Inhaltsverzeichnis

Jacoby, Carl Johann Hermann - Der erste Brief des Apostels Johannes in Predigten ausgelegt - XII. Die Bruderliebe des Christen.

1. Joh. 3, 10-18.

Daran wird es offenbar, welche die Kinder Gottes und die Kinder des Teufels sind. Wer nicht recht tut, der ist nicht von Gott, und wer nicht seinen Bruder lieb hat. Denn das ist die Botschaft, die ihr gehört habt von Anfang, dass wir uns untereinander lieben sollen. Nicht wie Kain, der von dem Argen war und erwürgte seinen Bruder. Und warum erwürgte er ihn? Dass seine Werke böse waren und seines Bruders gerecht. Verwundert euch nicht, meine Brüder, ob euch die Welt hasst. Wir wissen, dass wir aus dem Tode in das Leben gekommen sind; denn wir lieben die Brüder. Wer den Bruder nicht liebt, der bleibt im Tode. Wer seinen Bruder hasst, der ist ein Totschläger; und ihr wisst, dass ein Totschläger nicht hat das ewige Leben bei ihm bleibend. Daran haben wir erkannt die Liebe, dass er sein Leben für uns gelassen hat; und wir sollen auch das Leben für die Brüder lassen. Wenn aber jemand dieser Welt Güter hat und sieht seinen Bruder darben und schließt sein Herz vor ihm zu; wie bleibt die Liebe Gottes bei ihm? Meine Kindlein, lasst uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit.

Der Apostel Johannes ermahnt uns heute zur Bruderliebe. Sie ist die Erfüllung eines königlichen Gesetzes (Jak, 2,8). In dem Gebot der Liebe, der Gottesliebe und Bruderliebe, sind alle Gebote zusammengefasst. Wer sie bewährt, gehorcht jedem Gebote Gottes; wer gegen sie sündigt, überschreitet jedes. Die Liebe ist die Seele des Gesetzes. So kann uns die Mahnung des Apostels nicht befremden. Aber befremdlich erscheint es uns, dass er sich nicht darauf beschränkt, uns daran zu erinnern, dass die Bruderliebe der Quell ist, aus dem das Wirken des Christen entspringt, dass sie Weg und Ziel seiner Tätigkeit bildet, dass er uns vielmehr die mannigfaltigsten Beweggründe vergegenwärtigt, die uns zur Bruderliebe verpflichten, und dass er diese ernste, eindringende Mahnung an die christlichen Gemeinden richtet, welche durch die Kraft der Bruderliebe, die sie offenbarten, einen so tiefen Eindruck auf die sie umgebende heidnische Welt ausübten. Wie haben sie einander so lieb, so mussten die Heiden ausrufen, von der Macht der Bruderliebe überwältigt, welche die Christen zu Gliedern einer Familie vereinigte. Über unser Befremden schwindet, wenn wir in unser eignes Herz schauen und aus eigener schmerzlicher Erfahrung bekennen müssen, die Bruderliebe ist zwar eine Kraft, die wir in unserm Gemüte als die stärkste und mächtigste fühlen, aber sie ist doch zugleich eine Gesinnung und Richtung des Herzens, die fest zu halten, und der willig zu folgen unserm natürlichen Menschen völlig widerspricht. Das Gebot der Bruderliebe ist unendlich leicht und unendlich schwer, unendlich leicht für den geistlichen Menschen in uns, aber unendlich schwer für den natürlichen Menschen in uns. Und wir müssen deshalb, um es zu erfüllen, unseren geistlichen Menschen, den Christen in uns, stärken und kräftigen, damit er alle Hindernisse überwinde, durch welche das Fleisch, der natürliche Mensch, uns von der Bruderliebe zurückhalten will; wir müssen uns deshalb immer von neuem alle Beweggründe vor Augen halten, die uns zur Bruderliebe nötigen, müssen uns deshalb immer von neuem zurufen, die Bruderliebe ist unser Beruf, unsere Pflicht, und wir besitzen Kraft und Macht, sie zu bewähren.

Die Bruderliebe des Christen

sei daher heute Gegenstand unserer andächtigen Betrachtung. Sie ist darin begründet, dass wir Kinder Gottes sind; dass wir aus dem Tode in das Leben gekommen, dass wir Jünger und Nachfolger Jesu Christi sind, der aus Liebe zu uns in den Tod gegangen ist.

1.

Christen sind Kinder Gottes, und deshalb lieben sie die Brüder. Ein Kind Gottes ist ihm, dem Vater, ähnlich. Gott aber ist die Liebe. Wer die Brüder liebt, wie Gott seine Menschenkinder liebt, ist Gottes Kind. Die Kinder Gottes lieben die Brüder. Wen Gott liebt, lieben auch sie. Wie tief auch unser Bruder gesunken sei, wie entstellt in ihm das göttliche Ebenbild, er bleibt doch Gegenstand unserer Liebe. Deshalb ziehen die Boten des Evangeliums in die Welt hinaus, für Gott und sein Reich zu werben. Sie treten nicht bloß in die Mitte der Völker, welche Bildung, Wissenschaft und Kunst erworben haben, nach Indien, China, Japan; sie wenden sich auch zu den Armen am Geist, in deren Leben kaum ein Schimmer göttlichen Lichts gedrungen ist, bei denen fast alle Spuren der Erkenntnis göttlicher Wahrheit und göttlichen Rechts geschwunden sind. Die Entferntesten, Fremdesten, Ärmsten sind uns doch Nächste, Brüder, denn Gott liebt sie. Soweit Gottes Liebe reicht, soweit reicht auch unsere Liebe. Deshalb strecken wir die rettende Hand auch nach denen aus, die, obwohl sie mitten in der Christenheit wohnen, doch Jesum Christum, ihren Heiland, verloren haben; die ohne Gott, ohne Heiland leben, und, weil ihnen der Wegweiser durch die Erdenpilgerschaft zur ewigen Heimat fehlt, sich in der Welt verirrt haben. Wer Gott verloren hat, verliert sich selbst, verliert den Grund, auf dem er sicher stehen kann, den Halt, der seinen Wandel sichert, an dem er sich wieder aufrichtet, wenn er strauchelte. Ach, wieviel Verlorene unter uns, wieviel Gefallene, die sich nicht zu erheben vermögen! Aber die Bruderliebe sucht die Verlorenen und führt sie zur Heimat zurück, richtet die Gefallenen wieder auf!

Aber der Bruderliebe ist noch eine andre Aufgabe gestellt; leichter erscheint sie, und sie ist doch schwerer. Denn, wenn uns große Not, erschütterndes Elend entgegentritt, regt sich auch sofort die Barmherzigkeit in unserm Gemüt, wir können dem Drange zu helfen nicht widerstehen. Und das Bewusstsein des Berufs zu großem Werk hebt uns über viele Hindernisse fort. Die Größe der Aufgabe verleiht uns auch einen großen Sinn. Aber, wenn wir in eine unsrer Eigenart widerstrebende Umgebung gestellt sind, in den Verkehr mit Hausgenossen oder Berufsgenossen, wenn wir hier vielleicht täglich zu Unwillen gereizt werden, dann wird unsre Bruderliebe mannigfaltig und schwer auf die Probe gestellt, und wir erliegen der Versuchung so oft und so leicht. Wir haben vielleicht keinen Grund, über die unchristliche Gesinnung unserer Brüder oder Schwestern zu klagen, wir müssen es vielleicht anerkennen, dass sie nicht minder wie wir zu Gott aufschauen und auf sein Wort hören, und dennoch will unsere Bruderliebe so oft versagen. Es fehlt die natürliche Wahlverwandtschaft und die aus ihr entspringende Zuneigung, und die Bruderliebe ist zu schwach, diesen Mangel zu ersehen. Woher sonst soviel Unfriede, soviel Gleichgültigkeit, soviel Hartherzigkeit im Hause, unter Nachbaren, unter Berufsgenossen! Es fehlt die Bruderliebe, oder es fehlt doch der Bruderliebe die Kraft, die Wärme, das weite Herz. Man geht nebeneinander, aber wirkt nicht füreinander. Die Bruderliebe erschlafft, aber die Eigenliebe erstarkt. Ein jeder sucht das Seine, sieht in des Bruders Schaden den eignen Gewinn und in des Bruders Gewinn den eignen Schaden. Füreinander, so sollte die Losung lauten; wider einander, so lautet sie. Es fehlt die Bruderliebe, in der ein jeder des andern Last tragen sollte. Es fehlt die Bruderliebe, die sich an der Liebe Gottes entzündet. Lasst uns zu ihr immer aufschauen, damit die Flamme der Bruderliebe in uns nicht erlösche. Lasst uns immer vor Augen halten Gottes unendliche Liebe, die alle Menschenkinder umfasst, die sie alle dazu bestimmt hat, dass sie an der Erfahrung der Menschenliebe ihrer selbst, der Liebe Gottes, inne würden, und auch unser Herz wird von der Bruderliebe inniger ergriffen werden. Können wir hassen oder gleichgültig sein, wo Gott liebt? Wen der Vater liebt, müssen auch die Kinder lieben. Unser Herz darf nicht eng sein, wo Gottes Herz so unendlich weit ist. Und wir, die wir im Namen Jesu Christi verbunden sind, auf ihn getauft, in ihm gegründet durch Glaube und Hoffnung, die in Jesu Christo die Gotteskindschaft erworben haben, wir wollen uns lieben als Brüder im Herrn, als seine Jünger, als Glieder an seinem Leibe, als Genossen eines Hauses, als Erben einer zukünftigen Herrlichkeit. Wohl sehen wir die dunklen Flecken im Angesichte des Bruders, wohl wird es uns schwer, ihn zu tragen, aber sieht er nicht auch die dunklen Flecken in unserm Angesicht, und wird es ihm nicht auch schwer, uns zu tragen? Darum bleibe es unsere Losung: „Einer trage des andern Last“ (Gal. 6,2); darum wollen wir heute geloben: Wir wollen treu und eifrig in der Bruderliebe werden, wir wollen unsere Gotteskindschaft in der Bruderliebe offenbaren.

2.

Aber einen neuen Beweggrund zur Bruderliebe legt uns der Apostel an das Herz. Wir sind als Kinder Gottes aus dem Tode zum Leben gekommen und deshalb lieben wir die Brüder. Wer den Bruder nicht liebt, der bleibt im Tode. Liebe ist Leben, Leben ist Liebe. Ein Herz ohne Liebe ist ein totes, kaltes Herz. Leben und Liebe sind untrennbar verbunden. Die Kennzeichen des Lebens finden wir nur da, wo die Liebe waltet. Leben ist Bewegung, Entfaltung aller Kräfte, Wirken in der Gemeinschaft und für sie. Wie unser körperliches Leben sich nur durch Bewegung und Tätigkeit entwickelt, so auch unser geistiges Leben. Es ist ein allgemeines Naturgesetz, dass alles Leben in der Wechselwirkung des Gebens und Empfangens erhalten wird, aber in der Vereinzelung, im Alleinbleiben erstirbt. Das Weizenkorn offenbart nur seine Keimkraft, wenn es, in die Erde gesenkt, sich mit allen Stoffen und Kräften vereinigt, die hier wirken; bleibt es aber allein, so verharrt es im Tode, ohne Blüte und Frucht. So verfällt auch der Menschengeist dem Tode, wenn er allein bleibt, fern von der inneren Gemeinschaft der Brüder, und nur, wenn er hier gibt und empfängt, gewinnt und bewahrt er das Leben. Wer in der Arbeit und Tätigkeit nur sich und das Seine sucht, bleibt auch in der Gemeinschaft allein, ihm fehlt die Liebe und deshalb auch das Leben. Er hat den Schein des Lebens, aber nicht sein Wesen. Der innere Mensch verkümmert, Hand und Kopf arbeiten, aber das Herz nimmt an der Arbeit nicht teil. Sein Werk ist ein Knechtsdienst ohne innere Befriedigung, ohne Freudigkeit. Leben aber ist Freudigkeit. Wo Liebe, da ist auch Freudigkeit; wo aber die Liebe fehlt, herrscht Unzufriedenheit und Missmut. Nur, wenn wir die Brüder lieben, erfüllt Freudigkeit unser Gemüt, dann wird uns auch die schwache Arbeit leicht, denn wir legen unser Herz in sie hinein. Unser Tun wird so ein Liebesdienst, der die Brüder in ihrem zeitlichen oder ewigen Leben fördern will, und weil wir Liebe säen, ernten wir auch Liebe. Eine neue Quelle der Freudigkeit! Denn Leben ist nicht bloß Geben, es ist auch Empfangen. Im Geben und Empfangen offenbart sich das Leben. Wer in Liebe den Brüdern sich selbst, sein Herz, gibt, empfängt auch von den Brüdern das Beste, was sie geben können, ihr Herz, ihr Selbst. Und das ist aller Freudigkeit tiefster Grund, Liebe geben, Liebe empfangen, und in Liebe, gebend und empfangend, den Genuss des Lebens haben. Arme Menschen, denen die Liebe fehlt, ihnen fehlt das Leben! Aber wir sind aus dem Tode in das Leben gekommen. Von Natur sind wir tot, denn wir suchen nur das Unsere. Der natürliche Mensch folgt der Losung: Im Kampfe um das Dasein suche den Bruder zu überflügeln; wirf ihn nieder, stoße ihn zurück, wenn er dich auf dem Wege zum irdischen Glück hindert. Der natürliche Mensch hasst seinen Bruder, er sieht in ihm den störenden Mitbewerber um die Preise des zeitlichen Lebens. Aber vom Hass zum Totschlag führt eine grade Linie. Der Hass ist der Anfang, der Totschlag das Ende. Wir aber sind aus dem Tode zum Leben gekommen, denn der Herr Jesus Christus hat uns, die wir tot waren, lebendig gemacht. In Christus leben wir, denn Christus ist das Leben, weil er die Liebe ist. Das Leben in der Liebe, das Gottes Leben ist, es ist in Christus erschienen. Er suchte nicht das Seine, er blieb nicht allein, er war das Weizenkorn, das erstarb, um viele Frucht zu bringen. Sein Leben gehörte dem Vater und den Brüdern. Im Gehorsam der Liebe opferte er sich selbst. Und deshalb ist er der ewig Selige, der Quell aller Freude und alles Friedens. Heilige Freude, heiliger Friede leuchten auf seinem Angesicht und verklären es auch im tiefsten Schmerz. Und dieser Friede und diese Freude schwinden nicht, sie werden umwölkt in der Nacht des Leidens, in der Finsternis des Todes, aber es bleibt ihr Quell, die unendliche Liebe zum Vater und zu den Brüdern. Er versiegt nicht. Deshalb offenbart sich auch der sterbende Heiland als Fürsten des Lebens. Da sein zeitliches Leben endet, wird sein Ewigkeitsleben vollendet; da er den Tod des Missetäters stirbt, wird er zum König des Reiches Gottes erhöht. Christus ist die Liebe und das Leben. In ihm sind wir aus dem Tode zum Leben gekommen, in ihm bewahren wir das Leben und überwinden die Versuchungen der Sünde, die zum Tode führen. In ihm gewinnen wir die Kraft der Liebe und die Kunst der Liebe, denn Leben ist Liebe.

3.

Unsre Bruderliebe sucht und findet bei dem Heiland die Kraft, aus der sie schöpft, aber auch zugleich das Vorbild, dem sie folgt. Unsre Liebe zu den Brüdern soll der Liebe Christi zu uns gleich werden. Gleich in ihrer Größe! Jesus Christus hat sein Leben für die Brüder gelassen, und wir sollen auch das Leben für die Brüder lassen. Eine große und schwere Aufgabe, aber doch nicht unerreichbar! Selbst ein Mensch, der dem Herrn fern ist, wagt wohl sein Leben, um einen Bruder zu retten: er wirft sich in das Wasser, um den Gefährdeten vor dem Tode zu schützen, er eilt in das brennende Haus, um das Leben des Bruders den Flammen zu entreißen. Und wie mancher Beruf fordert, das eigne Leben der Gefahr des Todes preiszugeben, um die Brüder zu retten, hier ihre Freiheit und Ehre, Hab und Gut, dort ihr leibliches Leben. Der Soldat zieht in den Krieg, für Volk und Vaterland zu streiten, und, wenn Gott es will, den Heldentot zu sterben. Der Arzt tritt in jedes Haus, in dem ein Kranker seiner bedarf, und achtet es nicht, dass die Krankheit sein eignes Leben bedroht. Viele mögen nur der Pflicht folgen, aber viele treibt zugleich die Liebe. In dieser Berufstreue, die auch das eigne Leben nicht schont, in diesem Eifer selbstverleugnender Treue erkennen wir die Spuren des göttlichen Ebenbildes, die auch die Macht der Sünde nicht zerstören konnte.

Aber, meine Lieben, täuschen wir uns nicht, es ist doch ein neues Gebot, das wir hier aus dem Munde des Apostels vernehmen. Es ist wahr, auch ein Christo und Gott ferner Mensch kann in Stunden hoher Begeisterung oder vom Ernst des Pflichtgefühls durchdrungen sein Leben für die Brüder wagen, und seines Lebens Grundrichtung entbehrt doch der Liebe. Für das Vaterland zu sterben, galt im heidnischen Griechenland und Rom als hoher Ruhm, und doch herrschte hier der Geist der Selbstsucht, der Grausamkeit und Härte. Ein trauriges Geschick erwartete den besiegten Feind, ein schwerer Druck lastete auf den Sklaven. Denn in Freie, die herrschten, und in Sklaven, die der Willkür der Herren preisgegeben waren, zerfiel die bürgerliche Gesellschaft. Es ist ein neues Gebot, das wir hier vernehmen, das Gebot der Bruderliebe, die auch das eigne Leben nicht schont, die nicht entflammt wird von dem Gedanken des Ruhms, die nicht bloß bewegt wird vom Gesetz des Berufs, sondern die nur sich selbst, dem eignen Drange, gehorcht. Diese Liebe spricht: Ich gehöre nicht mir, sondern meinem Gott und meinen Brüdern an, diese Liebe weiht das ganze Leben zum Opferdienst, aber diese Liebe ist auch nicht auf dem Boden dieser Erde erwachsen, sondern ist vom Himmel zur Erde herniedergestiegen. Ihr Quell ist Jesus Christus, der für uns in den Tod gegangen, ihr Zeichen das Kreuz. Das Kreuz Christi birgt das Geheimnis des Glaubens und das Geheimnis der Liebe in sich. Es ruft dem Glauben zu: Hier ist dein Trost und dein Frieden, und zu der Liebe spricht es: Hier ist deine Kraft und deine Stärke. Es spricht zum Glauben: Für dich, und zur Liebe: Mir nach! In Christo können und sollen wir lieben, wie er geliebt hat, treu bis in den Tod, unsere Liebe soll zur Größe seiner Liebe erhöht werden. Aber unsere Liebe zu den Brüdern soll auch darin der Liebe Christi gleich werden, dass sie aus denselben Quellen entspringt. Christi Liebe war barmherzige Liebe. Er ist gekommen, das Verlorene zu suchen, der Elenden sich anzunehmen. Er gab aus seinem himmlischen Reichtum, damit unsere Armut von uns genommen werde. Jede Not, leibliche und geistige, bewegt sein Herz, auch unausgesprochene Bitte erhört er. Tote erweckt er, Kranke heilt er, Hungernde speist er. Seine Liebe war Barmherzigkeit. So soll auch unsere Liebe sein. Lasst uns geben von dem, was wir haben, himmlische und irdische Gabe, ein jeder nach dem Maß der Güter, die ihm Gott geschenkt hat; lasst uns geben, nicht unwillig und mürrisch, sondern in barmherziger Liebe, die das Herz dem Bruder auftut, die in der Gabe sich selbst gibt, denn einen fröhlichen Geber hat Gott lieb (2. Kor. 9, 7)!

Meine Teuren! Es ist ein hohes Gebot, das uns heute der Apostel zugerufen hat. An der Erfüllung desselben erkennt Gott die Seinen. In der Bruderliebe offenbart und bewährt sich der Glaube. Schwindet in uns die Bruderliebe, dann auch die Liebe zu Gott, dann auch der Glaube. Der Tod der Bruderliebe ist auch der Tod des Glaubens. Aber in der Liebe zu den Brüdern wächst auch die Liebe zu Gott, wächst auch der Glaube. Aber täuschen wir uns nicht über das Wesen der Bruderliebe! Sie besteht nicht in erhabenen Gefühlen und hohen Worten, nicht im Aufflammen einer edlen Begeisterung, die bald der Erschlaffung weicht; sie ist nur wahr, wenn sie die Grundrichtung des Herzens, die Seele unsers Wandels geworden ist, wenn sie in uns bleibt und unser Leben in ein Wirken der Liebe verwandelt. Diese Liebe kennt die Welt nicht, sie erscheint ihr als Schwärmerei. Aber in den Augen Gottes ist sie das Salz, das die Welt erhält. Die Liebe Gottes hat die Welt erschaffen und trägt sie. In der von ihr entzündeten Bruderliebe der Kinder Gottes wirkt sie fort. So lebt die Welt von der Liebe. Ohne Liebe Tod. Alles Leben aus der Liebe. Liebe ist Leben. Amen.