Text: Matth. 19, 27 - 20, 16.
Da antwortete Petrus, und sprach zu ihm: Siehe, wir haben alles verlassen, und sind dir nachgefolget; was wird uns dafür? JEsus aber sprach zu ihnen: Wahrlich, Ich sage euch, daß ihr, die ihr mir seid nachgefolget, in der Wiedergeburt, da des Menschen Sohn wird sitzen auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit, werdet Ihr auch sitzen auf zwölf Stühlen, und richten die zwölf Geschlechter Israel. Und wer verläßt Häuser, oder Brüder, oder Schwestern, oder Vater, oder Mutter, oder Weib, oder Kinder, oder Aecker, um meines Namens willen, der wird es hundertfältig nehmen, und das ewige Leben ererben. Aber Viele, die da sind die Ersten, werden die Letzten, und die Letzten werden die Ersten seyn. Das Himmelreich ist gleich einem Hausvater, der am Morgen ausging, Arbeiter zu miethen in seinen Weinberg. Und da er mit den Arbeitern eins ward um einen Groschen zum Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg. Und gieng aus um die dritte Stunde, und sahe andere an dem Markt müssig stehen, und sprach zu ihnen: Gehet Ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist. Und sie giengen hin. Abermal gieng er aus um die sechste und neunte Stunde, und that gleich also. Um die eilfte Stunde aber gieng er aus, und fand andere müßig stehen, und sprach zu ihnen: Was stehet ihr hier den ganzen Tag müßig? Sie sprachen zu ihm: Es hat uns Niemand gedinget. Er sprach zu ihnen: Gehet Ihr auch hin in den Weinberg: und was recht seyn wird, soll euch werden. Da es nun Abend ward, sprach der HErr des Weinbergs zu seinem Schaffner: Rufe die Arbeiter, und gib ihnen den Lohn; und hebe an an den Letzten, bis zu den Ersten. Da kamen, die um die eilfte Stunde gedinget waren, und empfing ein jeglicher seinen Groschen. Da aber die Ersten kamen, meineten sie, sie würden mehr empfangen; und sie empfingen auch ein jeglicher seinen Groschen, Und da sie den empfingen, murreten sie wider den Hausvater, und sprachen: Diese Letzten haben nur Eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleich gemacht, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben. Er antwortete aber, und sagte zu Einem unter ihnen: Mein Freund, ich thue dir nicht unrecht. Bist du nicht mit mir eins geworden um einen Groschen? Nimm was dein ist, und gehe hin. Ich will aber diesem Letzten geben, gleichwie dir. Oder habe ich nicht Macht zu thun, was ich will, mit dem Meinen? Eichest du darum scheel, daß Ich so gütig bin? Also werden die Letzten die Ersten, und die Ersten die Letzten seyn. Denn Viele sind berufen, aber Wenige sind auserwählet.
Am heutigen Sonntag Septuagesimä vor 109 Jahren, nämlich im Jahr 1738 war unsere Stadt Stuttgart in großer geistiger Bewegung. Es war derjenige Sonntag, welcher der am Dienstag darauf folgenden Hinrichtung des bereits zum Tode verurtheilten, in Stadt und Land so übel berüchtigten Jud Süß Oppenheimer voranging. Die Kirchen waren an jenem Sonntage alle gedrängt voll und von allen Kanzeln herab erschollen Worte des Ernstes und der Buße, der Zucht und Vermahnung an die christliche Gemeinde, denn die Geistlichen sahen sich für verpflichtet an, sie zu unterweisen, wie sie einen so außerordentlichen Fall für ihr Herz und Leben zu betrachten und anzuwenden haben. Die Morgenpredigt, die in dieser Kirche, von dieser Kanzel herab an jenem Tage von dem geistgesalbten Stadtpfarrer zu St. Leonhard G. C. Rieger gehalten wurde, ist nachher im Druck ausgegangen und ist, obwohl nur ein gedruckter und todter Buchstabe, für die Kenner seiner zahlreichen Schriften ein neuer Beleg, wie dieser Mann vor tausend Anderen es verstanden hat, die zarteste, evangelische, priesterliche Milde mit dem nachdrucksvollsten und durchschlagendsten Ernste zu verbinden, also, daß man es noch jetzt dem gedruckten Worte abfühlen kann, wie es als ein gesprochenes Mark und Bein, Seele und Geist durchschnitten und durchschüttert haben muß. Sein Text war, wie natürlich, unser heutiges Evangelium, sein Thema aber der Satz: „gute Arbeit gibt herrlichen Lohn.“ Die Ausführung dieses Thema's kam jedoch nicht zu ihrem vollen Recht, indem er bald zu dem außerordentlichen Gegenstand selbst überging, der damals alle Herzen erfüllte und über den er dann goldene Worte zur versammelten Gemeinde gesprochen, um sie von allem unnützen Plaudern und voreiligen Richten und Urtheilen hinweg auf den alleingültigen, göttlichen Standpunkt zu erheben, auf dem sie allein ein rechtes Gericht zu richten im Stande wären. Deßwegen hob er mitten in der Predigt für die Seele des Armen so machtvoll zu beten an; ein Gebet, das zu den gesalbtesten gehört, die mir bekannt sind. „Meinet ihr,“ heißt es in jener Predigt, „es sey mit dem Plaudern, Urtheilen, Affektmachen rc. Alles gethan und ausgerichtet? Es gehört noch mehr dazu. Rührt Euch nicht die Noth dieses armen Mannes? thut's Euch nicht auch wehe, daß er die Mittel zu seinem Seelenheil, die ihm seit 8 Wochen mehrmals angeboten worden sind, bisher verstoßen hat? Wie Viele sind wohl unter Euch, die den Allmächtigen angerufen haben, daß Er um seines Sohnes willen diese Seele dem Satan nicht zur Beute gebe? Habt ihr Alle daran gedacht, für diese Seele, wie man sagt, ein Vater unser zu beten, das heißt, in Absicht auf ihn das Gebet Jesu Christi zu beten, daß durch ihn der Name Gottes geheiligt werde, daß durch ihn sein Reich komme, daß Sein Wille, der nicht will, daß Jemand verloren werde, sondern das ewige Leben habe, geschehe? Sehet, das ist der Wille Gottes, daß wir für diesen Menschen beten:
Ach, treuer und wahrhaftiger Gott, Du hast verheißen: um den Abend soll es Licht werden: Siehe, dieser Mann hat in der Finsterniß gewandelt sein Lebenlang und der Gott dieser Welt hält seine Augen verblendet, daß er nicht sehen will und kann das helle Licht, das erschienen ist im Angesichte Jesu Christi. Ach, so gedenke Du dieses Mannes, laß es Licht werden um den Abend! Du HErr seines Lebens mögest Dich über ihn erbarmen!
O ewiges Licht, geh du herein,
Gib durch ein kleines Ritzchen seiner Seel einen Schein,
Leucht' ihm doch noch mitten in seiner Nacht
Und ihn zum Kind des Lichtes mach'!
Kyrie eleyson.
Ach HErr erbarme Dich über ihn! HErr Gott, der Welt Heiland erbarme Dich über ihn! HErr Gott, heiliger Geist, erbarme Dich über ihn und sei ihm gnädig, jetzt und in seiner letzten Todesstunde, Amen. So fahret fort daheim, denn solche Liebe sind wir einem Juden um eines einigen Juden willen, um Jesu Christi unseres hochgelobten Heilandes willen, schuldig.“
Meine Lieben! Die Zuhörer, die sich an jenem Sonntag Septuagesimä in diesen Kirchenhallen drängten und auf das Wort der Predigt horchten, sind längst allesammt vom Schauplatz dieser Welt abgetreten, der arme Mensch hat seine Schuld mit dem Tode gebüßt, und der Prediger selbst, der ihre Gemüther fesselte und so gewaltig und doch zugleich so evangelisch mild an ihre Herzen pochte, ist 5 Jahre darauf zur Freude seines HErrn eingegangen, und wie viele Prediger und Zuhörer sind seither durch die Pforten dieser Kirche herein und dann wieder durch sie hinaus den Weg alles Fleisches gegangen; denn die Menschen kommen und gehen nach dem nun einmal herkömmlichen Lauf; Generationen tauchen auf und sinken unter nach der ihnen verliehenen Zeit; Städte und Königreiche blühen und bauen sich empor und stürzen dann wieder zusammen in Staub und Schutt und Trümmer nach der von Gott gesetzten unabänderlichen Ordnung; nur das Wort des lebendigen Gottes bleibt und hält Stand; dieses Wort ist, wie Christus, das ewige Wort selbst, gestern und heute und dasselbe in Ewigkeit. Heil darum jedem der das Wort hört und seinem Rufe in des HErrn Weinberg folgt, und zu der Arbeit, die es empfiehlt, sich anschickt; er erfährt's dann am Ende mit der That: gute Arbeit gibt herrlichen Lohn. Ich kann nicht umhin, dieses auch zum heutigen Thema zu machen; denn es bietet einen solchen Reichthum dar, daß wir Mühe haben werden, uns auch nur das Nächste zuzueignen.
Wir sprechen daher über die Worte:
Gute Arbeit bringt herrlichen Lohn.
HErr, unser Heiland! Du hast uns Alle berufen zu guten Arbeitern; denn arbeiten zu dürfen in Deinem Weinberge und in Deinem Reiche, das ist ja etwas Gutes, etwas Seliges. O räume alle Trägheit und alle Schläfrigkeit hinweg, daß wir fleißig werden, unsern Beruf und Erwählung fest zu machen; denn Du willst ja nur diejenigen krönen in Deinem himmlischen Reiche mit Gnade und Barmherzigkeit, die mit Geduld in guten Werken getrachtet haben nach dem ewigen Leben. Amen.
Geliebte in Jesu Christo! Ein jedes der Gleichnisse, die über die holdseligen Lippen des HErrn geflossen sind, hat die Bestimmung, eine eigenthümliche, beachtenswerthe Seite am Reiche Gottes hervorzuheben. So auch das Gleichniß von den Arbeitern im Weinberge, das den Hauptinhalt unseres heutigen Evangeliums bildet. Wenn wir in der Parabel vom hochzeitlichen Königsmahle zu den reichen Gütern des Hauses Gottes, zu den Erquickungen und Segnungen des Evangeliums eingeladen werden, die schon in dieser Welt umsonst und unverdient in Hülle und Fülle von uns genossen und gekostet werden sollen, so tritt uns in unserer heutigen Gleichnißrede die thätige Seite des Christenthums mit nachdrucksvoller Bestimmtheit entgegen. Nicht zu einem Wohl, sondern zur Arbeit, zur Anstrengung, zu des Tages Last und Hitze werden wir aufgefordert. Keinen kann der HErr des Weinbergs müßig und unthätig am Markte stehen sehen; wen Er so trifft, den schickt Er zur Arbeit hin. Und zu welcher Arbeit? zur Arbeit in einem Weinberge; also zu einer mühsamen, anstrengenden, mit des Tages Last und Hitze verbundenen, namentlich aber zu einer andauernden und fortgehenden Arbeit. Denn das ist das Eigenthümliche des Weinbaus, er fordert Jahr aus Jahr ein eine unverdrossene Hand. Der Ackersmann hat auch ein hartes und saures Geschäft; wenn er aber den Boden umgebrochen und gepflügt, wenn er ihn bedüngt und eingesät hat, so hat er das Seinige gethan und kann zusehen bis zur Erndte. Der Weingärtner nicht also. Bei ihm gibt's Arbeit im Sommer und im Winter, im Frühling und im Herbst; das Mauern und das Hacken, das Felgen und das Reuten, das Erdetragen und das Düngen, das Beschneiden und das Binden, das Pfählestecken und Pfähleausziehen, und wie die sonstigen Arbeiten alle heißen mögen, gehen das ganze Jahr hindurch fort. Ein jeder Monat bringt eine neue Arbeit, und zum Rasten und zum Ruhen gibt's für einen pflichtgetreuen Weingärtner eigentlich niemals eine Zeit.
Was will also der Heiland mit diesem Gleichniß uns anders sagen, als daß das Reich Gottes und seine Nachfolge dieselbe Tätigkeit, Rührigkeit, dieselbe Mühe und Anstrengung, dieselbe Ausdauer und Unverdrossenheit im Geist fordert, wie der Weinbau im Leiblichen, daß die Lebensaufgabe, die der HErr an uns selbst und an Andere gestellt hat, so hehr und groß, daß das Werk unserer Wiedergeburt und Erneurung so weit umfassend, die Arbeit an der wahrhaftigen Besserung und Heiligung unseres Herzens und unseres Lebens so andauernd und so unerläßlich, das Ziel, zu dem wir hinankommen sollen, so hoch und so erhaben ist, daß wir allen Fleiß anzuwenden haben, um nur zum kleinsten Theil diesen Anforderungen nachzukommen und zu genügen, und daß an ein Ruhen und Rasten, ehe der HErr selber uns Feierabend machen heißt, nimmermehr zu denken ist. Denn es kostet etwas, bis das steinigte, zerklüftete, verwüstete, überwucherte Bergland unseres verderbten natürlichen Herzens zu einem wohlgeordneten und wohlumschirmten Weingelände umgeformt, und vorerst nur von den gröbsten Auswüchsen der alten Natur gereinigt und für etwas Besseres urbar gemacht wird; es kostet etwas, bis alle die hohen Bäume, die sich erheben wider die Erkenntniß des HErrn, umgehauen, bis die Knorren und Storren so fest eingewurzelter sündlicher Gewohnheiten und Weltgrundsätze ausgerodet, bis die weit verzweigten Fasern und Wurzeln der Selbstsucht und Eigenliebe aufgesucht und ausgerissen sind, und dagegen jener edle, wahrhaftige Weinstock der Gerechtigkeit und des Lebens, Jesus Christus selber, in den Mittelpunkt des Herzens gepflanzt wird, damit er von diesem aus sich ausbreiten und in unzähligen fruchtbaren Ranken und Schossen das innere und äussere Leben überdecken und überschatten kann; es kostet etwas, bis ein solches, im Allgemeinen allerdings erneuertes und gebessertes Herzensfeld in gehörigem Stand erhalten, umzäunt und ummauert, umschirmt und verwahrt, umgraben und bedüngt wird, und die Reben desselben gereinigt und geheftet, gefelgt und beschnitten werden, und das Ganze so behandelt wird, daß man daran einen Fleiß in guten Werken, einen Ernst in der Heiligung, einen Eifer in der innerlichen Zucht, ein Wachsthum in der Gnade und Erkenntniß Jesu Christi, ein Zunehmen am inwendigen Menschen, ein Heranreifen zum vollkommenen Mannesalter in Christo wahrnehmen kann, und man beim Anblick eines Menschen den Eindruck bekommt: hier ist kein ausgebrannter Krater, der zu viel Feuer und Schwefel ausgeworfen, nun aber mit einer so tiefen Kruste und Lava und Asche bedeckt ist, daß keine Gottespflanzung mehr auf ihm erblühen kann; hier ist kein eisiger Gletscher, in dessen kalter, selbstsüchtiger Schneeregion selbst der linde und warme Hauch der Liebe Christi ersterben und erstarren muß; hier ist keine gestrüppereiche, bunt verwachsene Waldeshöhe, wo höchstens die wildwachsenden Kräuter einer natürlichen Gutmüthigkeit und Weltehrbarkeit noch fortkommen, daneben aber auch die Schlupfwinkel von allerhand wilden Thieren, die geheimen oder verborgenen Behausungen so mancher ungezügelten Leidenschaften und Lüste sich befinden; nein, wo man vielmehr den Eindruck bekommt: hier ist heiliges Land, hier ist ein Weinberg des HErrn, hier eine Pflanzung seiner Hand, hier eine Bergeshöhe, die der HErr Jesus selbst zur Offenbarungsstätte seiner suchenden und erneuernden Liebe erkoren hat, eine Höhe, wo zwar nicht die Lilie einer engelreinen Geistlichkeit und Vollkommenheit erblüht und fortkommt, und dagegen hie und da immer noch die Disteln und Dornen der alten Natur zum Vorschein kommen, wo aber eine Gottespflanzung vorhanden ist, der man es ansteht, daß die Hacke und der Karst zeitlicher Zucht gehandhabt und das Feld dem zur Freude und zum Wohlgefallen bestellt wird, der gesprochen hat: ich habe euch erwählt, daß ihr Frucht bringet und eure Frucht bleibe in's ewige Leben (Joh. 15, 16.).
Fort also mit allem geistlichen Müßiggang, mit aller Schläfrigkeit und Trägheit, die da immer nur meint, ruhig die Hände in den Schooß lege n und im faulen, stumpfen Welt- und Alltags-Leben fortträumen zu dürfen; fort mit jenem gefährlichen Irrwahn, als ob man das wahre Christenthum neben tausenderlei anderen Sachen nur als eine Nebensache behandeln, nur als einen kleinen Nothbehelf für die Todesstunde abmachen könne, ohne sich selber Gewalt anthun, seinen Willen brechen, sein eigenes Ich verläugnen, und mit Furcht und Zittern seine Seligkeit schaffen zu müssen; fort mit jener Fleischeszärtlichkeit und Geistesweichlichkeit, die nur immer sich selber schonen und Mitleiden mit sich selber haben will, niemals aber wagt, mit Leib und Seele sich daran zu strecken und ein völliges Eigenthum Jesu Christi zu werden. Das ist ein schlechter Weingärtner, der im Sommer von der Hitze, im Winter vom Frost von der Arbeit sich verscheuchen läßt; und so ist es ein schlechter Arbeiter im Weinberge des HErrn, der den Frost der Heiligung nicht kosten, das Joch und die Last Christi nicht tragen will, der da meint, wenn die Hitze der Anfechtung kommt, es widerfahre ihm etwas Seltsames. Wie der General, bei dem sich ein Rekrut über die Beschwerden des Kriegs und über die Reisestrapazen beklagte, antwortete, dafür ist man Soldat, - so hier: dafür ist man ein Christ, ein Arbeiter im Weinberg des HErrn. Denn es ist und bleibt wahr, was der selige Hiller gesungen hat:
Wer da kämpft und kämpfet schlecht,
Der versäumt sein Kronenrecht.
Fleiß thut uns also noth bei der geistlichen Arbeit, die uns aufgetragen und verordnet ist. Dieß geht nicht bloß aus der Arbeit selbst hervor, zu der wir berufen sind, sondern auch aus der Art und Weise, wie der HErr uns zu dieser Arbeit ruft, aus der dringenden, wiederholten und unermüdeten Einladung, die der HErr des Weinbergs zur Arbeit in demselben an Alle, die er findet, ergehen läßt. Daß es dem HErrn des Weinbergs hiebei nicht sowohl um seinen eigenen Nutzen, sondern hauptsächlich um die Arbeiter und ihre Beglückung zu thun ist, geht aus der ganzen Haltung des Gleichnisses hervor. Denn sonst würde er sich nicht einmal über das Andere in eigener Person auf den Weg machen, und bei den Müßigen seine Ueberredungskunst anwenden, auch würde er sonst gewiß nicht erst Abends 5 Uhr noch einen Theil der Weingärtner zur Arbeit weisen, da doch vermuthlicher Maßen nicht mehr viel Ersprießliches zu Stande kommen konnte. Man sieht, es ist ihm eigentlich nicht um den Nutzen der Arbeit, sondern um das Wohl der Arbeiter zu thun. Hierauf zielt auch die Mühe, die er sich gibt, zu den verschiedensten Zeiten des Tages, Morgens 6 Uhr, Mittags 12 und 3 Uhr und dann noch Abends 5 Uhr, auf dem Werbeplatz sich einzustellen, und jeden, den er bekommen kann, in seinen Dienst zu ziehen. Was Anderes will damit der Heiland abbilden, als die unermüdete Treue und Sorgsamkeit seines himmlischen Vaters, zu suchen und zu retten, zu rufen und zu laden, wer nur von den Menschenkindern immer ein offenes Ohr und eine herzliche Willigkeit bei sich finden läßt.
Diese Treue und Sorgfalt offenbart sich schon der Menschheit im Großen und Ganzen gegenüber, indem der lange, tausendjährige Tag der Weltgeschichte seine besonderen Stunden und Entwicklungs-Zeiten hat, in denen einzelnen Völkern und Nationen, ganzen Völkern und Welttheilen die Einladung, in sein Reich einzutreten, zu Theil wird. Denn auch der große Welttag hat seine Stunden, und der Zeiger auf der großen Thurmuhr der Zeiten schreitet vorwärts, obgleich der Zeitraum von 10, 20, 100 Jahren oft kaum bemerkbar ist, indem kein besonderer Fortschritt darin sich ankündigt. In dieser Beziehung war das Volk Israel früher daran, als die Heiden, indem ihnen in ihrem Ahnherrn Abraham schon in der Frühstunde des Welttages die Gnade zu Theil wurde, das erwählte und auserkorene Volk des Eigenthums zu werden, während die Heiden erst um Mittag, in der Mitte der Zeiten, während die Sonne bei der Erscheinung Christi im Zenith stand, zur Theilnahme am Reiche Gottes berufen wurden. Der Sieg des Christenthums im Abendlande und die Einpflanzung desselben in die Stämme der durch die Völker - Wanderung heranfluthenden neuen Generationen war auch eine solche Weltstunde. Die Reformationszeit vor 300 Jahren war auch eine solche Weltstunde. Auch unsere Zeit scheint allen Anzeichen nach eine werden zu wollen, vielleicht sogar eine Abendstunde, wo wir alle Ursache haben, zu beten und zu rufen:
Ach, bleib bei uns HErr Jesu Christ,
Weil es nun Abend worden ist,
Dein göttlich Wort, das helle Licht,
Laß ja bei uns verlöschen nicht.
In dieser letzten bösen Zeit
Verleih uns HErr Beständigkeit,
Daß wir Dein Wort und Sacrament
Rein behalten bis an unser End!
Kann man es doch mit Händen greifen, daß sich der HErr in unserer so höchst bedenklichen und ernsten Zeit auf eine sehr merkliche Weise einmal wieder aufgemacht hat, um in Gerechtigkeit und Gericht, so wie in Gnade, Langmuth und Barmherzigkeit über den Markt unserer Gesammtzustände zu schreiten, um die Müßigen zur Arbeit, die Leichtsinnigen zur Ernsthaftigkeit, die Schwätzer zur Einkehr, die Staatsmänner zum Nachdenken, die Schwindelköpfe zur Besinnung, die Männer der materiellen Interessen zum Eingeständniß ihrer Unmacht, die Kirchenglieder zum alten Glauben und zum alten Bekenntniß, alle aber insgesammt zur Buße zurückzuführen; wir sollen uns beugen unter die gewaltige Hand Gottes, und in schmerzlicher Reue über unsere vielen und schweren Sünden Leid tragen: die Nationen über ihre Nationalsünden, die Höfe über ihre Hof-Sünden, die Regierungen über ihre Regierungs-Sünden, die Unterthanen über ihre Unterthanen-Sünden, die Kirchen über ihre Kirchen-Sünden, die Städte über ihre Stadtsünden, die Dörfer über ihre Dorf-Sünden, die Stände über ihre Standes-Sünden, die Familien über ihre Familien-Sünden, die Herzen über ihre Herzens-Sünden, damit doch nicht aus den Geburts-Wehen unserer Zeit das Kind des Verderbens, sondern ein Gnadenkind geboren werde, über dem man sagen kann: es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von euch weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HErr euer Erbarmer (Jes. 54, 10.).
Jedoch nicht bloß im Großen und Allgemeinen offenbart sich die suchende, sorgsame Treue und Sorgfalt unseres Gottes und Heilandes, sie erstreckt sich auch auf den Einzelnen. Denn Er will nicht Eine Seele, die Er erkauft hat, verloren gehen lassen, denn Er ruft, bittet und beschwört: laß dich versöhnen mit Gott! die Gnadensonne breitet über ein Jedes einen hellen Tag aus, denn wir sind unter derselben geboren, getauft, erzogen, und wir dürfen dieselbe, auch wenn wir nicht in der Buße stehen, genießen, weil sie uns verschont. Aber es hat auch ein jeder Einzelne seine besonderen Gnaden-Stunden, wo außer und neben der immer fortgehenden Einladung durch Wort und Sacramente der HErr, um mich so auszudrücken, in Person vor ihn hintritt, bald mit Liebe, bald mit Leiden ihn heimsucht, bald durch die Vorwürfe seines Gewissens spricht: warum stehest du schon so lange, den ganzen Tag müßig, und ihn zur Folgsamkeit vermögen will. Solche Gnadenstunden, wo wir besonders auf unser Seelenheil aufmerksam gemacht und zu Ihm hingezogen werden, treffen manche Menschen schon am Morgen ihres Lebens, Manche am Mittag, wieder Andere erst am Abend. Solche Gnadenstunden kommen einmal, zweimal, dreimal, zuweilen auch vier und fünfmal; wähne aber nicht, wenn du einmal eine solche Gnadenstunde von dir gewiesen hast, so müssen dir weitere Gnadenstunden kommen, wo dir der Durchbruch aus der Finsterniß zum Licht noch mehr erleichtert wird, wie er einem Paulus erleichtert wurde in einer besondern Gnadenstunde, von der er sagt: es gefiel Gott, seinen Sohn in mir zu offenbaren (Gal. l, 15.). Im Gegentheil: gerade Paulus hat gleich die erste große Gnadenstunde nicht versäumt; er sagt dort von sich: da es Gott wohlgefiel, seinen Sohn mir zu offenbarer da fuhr ich zu, und besprach mich nicht mit Fleisch und Blut. Man kann Keinem eine solche Gnadenstunde absprechen, aber man kann auch Keinem eine solche garantieren. Heute ist die angenehme Zeit, heute ist der Tag des Heils! Denn der HErr bittet und beschwört euch, - Er bittet und beschwört euch heute, auch hier durch mich: lasset euch versöhnen mit Gott.
Ach, ich möchte einem jeden unter uns, der noch nicht zu den Arbeitern im Weinberge Christi gehört, auch meine Hand auf die Brust legen und sagen, wie jener Mönch zu einem Kaiser (Otto III.), welcher ihn um eine Gnade bitten hieß, diesen bat: „Kaiser, sorget für eure unsterbliche Seele! Gold und Silber brauche ich nicht, aber sorgt für eure unsterbliche Seele!“ O es ist so wehmüthig für einen Diener des göttlichen Worts, wenn er in eine so große Gemeinde hineinsieht und wahrnimmt, wie Manche, die schon am Morgen ihres Lebens berufen wurden, noch jetzt am Markte müßig stehen, wenn er sie sieht am Plaudermarkt, und wie sie die besten Eindrücke dadurch vergessen! Es ist so. wehmüthig zu sehen, wie Menschen, die schon am Mittag ihres Lebens angekommen sind, immer noch müßig stehen und eine Stunde der edlen Tageszeit nach der andern verstreichen lassen, ohne daß sie vom HErrn Arbeit annehmen möchten. Das Wehmüthigste aber ist es, Seelen sogar am Abend ihres Lebens immer noch müßig stehen zu sehen. Viele hat der HErr neben ihnen schon vom Markt des Lebens gerufen; sie stehen jetzt einsamer; bei diesem oder jenem ihrer Bekannten und vielleicht ihrer Verwandten ist's dem HErrn gelungen. Nur sie blieben unschlüssig, gleichgültig, taub. Da thut es überall sehr noth, zu bitten und zu rufen:
Wach auf, o Mensch, vom Sündenschlaf,
Ermunt're dich, verirrtes Schaf
Und, beß're bald dein Leben;
Wach auf! denn es ist hohe Zeit,
Dich übereilt die Ewigkeit,
Dir deinen Lohn zu geben.
Vielleicht ist heut' dein letzter Tag;
Wer weiß doch, wie er sterben mag?
Und siehe da, es ist ein so herrlicher Lohn, der auf die guten Arbeiter im Weinberste des HErrn wartet, uns verheißen, ein Lohn dessen wir nicht werth sind. Unser Bitten und Verstehen übersteigt ein Lohn, der in alle Ewigkeit uns bereichert. Wir sind seine Knechte, seine Tagelöhner; Er ist keinen Lohn uns schuldig, denn, wenn wir Alles gethan haben, so sind wir doch unnütze Knechte, die nur gethan haben, was sie zu thun schuldig waren. Wie viele Stunden werden verplaudert, verscherzt, verloren auf die Ewigkeit! Der HErr ist uns keinen Lohn schuldig, und doch ertheilt Er uns einen Lohn durch die treue Hand Jesu Christi. Wie kann die treue, für uns durchgrabene Hand uns was Anderes bieten, als Segen, Leben und Seligkeit? Wollen wir diesen Lohn, den Er den Kämpfern und Ringern vorhält, verscherzen, dahingehen um ein Linsen-Gericht? Wollen wir für die Paar Tage unseres Lebens die Ewigkeit geben? Wollen wir nicht in uns schlagen, und sprechen: wie kurz ist die Zeit und wie lang die Ewigkeit? Hast du auf das Fleisch gesäet, so wirst du von dem Fleisch das Verderben erndten; hast du aber aus den Geist gesäet, so wirst du von dem Geist das ewige Leben erndten.
Vielleicht aber, Geliebte, sind Seelen unter uns, die bereits in den Weinberg des HErrn eingetreten sind und darin arbeiten, und müde geworden sind in Folge der Hitze des Mittags, die sich auch wieder erlaben an den Erquickungen des göttlichen Worts, aber sich doch sehnen nach dem Feierabend. Wisse, es kommt der Feierabend, dann befiehlt der HErr seinem Schaffner, welcher ist unser HErr Jesus Christus: gib dieser Seele den Gnadenlohn! Diesen schmachtenden Seelen möchte ich zurufen:
Es wird nicht lang mehr währen
D'rum haltet treulich aus,
Es wird nicht lang mehr währen,
Dann kommen wir nach Haus!
Da werden wir erst ruh'n,
Wenn wir mit allen Frommen
Heim zu dem Vater kommen,
Wie wohl, wie wohl wird's thun!
Amen.