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Hofacker, Wilhelm - 44. Am Sonntag Rogate.

Text: Evangelium Luk. 11, 9-13.
Bittet, so wird euch gegeben, sucht, so werdet ihr finden, klopft an, so wird. euch aufgetan. Denn wer da bittet, der nimmt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan. Wo bittet unter euch ein Sohn den Vater ums Brot, der ihm einen Stein dafür biete? und so er um einen Fisch bittet, der ihm eine Schlange für den Fisch biete? oder so er um ein Ei bittet, der ihm einen Skorpion dafür biete? So denn ihr, die ihr arg seid, könnt euern Kindern gute Gaben geben, wie vielmehr wird der Vater im Himmel den heiligen Geist geben denen, die ihn bitten?

Unter den mancherlei Mitteln, welche den leiblichen Ärzten zu Gebot stehen, um bei den Kranken, zu welchen sie berufen werden, alsobald zu einem klaren Einblick in die Natur und Gefährlichkeit ihrer Krankheit zu gelangen, zeichnet sich eines besonders aus, das am seltensten täuscht und am wenigsten trügt: es ist der Puls. Darum greifen die Ärzte bei jedem Kranken alsobald nach diesem, und danach bemessen sie seinen Zustand, die Gefährlichkeit oder Ungefährlichkeit, den Fortschritt oder Rückschritt, das Steigen oder Fallen der Krankheit; der Puls ist gleichsam für sie der Höhemesser des leiblichen Lebens, seiner Gesundheit oder seiner Krankheit, seiner Stärke oder seiner Schwäche. Auch im geistlichen Leben gibt es einen solchen Höhemesser: der Puls des geistlichen Lebens ist das Gebet. Wenn man deswegen wüsste, wie ein Menschenkind betet, wie es mit seinem Gott und HErrn im stillen Kämmerlein umgeht, so wüsste man auch, wie sein innerer Herzenszustand beschaffen ist. Danach entscheidet sich's, ob sein geistliches Leben im Fortschritt oder Rückschritt, ob es in der Genesung oder in der Verschlimmerung, ob es im Steigen oder Fallen begriffen ist. Und, o meine Lieben, die Hand auf unser Herz, wenn der große Arzt und Herzenskündiger, vor welchem wir Alle offenbar sind, und gewiss einmal offenbar werden müssen, heute in dieser jetzigen Stunde an uns heranträte, und mit unsichtbarer Hand uns diesen geistlichen Puls fühlen würde; wie würde er ihn finden? was würde diese Untersuchung für unser geistliches Leben für ein Ergebnis liefern? Es ist der Mühe wert, dass wir darüber bei uns ins Klare kommen, und einem Jeden liegt die Antwort auf diese Frage sehr nahe. Gewiss ist es, dass bei gar Manchen der geistliche Puls gar nicht gehen und anschlagen würde. Sie beten gar nicht, entweder aus Gleichgültigkeit und Rohheit und irdischem weltlichem Sinn, indem sie sprechen, sie haben keine Zeit und keine Lust dazu; oder aus Grundsatz, indem sie sagen: das Gebet hat doch keinen Zweck; Gott hat den Weltlauf einmal bestimmt, und davon gibt es keine Abweichung, und überdies, wozu Gott Dinge vorsagen, die Er besser weiß, als wir? Sie beten gar nicht, ihr geistiger Puls geht gar nicht mehr. Wenn aber die Ärzte an ein Krankenlager treten und beim Kranken keinen Puls mehr finden können, was ist dann ihr Urteil? lebt der Kranke, oder ist er tot? wenn ein Mensch nicht mehr betet, lebt er im Geist? oder ist er geistlich tot? Die Antwort liegt nicht ferne. Bei Andern würde der Heiland finden, dass ihr geistlicher Puls nur noch zuweilen, nach langen, langen Unterbrechungen, anschlägt, wenn eine besondere Not über sie hereinbricht, wenn sie in eine außerordentliche Verlegenheit geraten, wenn ihr Leben eine wichtige Wendung für sie nimmt: nun da schlägt der geistliche Puls konvulsivisch an. Ist die Gefahr, die Not, die Verlegenheit, der Sturm wieder vorüber, ist ihr Lebensschifflein wieder von der Sandbank, auf welches es aufzusitzen drohte, auf die hohe See gelangt; nun da denken sie nicht mehr an das Gebet, dann ist Alles abgemacht; sie sind wieder guter Dinge und unbesorgt, wie zuvor. Was ist aber von einem solchen unterbrochenen, bald stockenden, bald zitternden Puls zu halten? Die leiblichen Ärzte zucken die Achseln und sagen: das ist gewöhnlich der Vorbote des Todes. So ist auch dieses unterbrochene Gebet häufig nichts Anderes als ein Vorbote des geistlichen Todes. Bei Andern endlich findet sich ein regelmäßiger geistlicher Puls; aber er schleicht nur so dahin in gewohnheitsmäßigem Gang, ohne innere Kraft und inneres Leben: sie beten im Gewohnheitsgeist, im Lippendienst; sie heißen gar vielerlei Beten, was doch diesen hohen Namen nicht verdient, das Sprüche und Lieder- und Verse-Hersagen: Alles ist ihnen Gebet. Damit halten sie die Sache für abgemacht und haben daneben noch für Alles Raum, für Schoß- und Lieblingssünden, für den Geiz und Scharrgeist, für Feindschaft und Neid, für Eitelkeit und Weltliebe, für Augenlust und Fleischeslust, für Ungerechtigkeit und Tyrannei. Auch dieser geistliche Puls ist ein kranker Puls, und zeugt von geistlicher Schwindsucht, wo das Leben nach und nach versiegen geht und der Mensch zuletzt an einer geistlichen Auszehrung stirbt. Ach wie Wenige sind es doch, bei denen der große himmlische Arzt einen guten, einen gefunden, einen stetigen, einen kräftigen Puls entdecken würde! wie Wenige sind es doch, die wahrhaftige Anbeter Gottes sind im Geist und in der Wahrheit! Deswegen war es dem Heiland darum zu tun, uns zu einer wahren Anbetung im Geist zu verhelfen, weil Er ja wohl wusste, dass, wenn der Puls des Gebets stockt, dann auch das Leben stockt; und wenn der Puls des Gebets richtig geht, auch das innere Leben wächst, sich mehrt und erstarkt; und deswegen wollen wir uns von unserem großen HErrn und Meister, von dem größten aller Beter, in die Schule nehmen lassen und miteinander in dieser gottgeweihten Stunde reden:

Vom Gebet als dem inneren Puls des geistlichen Lebens.

Dreierlei ist es, worauf wir hierbei unser Augenmerk richten wollen, es ist

  1. Der ernstliche Befehl des Gebets;
  2. Die liebliche Einladung zum Gebet;
  3. Die große Verheißung vom Gebet.

I.

1) Bittet, sucht, klopft an! Mit dieser dreimaligen Wiederholung und Verstärkung befiehlt der Heiland den Seinigen das Gebet an. Der Heiland hat sonst, wie wir wissen, in Seinem Lehramt keine unnützen und keine überflüssigen Worte gemacht, und als der Lehrer von Gott gekommen, hat Er sich als den erwiesen, welcher, wie Jacobus (3,2.) sagt, ein vollkommener Mann ist, der auch in keinem Worte fehlet. Wenn Er deswegen eine Sache mit einer dreifachen Verstärkung einschärft, so muss dies seine wichtigen und heiligen Gründe haben, und diese hatte Er nun auch gewiss hier bei dieser feierlichen Aufforderung zum Gebet. Denn es ist Erfahrung, in keiner Sache des inneren und äußeren Lebens wird man so gar bald müde und träge, gleichgültig und nachlässig, als gerade im Gebet: von Nichts lässt man sich so gerne durch alle möglichen Veranlassungen und Hindernisse abhalten und abbringen, als gerade vom unmittelbaren kindlichen und verborgenen Umgang des Herzens mit Gott und dem HErrn Jesus Christus. Ja, wie es oft in der Haushaltung und im Familienleben zu gehen pflegt, dass es schwer hält, nur eine Viertel- oder eine halbe Stunde des Tags zum Hausgottesdienst zu erübrigen, wie tausenderlei Sachen hemmend und störend dazwischen treten; und wie es oft einen rechten Ernst erfordert, wenn man hierin über der guten und gesetzmäßigen Ordnung halten und sie nicht alle Tage unterbrechen lassen will: - so ist es auch beim eigenen, stillen, verborgenen Herzensumgang des Einzelnen mit dem HErrn. Wie viele tausenderlei unvorhergesehene, ungeahnte Hindernisse treten da oft in den Weg! wie viele hundert Abhaltungen schieben sich da dazwischen, die uns zu keiner Ordnung, zu keinem Ernste, zu keiner heiligen Sammlung vor Gott und dem HErrn zu keiner Glut des Gebets kommen lassen, Riegel von innen und von außen, aus dem Reich der unsichtbaren und sichtbaren Welt! Tausend Felsblöcke sind zu übersteigen, bis die umgetriebene Seele nur zu einer kurzen, gesammelten Andacht des Herzens kommt. Und wie leicht ist es doch geschehen, dass, wenn man einmal die gute Ordnung verlassen, aus dem Geleise des Gebets sich hat herausbringen und von den entgegenstehenden Hindernissen sich hat überwältigen lassen, man gar nicht mehr so leicht das rechte Geleise zu gewinnen im Stande ist! Wie leicht ists geschehen, dass der Schutt, der durch allerhand Dinge aufgeworfen und zwischen uns und den HErrn in die Mitte geschleudert wurde, endlich zu einem beinahe unübersteiglichen Wall wird, der sich um die Seele herzieht und sie nicht mehr zu einem ernstlichen und brünstigen und wackeren Gebetsleben durchbrechen lassen will! Ists da ein Wunder, dass der große Herzenskündiger, der so tief alle Schwächen und Verirrungen, alle Falten und Schlangenwindungen unsres verderbten Herzens durchschaute, mit so hohem Ernste und so heiliger Verschärfung das Befehlswort zum Gebet über seine Lippen fließen ließ: Bittet! sucht! klopft an! Und ist dies gewichtige und dreimal verschärfte Wort unsres Erlösers nicht gerade ein Wort, das auch uns aus unserer Trägheit zum Gebet und unsrer Lässigkeit im Gebet rütteln und mit neuem Eifer zum Gebet und mit neuer Ausdauer im Gebet erfüllen sollte? Ja, bittet! sucht! klopft an! - dies Wort sporne die Lassen, dies Wort kräftige die Schwachen, dies Wort erneure die Abtrünnigen!

2) Jedoch noch etwas Anderes will uns der Heiland mit jener dreimaligen Wiederholung zu Gemüte führen: Er bezeichnet gleichsam drei besondere Stufen der Erfahrungen, die wir in der so wichtigen Gebetsschule zu ersteigen haben; und zwar führt Er von der leichteren zur schweren und von der schweren zur schwersten.

Bittet! spricht der HErr, und dies ist die erste Stufe, die wir im Gebetsleben ersteigen können. Als arme, hilfsbedürftige Kinder stellt uns damit der Heiland vor den himmlischen Gnadenthron. Hebet eure Hände auf, spricht Er, und lasst sie füllen! und damit bezeichnet Er die süßesten Erfahrungen und den freiesten und herrlichsten Zutritt, der uns im Gebet geschenkt werden kann. Es ist dies das freudige Zugreifen und sich Aneignen der großen Verheißungen Gottes; die Seele ruft: Abba, lieber Vater! sie nimmt aus seiner Fülle Gnade um Gnade; sie kann es glauben, dass alle Verheißungen in Christo Jesu Ja sind und Amen sind. Da ist dann kein scheues Zurücktreten, keine Zaghaftigkeit, keine Blödigkeit, keine Angst: man erfährt, was Paulus (Röm. 5, 2.) schreibt: Wir haben einen Zugang im Glauben zu der Gnade, in welcher wir stehen und rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit. Ja noch mehr: auch in äußerem Druck, in äußerer Bedrängnis ist das Herz doch nicht beklommen; auch da ist kein Zurückbeben vor dem HErrn, sondern ein freier, ein ungehemmter Zutritt, denn da rühmt man sich nicht nur der Herrlichkeit, sondern man rühmt sich auch der Trübsale, wie Paulus sagt: nicht allein das, sondern wir rühmen uns auch der Trübsal, dieweil Trübsal Geduld bringt (Röm. 5, 3.). O selig, wer auf dieser süßen und wohltuenden Gebetsstufe steht und diese süße Erfahrung in dem Zutritt zu der freien Gnade täglich hat; ja dass wir doch alle diesen Zutritt täglich hätten, da würden wir erfahren, was jenes Lied sagt:

Wir sehen hinauf, der Vater herab,
An Treu und Lieb geht uns Nichts ab,
Bis wir zusammen kommen.

Aber nicht immer wird dem Menschenherzen das Beten so leicht: o nein! häufig wird es ihm zu einer schweren und harten Arbeit, zu einer herben und sauren Anstrengung. Der Heiland setzt deswegen als die zweite Gebetsstufe das Suchen. Aber man sucht hauptsächlich dann, wenn man etwas Bedeutendes verloren hat; und so ist es denn eine zweite Stufe, wenn uns oft große Verluste ins Gebet treiben, Verluste, deren schmerzliches Vermissen uns zu Boden drückt. Wir haben etwa den Frieden verloren, der aus Gott ist, der unser Herz erquickte und unser Gemüt erfreute; und sieh! er will sich nicht wieder einstellen: da heißt es: „Sucht!“ wir haben das Siegel und das Pfand Gottes verloren, womit uns unsere Versöhnungs-Gnade, unsere ewige Erwählung und unsere Kindschaft bestätigt und versichert war. Das Siegel ist abgerissen, das Unterpfand hinweggenommen, keines von Beiden will sich mehr herstellen, wir wissen nicht, wo wir es holen sollen; da gilts dann: sucht! Oder wir haben etwa den Gebetsgeist selber verloren; vorher waren wir brünstig im Gebet, jetzt sind wir träg und lässig; vorher war uns das Gebet eine Lust, eine Freude, jetzt ist es uns eine Last und eine Bürde; da gilt es, nach dem Gebetsgeist sich wieder zu sehnen; da gilts, nicht zu rasten, bis man ihn wieder erlangt hat. Oder wir haben den Geschmack am Worte Gottes verloren; vorher war uns dasselbe eine kräftige, schmackhafte Speise, wir konnten uns, daran satt essen und uns erlaben nach dem inwendigen Gemüte; jetzt ists uns trocken und unschmackhaft, es lässt uns ohne Eindruck, ohne Lebenskraft, ohne Gnadeneinfluss. Da gilt es Suchen, zu suchen mit geduldig harrendem Geiste, aber auch suchen mit Buße, mit brünstigem Gebet, damit der HErr das Angesicht, das Er vor uns verborgen hatte, vor uns wieder enthülle, und nachdem Er uns seine Gnade entzogen, uns wieder schmecken lässt, wie freundlich Er ist. Da gilt es beten :

Sieh' mein Sehnen,
Meine Tränen!
Ach sie suchen, Jesu, dich.
Lass dich finden, lass dich finden,
Hab ich dich, wie reich bin ich!

Ja noch weiter hinan, auf eine noch höhere Gebetsstufe führt der Heiland seine Beter in unserem Evangelium, wenn Er noch hinzusetzt: „Klopft an!“ Angeklopft wird an einer verschlossenen Pforte, wo sich kein Pförtner zeigen will, wo wir selber weder den Schlüssel haben, noch auch aufbrechen können. Es gibt für die Geduld eines natürlichen Menschen keine größere und ermüdendere Probe, als wenn er vor einer verschlossenen Pforte steht, und doch trotz alles Pochens und Anklopfens nicht eingelassen wird; da reißt auch dem Kaltblütigsten endlich der Geduldfaden ab. Aber vor solche verschlossenen Pforten, wo der Glaube und die Geduld auf die empfindlichste Probe gesetzt wird, führt der HErr gar oft seine Kinder, die Er auserwählt machen will im Tiegel der Trübsal. Es gibt Anfechtungen, wo man rückwärts keinen Ausweg sieht und vorwärts sich keine Türe öffnen will, vor einer solchen verschlossenen Pforte stand z. B. das kananäische Weib, die trog ihres Schreiens und Rufens, das einen Stein hätte erbarmen sollen, nichts Anderes zur Antwort bekam, als: Es ist nicht sein, dass man den Kindern das Brot nehme und werfe es vor die Hunde (Matth. 15, 26.). Da stand sie vor einer Pforte, die mit tausend Riegeln und Banden, und Schlössern verschlossen war. Aber sie ließ nicht nach, sie hat fortgepocht, bis die Pforte aufging. Vor einer solchen verschlossenen Pforte stand Paulus, als ihn Satans Engel mit Fäusten schlug, und ihm gegeben war ein Pfahl ins Fleisch; er pochte auch an diese Pforte, er bat den HErrn dreimal, dass er von ihm weiche; aber siehe! keine andere Antwort wurde ihm zu Teil, als: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig (2 Kor. 12, 9.).“ Vor einer solchen verschlossenen Pforte steht manches andere bekümmerte Herz bis auf den heutigen Tag, dem Lasten und Bürden auferlegt sind, von denen die Wenigsten Etwas ahnen, dem innere Wunden geschlagen sind, von denen die Wenigsten Etwas wissen, dem innerer Kummer und Herzeleid einen Schmerzensbecher bereiten, an dem Andere nicht einmal nippen. Da gilts erst Glauben zu halten, da gilts erst in heißem ringendem Flehen fortzupochen, und ohne mutlos und zaghaft zu werden, auf die Stunde zu harren, die der Vater seiner Macht vorbehalten hat. In allen diesen Gebets- und Glaubens-Proben gilt es sich anklammern an den ewigen barmherzigen Gott, und zu rufen:

A und O, Anfang und Ende,
Nimm mein Herz in deine Hände,
Wie ein Töpfer seinen Ton!
Schöpfer, lass dein Werk nicht liegen,
Hilf uns beten, wachen, siegen,
Bis wir steh'n vor deinem Thron!

So, meine Lieben, hat der HErr das Gebet uns befohlen und mit dreifacher Verschärfung uns diese Pflicht auferlegt. Jedoch

II.

1) Nicht bloß in einem Befehl hat Er uns diese Aufforderung zu Teil werden lassen, sondern auch als eine heilige Erlaubnis und liebliche Einladung. Der Heiland wusste wohl, wie viel Mutlosigkeit und Zaghaftigkeit im Herzen eines Sünders wohnt, die ihn vor dem Gnadenstuhl Gottes zurückscheucht. Er wusste wohl, dass wir meistens ein geschlagenes, ein unruhiges Gewissen in uns herumtragen, das wie ein Cherub mit dem Flammenschwert uns von dem Zutritt zum Gnadenthron zurückhält: Er wusste wohl, dass es dem Sünder, wenn eine innerliche Aufforderung zum Gebet an ihn ergeht, ist wie einem Verbrecher, bei dem die Schergen anpochen, um ihn in den Gerichtssaal zu führen. Denn sobald wir vor Gott treten sollen, so steigen die Schatten unserer begangenen Sünden und Übertretungen, unsere verschuldeten Versäumnisse und Untreuen aus dem Grab des Gedächtnisses empor, um uns das Todesurteil zu sprechen: der Bann der Sünde ruht auf uns, und dieser schreckt uns hinweg vom Herzen unseres Gottes. Deswegen geht nun in unserem heutigen Evangelium der Heiland eigentlich darauf aus, uns zum Gebet Mut einzusprechen und uns den kindlichen Umgang mit Gott von seiner lieblichsten Seite darzustellen, und uns zu locken und zu reizen, mit Freudigkeit und ohne Furcht und Zagen hinzutreten zu dem Gnadenthron, bei welchem wir Barmherzigkeit finden und Gnade erlangen können auf die Zeit, da uns Hilfe Not tut. Er rollt gleichsam einen Vorhang vor dem Vaterherzen Gottes auf und lässt uns in das wallende und brandende Meer seiner Liebe, in das treue, in das von Liebe bewegte Vaterherz hineinblicken: Er zeigt uns, wie hier für Alle, welche nur kommen, und für alle Bedürfnisse derselben Raum ist, und wie Nichts zu groß und Nichts zu klein ist, das wir nicht mit kindlichem Herzen von dieser ewigen Liebe erflehen dürften: Er zeigt uns, wie der, der in die arme Menschenbrust auch nach dem Sündenfall doch noch eine so herzliche Zuneigung, wie die zwischen Eltern und Kindern, hineingelegt hat, sich von seinen fündigen Geschöpfen nicht übertreffen lassen werde. Er fragt deshalb: Wo ist es denn jemals erhört unter euch, die ihr doch arg seid, dass ein Vater, wenn sein Sohn ihn um Brot bittet, ihm einen Stein gebe, und wenn er ihn um einen Fisch bittet, ihm eine Schlange reiche, und wenn er ihn um ein Ei anspricht, er ihm einen Skorpion einhändige! Da ihr, die ihr in Sünden empfangen und geboren seid, dennoch solche Liebe zu den Eurigen beweisen könnt, dass ihr euren Kindern nur Gutes gebet, wie viel mehr wird der Gott, von dem lauter gute und vollkommene Gaben kommen, bei welchem ist kein Wechsel zwischen Licht und Finsternis (Jak. 1, 17.), gute Gaben geben denen, die ihn bitten?

O, wie muss bei einer solchen Offenbarung des Vaterherzens Gottes, die wir durch den Sohn der Liebe, der in des Vaters Schoß war und also die innersten Gedanken seines Wesens uns enthüllen konnte, - o wie muss da alle Furcht und Bangigkeit schwinden! Hat Er denn nicht selber gesprochen: Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, dass sie sich nicht erbarmte über den Sohn ihres Leibes? und ob sie desselben vergäße, so will ich doch dein nicht vergessen, siehe in meine Hände habe ich dich gezeichnet (Jes. 49, 15. 16.), und abermals: Ist nicht Israel mein trautes Kind und mein lieber Sohn; darum bricht mir das Herz gegen ihn, dass ich mich seiner erbarmen muss (Jer. 31, 20.)! und abermals: Es sollen wohl Berge weichen, und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HErr, dein Erbarmer (Jes. 54, 10.). Seht das sind die ewigen Felsen, auf welche wir treten dürfen, auch mit einem zaghaften und geängstigten Gewissen, auf welchen wir kindlich flehen und schreien dürfen um ewige Erbarmung. Warum also, zaghafte, blöde Seele, lässt du dich immer so durch das Gefühl deiner eignen Sünden und Übertretungen von der seligsten aller Beschäftigungen zurückschrecken? Hat nicht der Gott, der seines eigenen Sohnes um deinetwillen nicht hat verschont, der Ihn in die Krippe zu Bethlehem, in die Schauer von Gethsemane, in die Todes-Kämpfe von Golgatha dahingegeben hat, aus Liebe zu dir, hat der nicht auch noch Raum für dich? warum bleibst du in der Ferne? Hier an den heiligen Altären, wo seine Liebe und Erbarmung in lichten Flammen himmelwärts steigt, hier zünde dein Vertrauen an, um hinzuzugehen mit wahrhaftigem Herzen, in völligem Glauben, besprenget in deinem Herzen und los von dem bösen Gewissen, und gewaschen mit dem Wasser der Reinigung, auf dass du Ihm priesterlich dienen und den Ruhm seiner Gnade verkündigen könnest.

2) Jedoch nicht bloß durch Offenbarung des ewig liebenden, treuen Vaterherzens Gottes lockt uns der Heiland zum Gebet, sondern auch durch die Hinweisung auf die Erfahrung davon, was denen zu Teil wird, die ihr Bitten und Flehen vor Gott kund werden lassen. Er stellt gleichsam in unserm Evangelium einen unumstößlichen Erfahrungssatz auf, wenn Er als der Zeuge der Wahrheit bekräftiget: Wer da bittet, der nimmt; wer da sucht, der findet; wer da anklopft, dem wird aufgetan. Es möchte wohl eine der glaubenstärkendsten und erquickendsten Beschäftigungen mit dem Worte Gottes sein, wenn man dasselbe einmal in der Absicht durchlesen wollte, hauptsächlich die vielen und mannigfaltigsten Gebets-Erhörungen, die uns in demselben erzählt sind, von Anfang an ins Auge zu fassen, um daran seinen oft so schwachen Glauben aufzurichten. Es würde das vom Gebet des frommen Abels an, von Abraham an, der im Glauben dem HErrn seinen Sohn opferte, von Israel an, der im Gebet mit dem HErrn rang und ist obgelegen, von Mose an, der mit seinem Gebet Tausende besiegte, - bis herab auf David, dessen Gebete und Seufzer in einer heiligen Urne aufbewahrt sind, bis auf Elias, der mit seinem Gebet die Heiden schlug, bis auf Daniel, der nur durchs Gebet aus dem Rachen der Löwen errettet wurde, und weiter von solchen großen Betern des Alten Bundes bis herab auf Paulus und die übrigen Apostel und Zeugen Jesu Christi, es würde das von Anfang bis zu Ende eine herrliche Perlenschnur der preiswürdigsten Erfahrungen werden, die wir um unsern Hals schlingen könnten, um das zerbrochene Rohr unserer Zuversicht damit zu stärken und zu befestigen. Und wie durften auch fernerhin die Kinder des Neuen Bundes so viele Gebets-Erhörungen erfahren, die meistens im Stillen und Verborgenen geblieben sind gleich den viel tausend im Meer verborgenen Perlen, z. B. ein Luther, ein Arndt, ein Franke. Wenn sie Alle auftreten würden, um zu erzählen, wie der HErr mit ihnen gehandelt, und wie Er mehr getan als sie baten und verstanden, ich achte, die Welt würde die Bücher nicht fassen, die die Großtaten Gottes verkündigten; was wird aber einmal offenbar werden am Tage der Offenbarung Jesu Christi, wo alle Dinge ans Licht treten werden und auch die Perlen der Gebets-Erhörung uns vors Angesicht gestellt werden! Zwar haben alle jene Beter erfahren müssen, dass der HErr oft ganz anders die Bitten erfüllt, als sie sich gedacht haben, dass Er ihre oft mit manchem menschlichen Irrtum zersetzte Gebetsmünze zwar angenommen, aber als der große Zahlmeister ihnen viel bessere und vollwichtigere Erhörungsmünzen dafür ausgewechselt hat. Die Kinder Zebedäi verlangten irdische Stühle der Macht und der Herrlichkeit: sie baten Menschliches und Fleischliches, und wussten eigentlich nicht was sie baten; Er schenkte ihnen dagegen Throne der ewigen Herrlichkeit: war ihre Bitte nicht erfüllt, herrlicher und überschwänglicher erfüllt, als sie eigentlich gemeint war? Als die ersten Jünger schrien zum HErrn wider Saulus, der schnaubte mit Dräuen und Morden wider die Gemeinde, und ihr Gebet forderte den Arm Gottes wider ihn heraus: da erhörte Er ihr verkehrtes Flehen, aber auf andere Weise, als sie glaubten und ahnten: Er schenkte ihnen einen wiedergeborenen Paulus und in ihm einen Verteidiger und Beschützer, einen Freund und rüstigen Kämpfer. So werden viele Gebete erhört, die wir im Unverstand vor den Vater bringen, herrlich und majestätisch über Bitten und Verstehen. Freilich, auch das müssen alle jene Beter erfahren, dass ihre Gebete oft lange nicht erhört werden, vielmehr der Vater in dieser Beziehung die Stunden seiner Macht sich vorbehalten hat. Ist‘s ja doch auch in unsern menschlichen Verhältnissen so: manche Bitte, die beim königlichen Thron eingereicht wird, ist erledigt und erfüllt, während der Bittsteller noch nichts davon weiß. So ist jede Gott wohlgefällige Bitte im oberen Heiligtum alsobald erhört; aber zwischen der Erfahrung der Erhörung und der Erhörung selbst liegen oft Wochen und Jahre und Jahrzehnte in der Mitte: denn vor Gott sind tausend Jahre wie ein Tag, und ein Tag, wie tausend Jahre. Darum nur getrost fortgebetet und fortgefleht! Einmal bricht doch das Licht durch die Finsternis, einmal behält die Rechte des HErrn doch den Sieg, und zulegt, zuletzt, zuletzt triumphiert der göttliche hohe Rat.

Ist's also nicht immer lockend und reizend, vor den HErrn mit Gebet zu treten und Bitte und Flehen und Danksagung vor Ihm kund werden zu lassen? So hat der HErr fürs zweite uns das Gebet lieblich und einladend gemacht; und endlich

III.

1) fürs dritte verheißt der HErr dem Gläubigen Beter noch den größten Segen, die Mitteilung des heiligen Geistes: wenn nun ihr, die ihr arg seid, könnt euern Kindern gute Gaben geben, wie viel mehr wird der Vater im Himmel den heiligen Geist geben denen, die Ihn bitten? Dies, meine Lieben! ist der Haupt-Segen unseres Gebets, mag nun unser Gebet erhört werden, oder unerhört bleiben, dass wir im Gebet des heiligen Geistes teilhaftig werden. Im Gebet tritt der Beter aus sich heraus und dringt in den lebendigen Gott hinein: im Gebet stirbt er sich und der Sünde ab, und lebt auf in Gott, in Jesu Christo, unserem HErrn: im Gebet verschließt er sich dem berückenden Einfluss der Welt und ihrer Macht, und erschließt sein Herz dem Einfluss der unsichtbaren höheren Welt; und darum ist das Gebet eine heilige Röhre, durch welche aus dem Brunnen des ewigen Lebens Licht und Leben, Friede und Kraft und der heilige Geist selbst in das Becken unseres Herzens strömt, und Gnade um Gnade uns zu Teil wird. Ich darf ja kühn euch Alle fragen: Wann habt ihr schon Etwas geschmeckt von den Gütern und Kräften der zukünftigen Welt? wann habt ihr schon Etwas erfahren von dem Frieden, der über alle Vernunft ist und Herz und Sinn bewahrt in Christo Jesu zum ewigen Leben? wann habt ihr die unsichtbare Welt euch schon recht nahe gefühlt? wann ist diese Welt mit ihrem kleinlichen und elenden Land vor euren Augen in ihr leeres, haltungsloses Nichts zusammengeschrumpft? Nicht wahr, wenn ihr im Gebet vor Gott lagt, wenn ihr eure Stirne auf die Staffeln seines Gnadenthrons legtet, wenn ihr im Gebet eindrangt ins göttliche Wesen und suchtet nach Leib und Seele zu genesen? O wie vieler Licht- und Lebens-Ausflüsse aus dem Quell alles Heils und alles Friedens beraubt sich derjenige, der lässig und faul ist im Gebet! wie muss er innerlich darben, während er innerlich genießen, wie muss er schmachten, während er innerlich sich erquicken, wie muss er, wie ein Wurm, auf der Erde kriechen, während er, wie ein Adler, sich aufwärts schwingen könnte, in heiligem Trieb dahin, wo der Seele wahre Heimat, wahrer Friede, wahre Hilfe ist! 2) Ja noch mehr! wie will überhaupt ein Mensch seinen Lebensweg unsträflich gehen, wie will er überhaupt das Kleinod erreichen, zu dem wir berufen sind, wenn er nicht im Gebet eben den kennen lernt, der uns berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht (1 Petri 2, 9.)?

Der Heiland sagt: „Wenn ihr, die ihr arg seid, könnt euren Kindern gute Gaben geben; wie viel mehr wird der Vater im Himmel seinen heiligen Geist geben denen, die Ihn bitten.“ Also arg ist unser Herz, arg ist unsere Umgebung, arg ist die Welt, die ja wirklich im Argen liegt. Wer will denn aber über die Argheit und Verkehrtheit seines eigenen Herzens, über die Argheit und Verführung der Welt und ihre Schlangenart den Sieg davontragen, wenn nicht der, der im Gebet wurzelt, im Gebetsgeist lebt, im Gebetsgeist siegt? In dieser Welt befinden wir uns gleichsam in einem dichten finstern Wald, wo Räuber und Mörder haußen, und Hinterhalt an Hinterhalt ist. Es ist keine Kleinigkeit, durch denselben hindurch zu kommen, ohne Schaden zu nehmen, und das innere, das geistliche Leben einzubüßen. Wer nun aber die einzige Waffe, die ihm Gott zur Gegenwehr in die Hand gegeben hat, wegwirft, wer nun wehrlos und hilflos hindurchschreiten will; wird er nicht eine Beute des Todes und ein Raub des Verderbens werden? Darum, wer überwinden will, der muss sich umgürten mit dem Gurt der Wahrheit und sich rüsten mit der Waffe des Gebets, auf dass er am bösen Tag Widerstand tun, den Kampf wohl ausrichten und das Feld behaupten möge!

Auf, ihr Christen überwindet
In dem Blute Jesu Christ',
Und bleibt auf das Wort gegründet,
Das ein Zeugnis von Ihm ist!