(Konfirmations-Predigt.)
Text: Jak. 1, 13-20.
Niemand sage, wenn er versucht wird, dass er von Gott versucht werde; denn Gott ist nicht ein Versucher zum Bösen, er versucht Niemand; sondern ein jeglicher wird versucht, wenn er von seiner eigenen Lust gereizt und gelockt wird. Danach, wenn die Lust empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert sie den Tod. Irrt nicht, liebe Brüder: alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts, bei welchem ist keine Veränderung noch Wechsel des Lichts und der Finsternis. Er hat uns gezeugt nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit, auf dass wir wären Erstlinge seiner Kreaturen. Darum, lieben Brüder, ein jeglicher Mensch sei schnell zu hören, langsam aber zu reden, und langsam zum Zorn. Denn des Menschen Zorn tut nicht, was vor Gott recht ist.
Zu den ergreifendsten Auftritten im Zusammensein des HErrn mit seinen Jüngern gehört unstreitig derjenige, der im Evangelium Johannis, Kapitel 6. an dessen Schluss erzählt wird. So eben hatte der Heiland in der Synagoge zu Kapernaum jene gewaltige Rede geendet, in welcher Er mit so entschiedenem Nachdruck darauf drang, dass, wer Ihm nachfolgen wolle, in der Lebensgemeinschaft mit Ihm Ernst machen, und, um das Leben zu haben, Sein Fleisch essen, und Sein Blut trinken müsse. Hierdurch wurde nicht nur eine große Gärung, sondern auch eine bedeutende Scheidung und Sichtung hervorgebracht unter der nicht unbedeutenden Zahl seiner bisherigen Anhänger und Nachfolger. Viele, die die entschiedene Sprache Seines Mundes nicht vertragen konnten, sprachen: das ist eine harte Rede, wer kann sie hören? kehrten Ihm den Rücken, gingen hinter sich, und wandelten hinfort nicht mehr mit Ihm. So wurden die Reihen um Ihn her immer lichter, die Zuhörerscharen schmolzen zusammen, die Kreise um Ihn her zeigten immer breitere Lücken, und zuletzt waren nur noch die Zwölfe übrig, die treu bei Ihm verharrten. Da richtete der Heiland voll tiefer Wehmut und schmerzlicher Trauer die kurze, aber tiefbewegliche Frage an sie, die ihnen durch Mark und Bein schneiden, sie aber nur zugleich um so fester an Ihn ketten musste, die Frage des höchsten Ernstes, aber auch der gewinnendsten Liebe: Wollt ihr auch weggehen? Ich kann nicht bergen, jedes Mal, wenn ich am Schluss eines Konfirmations-Unterrichts angelangt bin, und den jugendlichen Seelen den Rat Gottes zu unserer Seligkeit dargelegt, und sie nun zu der Erkenntnis geführt zu haben glaube, dass es jetzt an ihnen sei, Ernst zu machen mit dem Eintritt in die wahrhaftige Todes- und Lebens-Gemeinschaft Jesu Christi, Ernst zu machen mit seiner Jüngerschaft und Nachfolge, und Glauben zu halten, und Treue zu beweisen dem, der sie erkauft mit seinem Blut, und berufen hat mit einem heiligen Rufe; jedes Mal will sich mir die nämliche Frage auf meine Lippen dringen: nun, wie stehts? wollt ihr auch weggehen? weggehen, wie schon so viele Hunderte und Tausende vor euch, die statt des schmalen den breiten Weg erwählt, und statt Kinder des Reichs Kinder der Welt, statt Nachfolger des HErrn der Herrlichkeit Söldlinge und Knechte der Finsternis, Kinder des Todes geworden sind. Wenn wir die Jünglinge und Jungfrauen, die auch nur seit 6 und 7 Jahren in dichten Scharen unsere Konfirmationsaltäre umstanden, wieder um dieselben versammeln und zu einiger Rechenschaft ziehen wollten über das, was sie damals dem Heiland gelobten, - Geliebte, die Scharen wären gelichtet: wie Manche unter ihnen würden sich mit entschiedenem Widerwillen gegen eine derartige Zumutung sperren, wie viele mit einem geschlagenen, vorwurfsvollen Gewissen aus Scham wegbleiben, und wie wenige würden es sein, die, im Glauben fester, in der Liebe brünstiger, in der Gottseligkeit gegründeter geworden, um das Panier ihres HErrn sich drängen und ihre Anhänglichkeit an Ihn aufs Neue bekräftigen und besiegeln würden? Ist's da ein Wunder, wenn man nur mit tiefem Wehmutsgefühl an jede neue Konfirmations-Abteilung die ernste Frage des HErrn erneuern möchte: wollt ihr auch weggehen? Ach, möchte uns doch, wenn auch nicht aus allen, so doch aus vielen dieser jugendlichen Herzen das Wort entgegentönen, womit ein Petrus dort das Gemüt seines HErrn wieder aufgerichtet und getröstet hat, das Wort: HErr, wohin sollen wir gehen, Du hast Worte des ewigen Lebens? Und wir haben geglaubt und erkannt, dass Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. Wie wurde der Heiland erfreut, da Er auf die Frage, welche die Wehmut der Liebe aus Ihm redete, jenes entschiedene Wort vernahm, das Ihn zwar nötigte, mit Wenigen, mit einer Zwölfzahl sich zu begnügen, aber doch die Versicherung Ihm gab, dass noch etliche Getreue um Ihn sich scharen, um in herzlicher Liebe bei Ihm auszuharren.
Ich weiß, es sind solche unter unseren Konfirmanden, die dieses Wort Petri zu dem ihrigen machen, und Jesum immer völliger ergreifen wollen, wie sie von ihm ergriffen sind, und ihr Herz und ihr Leben Ihm, dem treuen Hirten und Bischof (1. Petr. 2,25.) feierlich zu verpfänden entschlossen sind. Es sind aber auch solche unter ihnen, die wenigstens den ersten Teil der Antwort Petri zu dem ihrigen machen, und, obgleich sie sich noch nicht für den Heiland entschieden haben, wenigstens die Frage an Ihn richten: HErr, wohin sollen wir denn gehen? Um jene in ihrem Entschluss zu bestärken, um diesen zu heilsamer Entscheidung behilflich zu sein, möchte ich ihnen und uns Allen heute unseren Textes - Worten gemäß ein Wort bittender, warnender, mahnender Liebe ans Herz legen;
Ein treugemeinter Doppelrat an alle diejenigen unserer lieben Konfirmanden, die da fragen: HErr wohin sollen wir gehen?
HErr, unser Heiland, Du heißest Rat, und kannst uns raten nach Deinem Herzen. Sei auch unser fester Ratgeber, und rate Jedem, was zu seinem Frieden dient. Schenke uns Herzen, die von Deinem Rat sich führen lassen, ja, führe uns Alle auf ebener Bahn, und nimm uns endlich zu Gnaden auf.
Amen.
1) Es gehört mit zu den Eigentümlichkeiten des Evangeliums, dass es, ohne irgend einer Verzärtelung und weichlichen Anbequemung an den fleischlichen Sinn der Menschen Raum zu geben, mit entschiedenem Ernst und unumwundenem Nachdruck dem Sünder ein gewaltiges Entweder-Oder vorlegt, und ihm nur Eine Wahl lässt, entweder Leben, oder Tod; entweder Seligkeit, oder Verdammnis; entweder ein Kind des Lichts, oder ein Kind der Finsternis; entweder Eingang zum Bürgertum des Himmelreichs, oder aber jammervoller Sturz in die bodenlose Tiefe der Hölle und des Abgrundes. Auch der Apostel Jakobus, aus dessen Brief unsere heutige Abendlektion genommen ist, schließt sich diesem nachdrucksvollen Ernst an, indem er in unserem Text sowohl das Nachtgebiet der Sünde und des Todes, als das Lichtgebiet der Gnade und des Lebens vor unseren Seelen aufzurollen sich anschickt. Zuerst eröffnet er uns den Einblick in das Nachtgebiet der Sünde und des Todes, wenn er am Anfang unserer Abendlektion anhebt: Niemand sage, wenn er versucht wird, dass er von Gott versucht werde; Gott ist nicht ein Versucher zum Bösen; er versucht Niemand; sondern ein jeglicher wird versucht, wenn er von seiner eigenen Lust gereizt und gelockt wird. Danach, wenn die Lust empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert sie den Tod. Seht da, das Nachtgebiet der Sünde und des Todes, das er uns vorhält. Der Apostel hätte in seiner Beschreibung viel weiter ausholen, und es nach seiner Länge und Breite viel ausführlicher beschreiben können. Er hätte die Verführungsmacht des Lügners von Anfang beschreiben können, der, wie im Anfang der Welt als Feind Gottes und der Menschen, so noch jetzt seine Zerstörungs-Plane gegen das Reich Gottes und seines Gesalbten mit eiserner Beharrlichkeit verfolgt, und immer noch umhergeht als brüllender Löwe, und sucht, welchen er verschlingen möge (1. Petri 5,8.); er hätte den Geist der im Argen liegenden Welt nennen können, welcher sein Wesen hat in den Kindern des Unglaubens, und versuchend und lockend, berückend und verführend auch sogar die Auserwählten in seine Verschlingungen zu ziehen droht, dagegen die Bande, die sie mit dem HErrn in Verbindung halten, zu lockern, und sie zum offenen oder verdeckteren Abfall zu vermögen; er hätte das große Heer weltlicher Ärgernisse und feinerer Verführungs-Künste, die in der Augenlust, Fleischeslust und dem hoffärtigen Wesen dieser Welt liegen, berühren, und die zarten Fäden zeigen können, an denen die von ihr betrogenen Seelen in das Netz des Verderbens vollends hineingezogen werden: der Apostel tut's nicht; er begnügt sich mit der Hinweisung auf das Nachtgebiet der Sünde und des Todes in unserem eigenen Innern; er begnügt sich damit, aus dem einfachen Grunde, weil hier, in unserem eigenen Innern der eigentliche Feuerherd des Bösen nach seiner Wurzel und Frucht allein zu suchen und zu finden ist, weil hier in der eigenen Lust der Zunder zugerüstet daliegt, ohne welchen alle Verführungskünste der Finsternis und alle Zauberkräfte einer im Argen liegenden Welt nichts bei uns auszurichten vermöchten, und der Arge keine Stelle bei uns fände, um uns anzutasten. Ja, hier in unserem eigenen Innern ist für jeden Einzelnen die eigentliche Residenz des Nachtgebiets; hier laufen alle Heerstraßen, die das Land durchziehen, zusammen; hier werden aus allen Bereichen der Sünde durch die Augen und Ohren und alle Sinnentore jene bösen Eindrücke eingeführt, die das schon verdorbene Herz als pflichtschuldige Sündensteuer anspricht und an sich reißt, und wodurch es nur noch. mehr verdorben und verunreinigt wird. Hier werden sogar die guten und vollkommenen Gaben, die von oben herab kommen, durch Missbrauch, Selbstsucht, Eitelkeit und Eigenliebe verderbt und vergeudet, und zum eigenen zeitlichen und ewigen Verderben der Seele verwendet, so dass nichts anders übrig bleibt, als, wie Jakobus sagt, der Tod, der geistliche und ewige Tod.
2) Vor diesem Nachtgebiet der Sünde und des Todes uns gegenseitig mit allem Nachdruck zu warnen, davor namentlich alle unerfahrenen, jugendlichen, der Versuchung und Verführung doppelt ausgesetzten Seelen mit bittender und flehender Liebe zu warnen, das ist unsere höchste und teuerste Pflicht, und wer ein Ohr hat zu hören, der höre doch, in welch' furchtbaren Gefahren diesem Nachtgebiet der Sünde und des Todes gegenüber wir allesamt schweben.
Die Gefahr ist fürs erste deswegen so groß, weil dieses Nachtgebiet der Sünde und des Todes dasjenige ist, auf das wir nicht erst durch eine freie Willenstat hinüberzutreten haben, auf dem wir uns vielmehr alle von Natur schon befinden, das unser angestammtes und anererbtes Geburtsland ist. Der Mensch hat nichts in der ganzen Welt, das ihm von Natur näher anläge, als eben diese seine eigene innere böse Lust; sie ist unbestreitbar ein Teil seines eigensten, innersten Wesens; sie ist nicht äußerlich ablösbar von ihm, sie ist, so lange er hienieden seinen Wohnsitz hat, gleichsam mit einbedungen in der Miete, und zieht nicht aus, bis über unsern Gebeinen der Totengräber die Schaufel schlägt. Wenn wir deswegen einen Menschen auch noch so sehr zu verwahren vermöchten gegen die Versuchungen und verführerischen Reize dieser Welt, wenn wir ihm auf jeden Schritt und Tritt, den er tut, Menschen- und Engel-Wächter zur Begleitung und Bewahrung mitzugeben im Stande wären, wenn wir jeden ungünstigen Einfluss von außen auf ihn abschneiden, und ihn gegen die Verführungen des Weltgeistes hinter Schloss und Riegel halten könnten: in der Hauptsache würde es uns doch nichts helfen; wenn auch gröbere Ausbrüche der Sünde und des Verderbens eine Zeitlang ferne gehalten würden; der letzte und bedenklichste Feind wäre ja damit noch nicht entfernt, jener feinste und listigste Versucher, der nicht erst sich einzuschleichen braucht, der bereits im innern Gemach festen Fuß gefasst hat, jener Versucher, von dem Jakobus sagt: ein Jeglicher wird versucht, wenn er von seiner eigenen Lust gereizt und gelockt wird. Es ist deswegen ein großer Irrtum, wenn man an jugendliche Seelen, wie unsere Konfirmanden sind, alle Ermahnungen damit erschöpft zu haben meint, dass man ihnen zuruft: hütet euch vor der Welt, dieser Hauptfeindin eurer Seligkeit, flieht ihre Versuchung und Verführung, flieht ihre Luftbarkeiten und ihre Betörungen, flieht ihr Prachtwesen und ihre Eitelkeit, flieht ihre Üppigkeit und ihre Wollust. Das Alles ist zwar fein und gut. Aber ist damit dem Feinde schon Tür und Tor verrammelt? Ach, noch viel wichtiger und viel nötiger ist der andere Zuruf: hüte dich vor dir selbst und den noch viel näher liegenden Schlingen deines eigenen Herzens, fürchte deines Herzens Trotz und Übermut, deines Herzens Sicherheit und Leichtsinn, deines Herzens Hoffart und Eigenliebe, deines Herzens Flattergeist und Zerstreuungssucht, deines Herzens Trägheit und böse Schmeicheleien, deines Herzens geheime Schande und verborgene Gräuel. Dein eigenes Herz, glaube es doch, ist dein ärgster Feind, der Feind, der dir immer auf den Fersen, und darum so sehr zu fürchten ist, weil er dich mit dem Schein des treusten und wohlmeinendsten Freundes umgarnt, und so du ihn gewähren lässt, heimlich an nichts anderem zimmert, als an dem Sarg, in dem du und dein ewiges Heil zuletzt versenkt werden soll in Todesnacht und Verdammnisgrauen.
Die Gefahr, in das Nachtgebiet der Sünde und des Todes zu versinken, ist aber fürs andere auch deswegen so groß, weil die kleinsten Einräumungen auf diesem Gebiete unwillkürlich weiter führen, und gewöhnlich nur allzuteuer bezahlt werden. müssen. Ein jeder wird versucht, sagt Jakobus, wenn er von seiner eigenen Lust gereizt und gelockt wird. Was kann oft unbedeutender, geringfügiger, vielleicht sogar unschuldiger erscheinen, als der erste böse Lustreiz, der in einer Seele auftaucht, und von dem die Seele gelockt wird? Aber wie geht's weiter, wenn er nicht ausgerottet und unterdrückt wird? Danach, wenn die Lust empfangen hat, wenn sich der Wille mit ihr geeinigt hat, gebiert sie die Sünde, die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert sie den Tod. Seht da die drei furchtbaren Verderbensstaffeln, die abwärts in den tiefsten Abgrund führen; seht da die Riesenlawine, die mit einem furchtbaren Sturz sich dem finstern Abgrund des Gerichtes zuwälzt, und doch war sie am Anfang nichts anders, als das Schneekorn eines unbedeutenden Luftreizes, mit dem die Seele anfangs harmlos gespielt hat, wie etwa ein Kind mit einer harmlos scheinenden Schlange spielt, die es im Grase gefunden hat, und gar vertraulich mit ihr tut, bis das Ungetüm endlich sich aufbäumt, das arme Schlachtopfer umringelt, und ihm den giftigen Stachel in die zarten Glieder bohrt. Es braucht keinen großen Trichter, wenn dir ein Todesgift eingeträufelt werden soll: ein kleiner Trichter und ein paar Tropfen Gift tun es auch. Es braucht keines großen Fensters, wenn die Diebe einbrechen und stehlen sollen: die kleinen Diebe steigen voran und öffnen den großen die Türe. Meinet ihr, der Verräter Judas hätte drei Jahre zuvor seinen HErrn um hundert oder selbst um tausend Silberlinge verraten? Ich denke: nein, aber die kleineren Kasseneingriffe, die er sich erlaubt, haben sein Gewissen mehr und mehr abgestumpft, und der ganzen Verfolgungsmacht des Satans zugänglich gemacht, dass er endlich sogar sich selber anbot, und um den schnöden Blutlohn von ein paar Gulden seinen HErrn verriet. Wie geht's gewöhnlich? Wenn der Mensch das erste Mal sündigt, so geht es gewöhnlich nicht ohne Kampf ab. Das Gewissen empört sich, die Furcht vor Gott steht wie ein Cherub da mit dem Flammenschwert; ein Damm wird aufgeworfen, der den Andrang der Versuchungswoge manchmal siegreich zurückweist. Wenn aber der Damm von ihr überschritten und durchbrochen wird, alsobald wissen beim zweiten und dritten Andrang die Versuchungswogen den alten Durchbruch wieder aufzufinden, und durch ihn in das nun schon bekannte Gebiet einzudringen, es unter Wasser zu sehen, und vielleicht in ein trauriges Moor- oder Sumpfland zu verwandeln, während es vorher ein Garten des HErrn gewesen war. Ist das nicht die Geschichte von Hunderten und Tausenden betrogener Seelen, die Anfangs nur mit Zögern dem Versuchungsreize gefolgt sind, mit Mühe das sich Anfangs mit Macht gegen sie erhebende Gewissen beschwichtigt, sich je und je mit neuen und guten Vorsätzen wieder aufgerafft haben, dann aber wieder ins alte Wesen zurückgesunken, und arme Sklaven dieser oder jener Sünde und Leidenschaft geworden sind, und in bessern Augenblicken der Stunde fluchen, wo sie der ersten Versuchung Raum gegeben, und den ersten Schritt durch das eiserne Tor des Verderbens getan haben?
Darum fleuch vor der Sünde, vor der ersten und jeder andern, wie vor einer Schlange, denn so du ihr zu nahe kommst, so sticht sie dich; ihre Zähne sind wie Löwenzähne und töten den Menschen (Sirach 21,2.3.).
Der dritte und letzte Grund endlich, warum die Gefahr, im Nachtgebiet des Todes und der Sünde zu versinken, so sehr zu fürchten ist, liegt in dem einigen Wort: „Tod“, mit dem der Apostel seine Beschreibung des Nachtgebiets schließt, in dem aber, so kurz es ist, unaussprechliche Schrecken zusammengefasst sind. Die Sünde aber, sagt er, wenn sie vollendet ist, gebiert sie den Tod.
O ein furchtbar Gewappneter, den der Apostel hier auftreten lässt, ein Gewaltiger, der unter dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, mitten im Paradiese zur Welt geboren, zu einer unentfliehbaren Großmacht herangewachsen ist, unter allen Nationen seinen Schreckens-Thron aufgeschlagen hat, und nach Abend, Morgen, Mittag und Mitternacht seinen Zepter ausgereckt hält, dass alle Welt ihm zu Füßen liegt.
Der Tod hat eine dreifache Waffenrüstung: er ist der geistliche Tod, der unsere Seele verderbt, die Verbindung unseres Geistes mit Gott zerstört, unsere Erkenntnis verdunkelt, unser Gewissen verhärtet, unsere Willenskraft für das Gute ertötet, uns mit den Schrecken des Gerichtes erfüllt und zu Knechten seiner Furcht erniedrigt, so lange wir hienieden wallen. Er ist zweitens ein leiblicher Tod, der deinen Leib zerstört, das ganze Heer von Krankheiten, Schmerzen und Leiden aller Art vor sich hertreibt, endlich sein Zerstörungswerk in der Verwesung vollendet, deren Gesetz alles Fleisch unterworfen ist. Es ist endlich der ewige oder andere Tod, der auch von den Verdammten und Verworfenen in der Pein und Qual, die sie trifft, nicht ablässt, also, dass ihr Wurm nicht stirbt, und ihr Feuer nicht verlöscht (Jes. 66,24. Mark. 9,44.). - Dieser dreifache Tod ist der Sünde Sold (Röm. 6,23.). In jener furchtbarsten aller Nächte endigt das Nachtgebiet der Sünde und des Todes, und, dass es dem wahrhaftigen Gott Ernst ist mit seinen Drohungen, das pflegt er fortwährend darzutun durch die gewaltigen Todesgerichte, die er vor unsern Augen aufstellt, von den Völkergeißeln an, die ganze Nationen und Länderstrecken treffen, bis zur totbringenden Lustseuche herunter, die an dem Einzelnen das Wort wahr macht: wer auf sein Fleisch säet, der soll vom Fleisch das Verderben ernten (Galat. 6,8.).
Einem solchen Nachtgebiet gegenüber gilt's zu bitten und zu rufen, zu ermahnen und zu beschwören: flieht, flieht das Nachtgebiet der Sünde und des Todes, machet euch auf und errettet eure Seelen, seht nicht hinter euch, auch steht nicht still in dieser ganzen Gegend; auf die Berge des Heils müsst ihr euch retten, auf dass ihr nicht umkommt und eure Seele nicht verderbe.
Wie finster und öde wäre unser irdisches Leben, wenn es nur Ein Gebiet gäbe, auf dem wir uns regen und bewegen könnten, nämlich dieses Nachtgebiet der Sünde und des Todes! wie furchtbar stünde das Leben hinter uns, wie schaurig und hoffnungslos die Zukunft vor uns, wenn die Diener des göttlichen Wortes nur einzig von diesem zu reden hätten! Aber dem ist nicht also. Mitten in dieses Nachtgebiet der Sünde und des Todes herein hat eine höhere Hand ein Lichtgebiet der Gnade und des Lebens gepflanzt, das seine gastlichen Tore vor uns auftut, uns zu Kindern des Lichts, der Gnade und des Lebens umgestalten und erneuern will. Denn also lauten die süßen und tröstlichen Worte, womit Jakobus jetzt unser Herz laben und erquicken will: Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts, bei welchem ist keine Veränderung noch Wechsel des Lichts und der Finsternis. Was da unten für ein Reich der Finsternis, der Sünde und des Todes ist, das hat er uns zur Genüge gezeigt; aber nun will er uns auch zeigen, was von oben herab in diese untere Welt herniederströmt. Mag's da unten auch noch so bunt, noch so schaurig und gefährlich durcheinander gehen, da oben ist ein Licht- und ein Gnadenreich, wo kein Wechsel des Lichts und der Finsternis ist, wo ewiges Licht und eine ewige Gnade thront. Schon im Alten Bunde haben die Väter des Glaubens nach demselben emporgeschaut, wenn es ihnen zu dunkel wurde, wenn furchtbare Nächte über sie hereinbrachen. Dort hinauf hat ein Abraham geschaut, als der HErr ihn in jener Nacht aus seinem Zelte herausführte, und zu ihm sprach: siehe gen Himmel und zähle die Sterne: kannst du sie zählen (1. Mos. 15,5.)? Denn Abraham ward froh, dass er den Tag Christi sehen sollte (Joh. 8,56.). Dorthin hat ein Jakob geschaut, als sein erloschenes Auge den Stern aus Jakob suchte, und sein weissagender Mund seine Söhne segnete von den zukünftigen Gütern, und wartete auf das Heil (1. Mos. 49,18.). Dort hinauf hat ein David geschaut, als er in stillen Abendstanden zum Sternenhimmel emporblickte und von jenen Höhen sang, von welchen uns Hilfe kommt, oder von dem guten Hirten, der ihn weide auf einer grünen Aue und seine Seele zum frischen Wasser führe (Psalm 23,2.), und ihn noch im finstern Tale mit Seinem Hirtenstabe tröste (V. 4.); dorthin schaute ein Jesajas, der Evangelist des Alten Bundes, als er ausrief: ach, dass Du den Himmel zerrissest und fährst herab (Jes. 64,1.), als er weissagte: siehe, der HErr, HErr kommt gewaltig, und Sein Arm wird herrschen; Er wird Seine Herde weiden, wie ein Hirte, Er wird die Lämmer in Seine Arme sammeln und in Seinem Busen tragen, und die Schafmütter führen (Jes. 40,10-11.). Dorthin haben alle Väter im sehnenden und harrenden Glauben geschaut, bis sich das ewige Licht in Dem, der gesagt hat: ich bin das Licht der Welt, leibhaftig zu uns herniedergeneigt, und unter uns sich eingebürgert hat. Denn seht: der HErr hat den Himmel zerrissen; Der, in welchem ist kein Wechsel des Lichts und der Finsternis, ist herniedergestiegen in dem Sohne; der Sohn, des Vaters Ebenbild, ist eingebürgert auf Erden. Nun sind von oben herab, vom Vater der Lichter, alle gute Gaben und alle vollkommene Gaben unser geworden; denn die erste und vollkommenste Seiner Gaben ist uns geschenkt, der Sohn der Liebe selbst. Wie sollte Er uns mit Ihm nicht Alles schenken? Seitdem steht der Himmel offen über unserem Haupt, seitdem strömen die Lichtstrahlen der Gnade hernieder auf Alle die da dürsten nach der Gerechtigkeit vor Gott. Warum steht ihr draußen und kommet nicht herein? Wo die Sünde ist mächtig geworden, da ist ja die Gnade viel mächtiger geworden; wo Tod und Sünde geherrscht hat, da herrscht nun Gottes Gnade, die Gerechtigkeit Jesu Christi, da herrscht das ewige Leben.
Du fragst: wie werde ich ein Bürger in diesem Reich des Lebens und des Lichtes? Auf keinem andern Wege, als auf dem Wege der Geburt. Zwar gibt es Menschen, die an jeden andern Weg eher denken, als an diesen. Manche lassen sich dünken, sie werden Bürger dieses Lichtreiches, wenn sie seine Sitten und Gebräuche lernen, wenn sie die Sprache sich aneignen, welche hier gesprochen wird; wenn sie nach den Gesetzen des Reiches sich halten, die alle Ausbrüche der sündlichen Natur verbieten. Andere wollen es sich gefallen lassen, an den Steuerlasten Teil zu nehmen, die zur Ausbreitung des Reiches dienen sollen. Noch Andere sind bereit an des Reiches Kriegen Teil zu nehmen und mitzukämpfen durch Wort und Schrift. Gut! aber sind wir mit dem Allem schon Bürger des Lichtreiches geworden? Habt ihr nicht gelesen, dass an jenem Tage Leute auftreten werden, die noch Größeres getan haben, in Christi Namen geweissagt, Teufel ausgetrieben und viele Taten getan, und doch von dem HErrn und Richter den Bescheid erhalten: Er habe sie nie als die Seinen erkannt, sie haben von Ihm zu weichen als Übeltäter (Matth. 7,22.23.)? Warum sagt Er das? Weil ihnen das Eine fehlt, was die erste und letzte Bedingung des Bürgerrechts im Reiche des Lichts und des Lebens ist.
Denn so sagt unser Text: Er, der Vater des Lichts, hat uns gezeugt nach Seinem Willen durch das Wort der Wahrheit, auf dass wir wären Erstlinge Seiner Kreaturen. Seht, ein Bürger des Lichtreiches wird man nur durch Geburt, durch eine neue, göttliche Zeugung. Wie wir hineingeboren sind in das Fleisch, und mit ihm in das Nachtgebiet der Sünde und des Todes, so bedürfen wir auch hinübergeboren zu werden durch eine neue Geburt aus dem Geist in das Lichtgebiet der Gerechtigkeit und des Lebens, um durch Gottes Gnade hinfort errettet zu sein von der Obrigkeit der Finsternis, und versetzt in das selige Reich Seines lieben Sohnes (Koloss. 1,13.). Solche Geburt geschieht durch das Wort der Wahrheit, wenn es kräftig wird durch den heiligen Geist. Denn nur so empfangen wir von Gott Geist aus Seinem Geist, Leben aus Seinem Leben, Licht aus Seinem Licht; nur so werden wir Kinder des Vaters, der der rechte Vater ist über Alles, was Kind heißt im Himmel und auf Erden; nur so werden wir in Sein Bild erneuert und gleichgestaltet dem Ebenbilde Seines Sohnes, auf dass derselbige der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern (Röm. 8,29.).
Er will nichts Geringeres, als dass der armselige Erdenwurm, der am Boden kriecht, einzig bedacht, sein irdisches Teil dahin zu nehmen, schon hier soll Geist aus Geist geboren, Gottes Kind und Gottes Erbe und einst Priester und König im ewigen Reich unseres Gottes werden, gekrönt mit Gnade und Barmherzigkeit, Leben und Seligkeit. Hört ihr's, was ihr werden könnt, sollt, dürft? - Erstlinge der Kreaturen Gottes!
Ja:
Siehe, da ist Hand und Herz,
Du hast Deine Seel' gewaget
Unverzaget,
Und das Alles bloß allein,
Dass ich Dein
Und Du meine heißen könntest!
Wenn Du nicht vor Liebe brenntest,
Hätte das nicht können sein.
Nun, so fahre Alles hin,
Fahre hin, erlaubte Freude,
Meine Weide
Sei des HErren letztes Mahl
Vor der Qual;
Meine Ehre Deine Schande,
Meine Freiheit Deine Bande,
Meine Zier die Ros' im Tal.
Amen.