderbar gemacht und verbunden hat; weil ferner der Leib ein Tempel Gottes ist (1 Kor. 3.), dem die Glieder geweiht sind zu seinem Dienst, und endlich, weil der Leib einst erweckt und verklärt werden soll, dass er ähnlich werde dem verklärten Leibe Jesu Christi (Phil. 3, 21.). Endlich, viertens, lag der Schein der Weisheit bei den Irrlehrern darin, dass sie ohne alle Werthaltung des Leibes waren, „weil sie vorgaben, diese diene nur zur Nährung des Fleisches.“ Ihr Zweck war gut, sie wollten die Macht des Fleisches, d. i. der sündlichen Natur, brechen. Aber weil sie glauben, dass alle Sünde im Körper ihre Wurzel habe, so hieß: den Körper nähren, bei ihnen: die böse Lust nähren, daher sie alles verachteten, was dazu dient, den Leib gesund und stark zu erhalten. Die Toren! Gerade indem sie den Körper hungern ließen, nährten sie das Fleisch; denn wie soll die Seele rüstig zum Kampfe sein, wenn sie mit dem leidenden Körper leiden muss! und wie kann es heißen, das Fleisch kreuzigen, wenn man durch selbsterwählte Werke den Hochmut nährt! Wähnt nicht, dass ihr das Fleisch kreuzigt, wenn ihr euren Leib misshandelt. Wachen und beten, mäßig und nüchtern sein, das ist rechte Kreuzigung des Fleisches.