Wenn es von Henoch heißt, dass er ein göttliches Leben führte, so war das in einem viel höheren Sinne bei Jesu von Nazareth der Fall. In tiefgeheimnisvoller Art war Er mit dem Vater Eins. Seine menschliche Seele stand in ununterbrochenem Verkehr mit der Gottheit. Er war nicht allein in einer immerwährenden Gebetsstimmung, nein, er widmete auch überdies dem Gebete besondere Stunden und brachte ganze Nächte im Gebet hin. Er Lehrte seinen Jüngern, dass man allezeit beten und nicht lau werden sollte; Er ermutigte sie durch die Verheißung: Bittet, so wird euch gegeben, und trieb sie durch seinen heiligen Geist, Jedermann zu mahnen: Haltet an am Gebet!
Das Gebet ist ein wesentliches Stück der Gottseligkeit. Wir können Nichts tun aus uns selbst. Wir vermögen keine Flecken abzuwaschen, keiner Versuchung zu widerstehen und keine Pflicht zu erfüllen, wenn der Herr uns keine Gnade und Erbarmung in der Not zuschickt auf unser Gebet. Alle Religion ist ohne Gebet nur kaltes, totes Formenwesen, und das Feuer der Liebe zum Herrn verlischt, wenn es nicht immer wieder mit dem Öle des Gebetes genährt wird. Wie ein abgebrochener Zweig welken wir dahin, wenn wir nicht stets bei Christo, dem Weinstock des Lebens, im Gebete verharren. Darum lasst uns jederzeit dahin trachten, dass wir allezeit ein betendes Herz haben, voll von dem Geiste des Gebets sind und Alles von uns fern halten, was diesen Geist dämpfen kann. Lasst uns in Allem, was wir tun, dulden und genießen, hinsehen auf den Herrn. Auch wenn die Lippen sich nicht bewegen, kann dennoch das Herz beten. Mitten unter dem Geräusche der Welt können unsere sehnsuchtsvollen Seufzer doch aufsteigen zum Ohr und Herzen unsers Vaters im Himmel. Kein Anliegen, wie geringfügig es auch scheinen mag, ist zu unbedeutend, als dass es nicht ein Gegenstand unseres Gebetes werden sollte. In allen Dingen lasst eure Bitte in Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden!
Indessen sollten wir uns auch bestimmte Zeiten festsetzen für unser Gebet. Das öffentliche und mit Andern gemeinschaftliche Gebet ist eine heilige Pflicht und ein köstliches Vorrecht; allein man läuft dabei Gefahr, sich mit der äußeren Form zu genügen: darum lasst uns besonders dahin trachten, dass unsere Herzen auch bei jedem Gebet sich wirklich in den Himmel erheben. Das Gebet, welches wir allein und im Stillen verrichten sollen, ist wichtiger noch, aber auch mehr der Gefahr ausgesetzt, vernachlässigt zu werden. Der Herr Jesus sprach: Wenn du betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließe die Tür zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen. Jeder Christ sollte mit aller Gewissenhaftigkeit darauf halten, täglich mit dem Herrn allein zu sein. Dies sollte als die erste von all unsern Pflichten wohl empfunden und als das höchste unserer Vorrechte betrachtet werden, und diese Pflicht zu erfüllen, sollte allem Andern vorangehen. Was wir auch zu tun haben mögen und was auch Zeit und Verhältnisse von uns erheischen - so lasst uns doch nie einen Tag verleben ohne Gebet, und wenn wir keine Zeit dazu hätten, so sollten wir sie uns nehmen: ob wir sie auch nehmen von unsern Vergnügungen, von unserer Arbeit, von unserm geselligen Verkehr oder von unserem Schlafe. Dann aber lasst uns beten nicht in eilig daher gesagten Formeln, nur um damit unser Gewissen zu beschwichtigen, und nicht, um uns damit zu beruhigen, als hätten wir auf diese Weise ein nötiges Werk abgemacht, sondern so lasst uns beten, dass wir dabei unserm lieben Vater im Himmel die Herzen auftun und Kraft suchen auszuhalten in der Trübsal, geschickt zu werden in der Erfüllung unserer Pflichten und uns des Segens zu freuen, welchen der Herr uns jeden Tag zufließen lässt. Wir können niemals sicher sein, wenn wir das Gebet versäumen, sondern sind vielmehr wie ein Mann ohne Harnisch, der jeglichem Angriff des Feindes bloßgestellt ist. Anstatt Christo zu folgen, entfernen wir uns jeden Tag von Ihm, welchen wir ohne ernstes Gebet verleben. Alle, die sich von Ihm wegwenden, fangen ihren Abfall damit an, dass sie aufhören zu beten.
Herr, lehre Du mich beten beten und nicht lau werden beten ohne Unterlass wandeln vor Gott und so Dein Nachfolger werden.
Matth. 6,5-13. 14,23.26.41. Luk. 18,1-14. Matth. 7,7. Röm. 12,12. Koloss. 4,2. Eph. 6,18. Phil. 4,6.