Inhaltsverzeichnis

Jacoby, Carl Johann Hermann - Der erste Brief des Apostels Johannes in Predigten ausgelegt - XIX. Gottes Zeugnis für die Wahrheit des Evangeliums.

1. Joh. 5,6-12.
Dieser ist's, der da kommt mit Wasser und Blut, Jesus Christus, nicht mit Wasser allein, sondern mit Wasser und Blut. Und der Geist ist's, der da zeugt; denn der Geist ist die Wahrheit. Denn drei sind, die da zeugen auf Erden: Der Geist und das Wasser und das Blut; und die drei sind beisammen. So wir der Menschen Zeugnis annehmen, so ist Gottes Zeugnis größer; denn Gottes Zeugnis ist das, das er gezeugt hat von seinem Sohn. Wer da glaubt an den Sohn Gottes, der hat solches Zeugnis bei sich. Wer Gott nicht glaubt, der macht ihn zum Lügner; denn er glaubt nicht dem Zeugnis, das Gott zeugt von seinem Sohn. Und das ist das Zeugnis, dass uns Gott das ewige Leben hat gegeben, und solches Leben ist in seinem Sohn. Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht.

Was ist Wahrheit, rief Pilatus, als der König der Wahrheit sich ihm bezeugte und das ernste Wort an ihn richtete: „Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme“ (Ev. Joh. 18,37.38). Die Frage nach der Wahrheit war dem glaubenslosen Römer eine offene Frage, auf die es keine Antwort gibt. Mancherlei Meinungen, keine Gewissheit. Besser, man verzichtet darauf, die Frage nach der Wahrheit überhaupt aufzuwerfen. Wie viele in unserer Zeit gleichen diesem Heiden, der auf den Gewinn der Wahrheit verzichtet, der sie nicht sucht, weil er weiß, er werde sie doch nicht finden. Ernste Gemüter leiden schwer unter dem Druck eines Lebens, dem die Wahrheit fehlt, oberflächlicher Sinn wählt zur Losung: „Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot“ (Kor. 15, 32). Aber es ist der Vorzug christlicher Lebensbetrachtung, gefundener Wahrheit froh zu sein, in unerschütterlicher, seliger Gewissheit den Kämpfen des Lebens entgegenzugehen, die Furcht des Todes zu besiegen, in der Hoffnung himmlische Vollendung als unentreißbares Erbe zu ergreifen. Worin ist diese Gewissheit begründet? In den Gedankengängen menschlicher Vernunft, welche die Brücke zwischen Erde und Himmel, Sichtbarem und Unsichtbarem, Zeitlichem und Ewigem überschreitet? Ach, wir wissen, wie unsicher dieser Weg ist, wie viele Gefahren der Selbsttäuschung, des Irrtums uns hier drohen. Oder folgt sie etwa den kühnen Eingebungen der Einbildungskraft, wirklichen oder vermeintlichen Bedürfnissen unsers Herzens? Ach, wir haben keine Bürgschaft, dass wir Vorstellungen, die unseren Wünschen schmeicheln, als Verheißungen betrachten dürfen, die auf Erfüllung rechnen können. Nein, meine Lieben, unser Glaube ruht auf festerem Grunde, auf Gottes Offenbarung, auf dem Zeugnis, das Gott selbst für die Wahrheit abgelegt hat. So sei Gottes Zeugnis für die Wahrheit des Evangeliums der Gegenstand unserer andächtigen Betrachtung. Der Apostel lenkt dieselbe auf das Lebenswerk, das Leidenswerk und das Geisteswerk Jesu Christi.

1.

„Dieser ist es, sagt der Apostel, der da kommt mit Wasser und Blut, Jesus Christus, nicht mit Wasser allein, sondern mit Wasser und Blut. Und der Geist ist es, der da zeugt, denn der Geist ist die Wahrheit.“ Er weist uns hin auf die Taufe des Herrn, auf seinen Kreuzestod und auf die Wirksamkeit des Heiligen Geistes, der das Lebenswerk Jesu, das mit seiner Taufe anhebt und mit seinem Tode abschließt, auslegt und besiegelt. So sind es drei Zeugen, welche für die Wahrheit des Evangeliums hier auf Erden eintreten. Und auf zweier oder dreier Zeugen Aussage gründet sich menschlicher Richter Urteil. Wo sie vorliegt, sind wir überzeugt, glauben wir. Wohl, auch hier vernehmen wir dreier Zeugen Aussagen, die zusammen stimmen, und es sind nicht menschlicher Zeugen Worte, es sind Gottes Worte selbst. Sollten wir nun nicht glauben? So wir der Menschen Zeugnisse annehmen, so ist Gottes Zeugnis größer; denn Gottes Zeugnis ist das, das er gezeugt hat von seinem Sohne. Er hat für ihn gesprochen in der Taufe, da an ihn die Stimme erging: Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe (Ev. Matth. 3,17). Aber, wenn auch nicht dies Wort seine Taufe besiegelt, oder, wenn die evangelische Geschichte es unterlassen hätte, diesen Gruß aus der unsichtbaren Welt uns mitzuteilen, der Heilige Geist, der das Lebenswerk Jesu Christi in dem Geiste der Gläubigen auslegt, bezeugt ihnen, dass sich Gottes Vaterherz in seliger Liebe dem Sohne erschloss, als er in das Wasser des Jordans trat, um von Johannes getauft zu werden. Denn jetzt begann der Herr sein Heilandswerk, jetzt empfing er die Weihe für dasselbe. Nun war ihm die volle Gewissheit geworden, nicht nur, dass er Gottes eingeborener Sohn sei, der sein musste in dem, was des Vaters ist, dies Bewusstsein hatte schon in leisen, ahnungsvollen Regungen das Kindesgemüt erfüllt, es hatte, stetig wachsend, den reifenden Jüngling bewegt, dem klar schauenden Blick des Mannes sich erschlossen, nein, jetzt war es ihm offenbar geworden, dass er berufen sei, sein Volk zu erretten aus den härtesten Banden, in die es geschlagen war, aus den Banden der Sünde und Schuld. Und so lässt er sich von Johannes taufen, der Größte unter den Menschenkindern, der sündlose Gottessohn, vom sündigen Knechte Gottes. Johannes, von prophetischem Geiste erfüllt, wehrt ihm: Ich bedarf wohl, dass ich von dir getauft werde; und du kommst zu mir? Jesus aber antwortete und sprach zu ihm: Lass es jetzt also sein; also gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen. Da ließ er es ihm zu (Ev. Matth. 3,14.15). Die Taufe Johannis war eine Taufe zur Buße. Was konnte, was sollte sie Jesu sein, ihm, dem von Sünden reinen, dessen Herz von keiner Schuld belastet war? Und dennoch unterzieht er sich ihr, stellt sich mitten in die Schar der Bußfertigen, Reuigen; er ist nicht gekommen zu richten, er will in heiligem Mitgefühl als das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, selbst unschuldig, doch an der Schuld, an dem beugenden Bewusstsein der Gottesferne, das in den Frommen Israels erwacht ist, teilnehmen. Siehe da die Demut des Herrn! Der Hohe erniedrigt sich, der Herr wird Diener, entäußert sich selbst, nimmt Knechtsgestalt an, wird gleich wie ein andrer Mensch. In dem, der mit Wasser kommt, ist die Gestalt dessen, der mit Blut kommen wird, vorgebildet. Im Eingang des Heilandswerks spiegelt sich sein Ausgang, in der Wassertaufe die Bluttaufe. Wenn sich unsere Augen dem zuwenden, der hier in die Flut des Jordans steigt, richten sie sich zugleich auf den, der sich in die dunkle Flut des Todesleidens versenkt hat. Die Taufe Jesu, verklärt von dem erleuchtenden Strahl des Heiligen Geistes, ist eine stumme und doch so laute, das Herz tief bewegende Predigt von dem Sohne Gottes, der demütig des Vaters Heilsratschluss erfüllt, wie Schweres er auch von ihm fordert, der selbstverleugnend das Opfer des eignen Willens auf den Altar des göttlichen Willens niederlegt, aber auch deshalb die Stätte, da wir das Wort des Vaters vernehmen, der für den Sohn zeugt: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.

2.

Aber, meine Lieben, wenn schon aus dem Angesichte Jesu Christi, der gekommen ist mit Wasser, eine himmlische Herrlichkeit leuchtet, wenn ein unaustilgbares Verlangen des Herzens uns zu ihm zieht, um von ihm Gnade um Gnade zu nehmen, der heilige Strahlenglanz der Vollendung umfließt den Leidenden und Sterbenden, der gekommen ist mit Blut. Was er gelobt am Jordan, in Gethsemane und auf Golgatha hat es seine vollkommene Erfüllung gefunden. In seinem Wirken bereitet sich sein Leiden vor. Er kam in sein Eigentum, und die Seinen nahmen ihn nicht auf. Er verkündet das Wort der Gnade, aber das Ohr seines Volks verschließt sich ihm. In hohen, herrlichen Wundern erbarmender Liebe bildet er sein Heilandswerk ab, Lahme gehen, Blinde sehen, Aussätzige werden rein, Tote erweckt, das leibliche Auge sieht, aber der ungläubige Sinn hält den Blick des Glaubens zurück. Der Heilige wandelt unter den Sündern, niemand kann ihn einer Sünde zeihen, aber das stumpf gewordene, verhärtete Herz lästert den Heiligen als Sünder. Ein weltliches Königtum der irdischen Macht, nach dem Israel begehrt, will der Heiland nicht aufrichten, und das himmlische Königtum, das Reich Gottes, das er stiftet, wird von Israel verschmäht. Sein Volk verwirft ihn. Die Versuchungsstunde wird auch für seine Jünger eine Stunde der Sichtung. Viele verlassen ihn, wenige bleiben. Wollt ihr auch weggehen, fragt der Herr. Da antwortet ihm Simon Petrus: „Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. Und wir haben geglaubt und erkannt, dass du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Ev. Joh. 6, 66-69). Und doch hat derselbe Petrus, der dies große Bekenntnis ablegt, seinen Meister verleugnet, und unter denen, die blieben, war Judas Ischariot, der Verräter. Und welche schwere Erziehungsarbeit legten die Jünger, legten die Apostel dem Herrn auf! Wieviel Kleinglaube, wieviel irdischer Sinn herrscht unter ihnen, wie gering bleibt ihr Verständnis für sein Wort und Werk! Sein Wirken ist zugleich ein Leiden. Und dann kam für ihn die Nacht, da er nur durch Leiden wirken sollte. Verstoßen von seinem Volk, verraten von Judas, verleugnet von Petrus, verlassen von allen Jüngern, ging er einsam den Todesweg und brachte das rettende Opfer der Sühne. Wie bangt seine Seele in der Stille der dunkeln Nacht, da er in Gethsemane ringt und fleht, wie wird sie in Verzagtheit versenkt, da er am Kreuze ruft: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ Dennoch, da er gekommen ist mit Blut, verklärt ihn himmlische Herrlichkeit, das Licht der Vollendung. Da ihm auf dem Berge der Verklärung Moses und Elias erscheinen und ihm reden von dem Ausgang, welchen er sollte erfüllen zu Jerusalem, da sprach eine Stimme: Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe, den sollt ihr hören (Ev. Luk. 9,28-31; Ev. Matth. 17,5). Es fällt beides zusammen, die Verklärung Jesu und der Blick auf den bevorstehenden Todesgang. Bei uns sündigen Menschen liegt beides weit auseinander, Verklärung und Blick auf den Tod. Angesichts des Leidens, des Todesleidens, werden auch Große oft klein, und wir suchen vergeblich in ihrer Seele nach den Zügen der Verklärung. Aber bei dem Herrn ist beides geeint, Leiden und Verklärung, das Bild des Leidens wird zugleich zum Bild der Verklärung. Und so können wir auch nur von ihm lernen, im Leiden und durch Leiden verklärt zu werden. Dieser Zug der Verklärung spiegelt sich im Angesicht des leidenden Heilands und ergreift unsere Seele mit unwiderstehlicher Gewalt. Wenn er den Jüngern die Füße wäscht, der Herr und Meister ein demütiger Diener, wenn er Brot und Wein zum Sinnbild seines Leibes und seines Blutes weiht, wenn er im hohepriesterlichen Gebet seine Jünger und seine Gemeinde an seines Vaters Herz und in seine schützenden Hände legt, so erblicken wir in seinen Zügen Hoheit in Demut, Trauer in Ergebung, heiligen Ernst in Sanftmut und Milde, eine Liebe, die das eigne Leben zum Opfer bringen will, eine Verklärung des Irdischen durch Himmlisches.

Aber schwand dieser himmlische Glanz nicht, da er in Gethsemane mit dem Tode rang, da seine Seele betrübt war bis in den Tod, da er auf Golgatha im Bewusstsein der Gottesferne im Innersten des Gemütes erschüttert wurde? Meine Teuren, es gibt eine Verklärung, vor der die Trauer weicht, wie die Wolken vor dem Strahlenglanz der Sonne, aber es gibt auch eine Verklärung, die den Schmerz nicht auflöst, sondern in ihm neugeboren wird. Dort der Sieg über den Schmerz, den ein gefürchtetes schweres Geschick vorauseilend über die Seele ausbreitet oder ein schon eingetretenes nachwirkend in ihr erhält, hier ein Sieg mitten im Kampf oder unmittelbar vor seinem Beginn. Der Heiland hat den zwiefachen Schmerz erfahren, Leiden und Tod lag lange vor seinem Auge, aber er besiegte ihn in Vertrauen, Gehorsam und Hoffnung; sein himmlischer Vater konnte doch den Kelch an ihm vorübergehen lassen. So wurde er verklärt vor dem Kampf. Aber als er den Kelch trinken musste, wurde er verklärt im Kampf, denn das Ringen und Zagen des einsamen Beters in Gethsemane löst sich in das Wort der Ergebung auf: „Mein Vater, ist es nicht möglich, dass dieser Kelch von mir gehe, ich trinke ihn denn; so geschehe dein Wille“ (Ev. Matth. 26, 42), und die Klage des Sterbenden klingt aus im Siegesruf: „Es ist vollbracht“ (Ev. Joh. 19,30) und im Gebetsgruß des heimkehrenden Sohnes Gottes: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände“ (Ev. Luk. 23,46).

3.

Jesus Christus ist gekommen mit Wasser und Blut, und der Heilige Geist erklärt und verklärt sein Lebenswerk in unseren Herzen, dass wir in ihm Gottes Werk erkennen, Gottes Zeugnis, das sich zu demselben bekennt, vernehmen. Denn die drei sind beisammen. Aber der Vater zeugt auch für den Sohn, indem er allen, die an ihn glauben, die ihr Heil im Leben und im Sterben auf ihn gründen, die Gabe des ewigen Lebens im heiligen Geiste verleiht, der von Jesu Christo ausgeht. „Das ist das Zeugnis, dass uns Gott das ewige Leben hat gegeben, und solches Leben ist in seinem Sohne.“ Meine Teuren! Vom irdischen Leben gilt des Dichters Wort: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht“, aber vom ewigen Leben bekennen wir, dass es das höchste Gut ist, weil es alle wahren Güter voraussetzt und in sich schließt. Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes, ruft uns der Heiland zu (Ev. Matth. 6,33), aber das Reich Gottes ist die Gemeinschaft der an Christus Gläubigen, die in Gott das ewige Leben gesucht und gefunden haben. Strebet nach den besten Gaben, ich will euch noch einen köstlicheren Weg zeigen, mahnt der Apostel Paulus, und er weist uns auf die Liebe hin, die nimmer aufhört (1. Kor. 12,31; 13,8), aber das Leben in der Liebe, die von Gott stammt, in der heiligen Liebe, ist das ewige Leben. Und, wenn wir uns alle Früchte des Geistes vergegenwärtigen, die in der Heiligung wachsen, die himmlischen Segnungen der Freiheit und des Friedens und der Seligkeit, welche die Kinder Gottes schmücken, es sind Offenbarungen des ewigen Lebens.

Das ewige Leben ist Leben in der Freiheit, einer Freiheit, die unabhängig ist von unseren irdischen Geschicken. Wie beengt auch die Verhältnisse sein mögen, in deren Schranken wir uns bewegen müssen, wie schwer die Last sei, deren Druck uns niederbeugt, wie hart das Kreuz, das wir tragen müssen, wir sind doch frei. Wir leben nicht bloß in dieser Welt und für diese Welt, deren Gesetze und Verhältnisse unsere freie Bewegung hindern, wir leben zugleich in einer übersinnlichen Welt, in der wir durch die Liebe innig mit Gott und den Brüdern verbunden sind, in einer übersinnlichen Welt, in der wir uns über Raum und Zeit erheben und uns mit allen Gliedern des Reiches Gottes vereint wissen, einer übersinnlichen Welt, die hier in dieser Zeit, auf dieser Erde entsteht, aber nicht mit unserem leiblichen Leben vergeht. Wir genießen ein Leben in der Freiheit, denn in Christus ist unser Gewissen von der Schuld befreit; sie, der Übel größtes, ist von uns genommen. Sie ist durch den gesühnt, der gekommen ist mit Blut, und, wenn wir zu ihm unsere Zuflucht nehmen, spricht er in unser Herz hinein: Mein Sohn, meine Tochter, deine Sünde ist dir vergeben. Frei atmen wir auf, die Luft ewigen Lebens durchdringt unsere Seele.

Aber bleibt nicht die Last der Sünde, wenn auch die Last der Schuld von uns genommen ist? Gewiss, sie bleibt, und es ist eine verderbliche Selbsttäuschung, es könne ein Erdentag für uns kommen, da wir, frei von Schuld und Fehle, als die Reinen zu Gott emporschauen. Es bleibt die Sünde als das Gesetz in unseren Gliedern, als die Begierde des Fleisches, es bleiben Schwachheitssünden, in denen wir der Versuchung erliegen, aber es bleibt nicht die Sünde als die Macht, die unser Leben regiert. Im Innersten unseres Gemüts lebt das Gesetz des Geistes, lebt Gott und sein heiliger Wille als die wirksame Kraft, die uns leitet, lebt die Liebe zu Gott und dem Heilande, lebt die Liebe zu den Brüdern. Und so sind wir gewiss, dass, wenn wir die Treue bewahren im Kampf gegen die Versuchung, wir auch je länger je mehr in das Bild Christi werden verwandelt werden, und, obwohl sündig, doch die Freiheit wider die Sünde behaupten und befestigen werden. In der Freiheit aber empfinden wir die Herrlichkeit des ewigen Lebens. Das ewige Leben ist Freiheit, aber auch Friede.

In der Welt haben wir Angst, oft genug bedroht uns die Feindschaft der Menschen; Missgunst und Neid, Not und Sorge treten über unsere Schwelle, Schmerz und Leid kehren ein. Oft sinkt der Lebensmut, es schwindet die Lebensfreudigkeit. Es kommen Zeiten, da wir sprechen, was dem Leben Reiz verleiht, ist aus meinem Leben gewichen, es kommen Zeiten schwerer Anfechtung, wir sind versucht, mit Elias zu rufen: „Es ist genug, so nimm nun, Herr, meine Seele; ich bin nicht besser denn meine Väter“ (1. Kön. 19,4). Auch Christen sind vor diesen Stunden des Verzagens nicht geschützt, aber sie gehen aus ihnen als Sieger hervor und erretten ihre Seele in das Land des Friedens. Wir wissen ja, dass wir in Christus Gottes Kinder geworden sind. Kinder aber verlieren das Recht auf das Vaterhaus nicht, auch wenn sie in der Fremde weilen. Das himmlische, ewige Vaterhaus bleibt uns mit seinen Gnaden und Rechten. Wo wir auch seien, wir können doch in ihm weilen. Es ist so unendlich groß, dass, wohin wir auch gehen, wir es doch nicht verlassen. Mitten im tiefsten Elend bleiben wir doch im Vaterhause Gottes. Wir können vor sein Angesicht treten, alles, was uns beugt, was uns mit Kummer und Gram erfüllt, an sein treues Vaterherz legen, kein Schmerz ist so groß, dass unser Gott ihn uns nicht könnte tragen lehren, und kein Leid so geringfügig in seinen Augen, dass er nicht auf dasselbe achtete. Was ein Menschenherz mit Trauer erfüllt, findet immer einen Widerklang in Gottes Herzen. So sind wir in ihm geborgen. „Es kann mir nichts geschehen, als was er hat versehen und was mir selig ist.“ Er hört unser Bitten und Flehen und antwortet uns gnädig, auf wie rauen Wegen wir auch geführt werden. Er ist uns am nächsten, wenn er uns am fernsten zu sein scheint. Er führt uns in die Tiefe, aber gibt uns Kraft, auch in der Tiefe auf der Höhe zu stehen. Es betritt uns keine, denn menschliche Versuchung, und Gott ist getreu, der uns nicht lässt versuchen über unser Vermögen, sondern macht, dass die Versuchung so ein Ende gewinnt, dass wir es können ertragen (1. Kor. 10,13). So trösten wir uns des guten Hirten, der uns auf rechter Straße um seines Namens willen führt, der auch im finstern Tal bei uns ist, dessen Stecken und Stab uns trösten (Ps. 23). In der Gemeinschaft mit unserem himmlischen Vater, im Vertrauen auf ihn haben wir Frieden, und in diesem Frieden erfahren wir die Kräfte des ewigen Lebens.

In der Freiheit von der Schuld wird unsere Vergangenheit hell und klar, in der Freiheit wider die Sünde und im Frieden Gottes weichen die Wolken, welche die Gegenwart verdunkeln, und in der Seligkeit schauen wir getröstet und hoffnungsvoll in die Zukunft. Arm der Mensch, der in den Tagen des Alters den Blick in eine Zukunft himmlischer Vollendung verloren hat, dem das Grab Dasein und Leben begrenzt, der mit jeder verrinnenden Stunde dem Abgrund näher kommt, in dem er das Licht des Lebens erlöschen sieht. Er gleicht dem Baum, den der Herbstessturm seiner Blätter beraubt hat, und der nun, nackt und kahl, im Winterfrost erstarrt. Aber reich die Seele, die auch, wenn die Schatten länger werden, wenn das Haar ergraut, das Auge ermattet, die Kraft schwindet, ahnungsvoll dem neu belebenden Frühlingswehen einer höheren Welt entgegenhofft und im Glauben die Hand des Vaters ergreift, die durch das dunkle Todestal hindurch zu grünen Auen und frischen Wassern führt. Ihm ist auch im Alter die Jugend geblieben, denn Hoffen ist das Erbe der Jugend. Wenn der Erdentag sich neigt, wenn die Gebrechen des Alters die Arbeitskraft hemmen und den Zusammenhang mit dieser Welt lockern, knüpft die Seele desto inniger die Verbindung mit der unsichtbaren Welt und senkt ihre Wurzeln tiefer in den Heimatsboden des ewigen Lebens, selig in Hoffnung.

Freiheit, Friede, Seligkeit sind die Güter des ewigen Lebens. In Christus besitzen wir sie, denn er ist nicht bloß der Weg und die Wahrheit, er ist auch das Leben. Von ihm geht es aus, aus seiner Fülle schöpfen wir die Kräfte des ewigen Lebens. Wie fest gegründet ist unser Glaube! Für ihn bürgt Christus, der gekommen ist mit Wasser, Christus vor uns, für ihn bürgt Christus, der gekommen ist mit Blut, Christus für uns, für ihn bürgt Christus, der gekommen ist mit ewigem Leben, Christus in uns. Gott selbst legt Zeugnis ab durch seinen Geist, dass das Evangelium Wahrheit ist. So lasst uns unerschütterlich an dem Wort des Evangeliums festalten. Nicht der Welt Irrtum und nicht der Welt Lust sollen uns von ihm trennen. Wir bekennen und geloben: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege“ (Ps. 119,105). Amen.