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Hagenbach, Karl Rudolf - Wie die Liebe der Sünden Menge decke.

(Beim Beginn der Fasten.)

Text: 1. Petr. 4, 8.
Vor allen Dingen habt unter einander eine brünstige Liebe; denn die Liebe decket auch der Sünden Menge.

Ueber die Menge der Sünden hören wir so oft klagen unter uns, und wo wäre Einer, der nicht selbst schon unter dieser Sündenmenge geseufzt hätte? Hat er auch noch nicht den heilsamen Blick gethan in die Menge der eigenen Sünden, o so hat er doch nur um so schmerzlicher empfunden die Sünden Anderer, und über sie desto lautere Klage geführt. Ueber die Sünden der Väter und Vorväter seufzen die Söhne und Enkel; über die Sünden der Jugend grämt sich das Alter. Gegen die Sünde der Großen und Mächtigen erhebt hie und da ein sündiges Volk die sündigen Hände, und neue Sünden und Gewaltthaten entstehen aus den sündhaften Zuständen und Verhältnissen. Und wenn wir dann von da den Blick nach innen wenden, in die eigene Brust, was finden wir da wieder, als - der Sünden Menge? ein Herz, voll böser Neigungen und Triebe, voll Trotz und Verzagtheit, oder wenigstens doch voll Unvollkommenheit und Schwäche!

Aber wie? soll es denn einzig bleiben bei dieser Klage? einzig bei dem Gefühl des Druckes, den die Sünde von außen auf uns übt, einzig bei dem Gefühl der Schuld, das sie von innen in uns weckt? Sollen wir nicht vielmehr als Boten Gottes an Christi Statt verkünden das Wort von der Erlösung? O daß wir tausend Zungen hätten, es recht zu verkünden! Ja, von Erlösung hören die Menschen wohl gerne reden, die unter der Last der eigenen wie der fremden Sünden seufzen. Wie der Kranke von ferne auf den Tritt des Arztes lauscht, wie der Gefangene auf den Befreier wartet, der ihm seine Ketten löse, wie wir Alle aus dem langen harten Winter uns sehnen nach der Frühlingsluft; so sehnet die Menschheit sich nach Erlösung. Und wie hehr und lieblich klingt ihr dann das theure werthe Wort, daß Jesus Christus gekommen ist in die Welt, die Sünder selig zu machen! daß er unser Erlöser seyn will, unser Arzt, unser Retter und Befreier, er, der rechte Frühlingsbote einer schönern Zeit.

Ja, wohl lieblich und tröstlich klingt diese Freudenbotschaft allen denen, die im Glauben sie annehmen, die in ihr Herz sie aufnehmen, die sich erlösen, sich retten und bessern lassen wollen. - Aber wie viele sind ihrer? Frei und ledig werden möchten sie Alle von dem Drucke der Sünde; aber die Meisten auf ihre Weise, nach ihrem Sinne, nach ihrer Laune. Ach, wie manchen muß noch immer das Wort vom Kreuze, (wenn es ihnen auch nicht ein Aergerniß und eine Thorheit ist) doch nur ein Ablaßbrief für schon begangene oder, gar wohl ein Freibrief für künftige Sünden werden! Wie Wenigen ist es ein Geruch des Lebens zum Leben, eine ewig frische, nie versiegende Quelle der Liebe, aus der sie täglich Trost und Ermunterung schöpfen für sich und Andere? Und doch kann nur dann von Erlösung die Rede seyn im wahrhaft apostolischen, wahrhaft evangelischen Sinne des Wortes, wenn die Liebe, womit Christus uns geliebet hat, auch wirklich ausgegossen ist in unsere Herzen (Röm. 5,5), wenn die milde Gesinnung, die ihn belebte, auch die unsrige wird.

Wir treten mit dem heutigen Sonntage wieder in die Fastenzeit und nähern uns so wieder Woche für Woche den Tagen, in welchen die Christenheit ganz besonders an jene hohe Liebesthat ihres Herrn und Meisters sich erinnert. Fasten und äußere Bußwerke schreibt unsere Kirche keine mehr vor; aber daß wir ihm dem Herrn darbringen sollen unsere Leiber zum Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sey (Röm. 12, 1.2), darin besteht noch immer unser vernünftiger Gottesdienst und daran sollen wir immer wieder aufs Reue erinnern.

Und so möge denn das Wort unseres Textes besonders in dieser Zeit von uns beherziget werden: Vor allen Dingen habt unter einander eine brünstige Liebe; denn die Liebe decket auch der Sünden Menge.

Die Liebe decket der Sünden Menge! Eine große, wichtige Wahrheit, bei der es sich wohl verlohnen mag, länger zu verweilen. Darum laßt uns jetzt genauer darüber nachdenken: wie die Liebe der Sünden Menge decke; indem wir dabei sowohl auf die fremden Sünden außer uns, als auf die eigenen Sünden in uns unser Augenmerk richten.

Gott aber, der Du die Liebe selber bist, segne du das in Liebe gesprochene Wort also, daß es auch eine reiche Frucht schaffe der Liebe für Zeit und Ewigkeit. Amen.

1.

1. Die Liebe decket der Sünden Menge. Davon können wir uns schon überzeugen, wenn wir zunächst an die fremden Sünden denken, an die Sünden Anderer, unter denen wir mehr oder weniger zu leiden haben. Was ist es da anders, was die Menge dieser Sünden bedecket, oder sie wenigstens in einem mildern Lichte erscheinen läßt, sie uns erträglicher macht, als eben die alles bedeckende, alles tragende, alles glaubende, alles duldende Liebe? Während der Haß und der Mangel an Liebe, den wir gewöhnlich den Sünden und Fehlern unserer Brüder entgegensetzen, das Uebel nur ärger macht, während die Eigenliebe, die Bosheit, die Schadenfreude den Splitter in des Nächsten Auge zum Balken vergrößert, redet die Liebe, so gut sie kann den Fehlern Anderer das Beste, besonders dann, wenn sie zunächst unter diesen Fehlern zu leiden hat. Was jene lieblos aufdecken, deckt sie schonend zu; was jene vergrößern, vermindert und verkleinert sie; was jene aufwühlen und aufregen, das beschwichtigt und besänftigt sie. Dort heißt es: Auge um Auge, Zahn um Zahn: hier heißt es: segnet die euch fluchen, thut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen; und während dort durch den Widerstand und das Wiederschelten Sünde auf Sünde gehäuft, Bitterkeit aus Bitterkeit erzeugt wird, werden hier glühende Kohlen gesammelt auf das Haupt des Gegners und die Quellen des Haffes und der Unzufriedenheit verstopft. Während dort schonungslos alte Wunden aufgerissen und zu den alten neue geschlagen werden, wird hier auch das unwillkürlich Verletzte mit ängstlicher Sorgfalt geheilt, das Kranke gepflegt, das Schwache getragen. So decket die Liebe schon durch die Nachsicht, die sie Andern beweist und durch die Milde und Versöhnlichkeit, womit sie den Feinden zu vergeben geneigt ist, der Sünden Menge.

2. Aber, so wird man einwenden, und mit Recht: diese Nachsicht, diese Milde und Versöhnlichkeit dürfe sich denn doch nur auf die Beleidigungen erstrecken, die wir selbst von Andern erlitten haben, da sey es schön und edel zu verzeihen. Aber wie? sollen wir diese Nachsicht, diese Milde, diese Versöhnlichkeit, die wir dem Sünder schuldig sind, sollen wir sie auch beweisen der Sünde gegenüber, wo und wie sie sich zeige? Soll denn wirklich das Geschäft der ächten Liebe darin bestehen, immer nur zu decken und zu decken, so daß sie am Ende alle Schäden und Gebrechen überdeckt und übertüncht; soll sich denn ihr königliches Amt wirklich nur darin erweisen, daß sie ihren weiten Mantel, der zum Sprichworte geworden ist, ausbreitet über alles Schlechte und Verkehrte, es sorgsam zu verhüllen und zu verschleiern; ja, soll das wohl gar ihr Vorrecht seyn, das sie vor der Wahrheit und Gerechtigkeit voraus hat, auch das Saure süß, das Häßliche schön, das Thörichte weise, das Böse gut nennen zu dürfen? O gewiß, meine Freunde, seyd ihr darin mit mir einverstanden, daß wer so die Worte unseres Textes erklären wollte, sich mit dem ganzen übrigen Inhalt der Schrift in Widerspruch setzen müßte. Oder wer möchte es wohl im Ernst Liebe nennen, wenn Eltern die Fehler und Unarten ihrer Kinder, wenn Freunde die Schwächen ihrer Freunde, wenn Lehrer und Vorgesetzte die Sünden des Volkes, wenn Männer von Wicht und Ehre die schmählichsten Verletzungen des Rechts und der Ordnung ungerügt und ungestraft dahin gehen ließen? Das hieße doch wahrlich nicht Sünden decken im Sinne der Schrift, sondern sich fremder Sünden theilhaft machen. Oder wo hätten die Männer, welche uns die Liebe so warm empfehlen und so dringend aus Herz legen, wo hätten Petrus, Jakobus, Paulus und Johannes also gehandelt? wo Jesus Christus selbst? Aufgedeckt haben sie, er und seine Apostel, die Gebrechen des Volkes und die Schäden der Zeit, haben Sünde Sünde genannt und Thorheit Thorheit, und haben selbst der Liebsten dabei nicht geschont. Und gleichwohl haben sie uns gelehrt, und haben es durch die That erwiesen, daß die Liebe decke der Sünden Menge. Wie ist dieß nun zu verstehen? - Wie soll die Liebe Sünden zudecken auf der einen und die Wahrheit sie aufdecken auf der andern Seite, ohne sich mit einander in Zwiespalt zu setzen? Soll etwa das einemal die Wahrheit der Liebe, das anderemal wieder die Liebe der Wahrheit weichen und so ein unwürdiges, unsicheres Abkommen getroffen werden zwischen zwei gleich hoch gestellten christlichen Tugenden? Wer möchte dieß behaupten? - Aber sind denn wirklich Wahrheit und Liebe so entgegengesetzte Dinge? findet denn hier wirklich ein Streit der Pflichten statt? Die Wahrheit, sagten wir, decke die Sünden auf und die Liebe decke sie zu. Aber ist damit abgeschnitten, daß auch die Liebe die Sünden aufdecken kann, im Dienste der Wahrheit, oder die Wahrheit sie aufdecken im Dienste der Liebe? Ist denn damit gesagt, daß, was aufgedeckt werden muß, nicht auch wieder zugedeckt werden könne am rechten Ort und zur rechten Zeit? Ja, muß nicht eben, damit die Liebe gründlich decken und heilen könne, auch der Schaden der Sünde erst aufgedeckt und hie und da ein Herz dadurch verletzt und verwundet werden? Es kommt nur darauf an, in welchem Sinne, in welcher Weise, in welcher Absicht dieß geschieht. Decket nicht auch der Landmann erst das Erdreich auf und verletzt es mit der Pflugschaar, damit er den guten Samen hineinsäe und es dann wieder zudecke im stillen Hoffen zu Gott? Muß nicht der Wundarzt schmerzlich einschneiden in das frische Fleisch und die wunden Stellen aufdecken und bloßlegen, damit er sie desto gründlicher heile? Und so dürfen wir denn geradezu behaupten, die Liebe decke der Sünden Menge schon dadurch, daß sie die Sünden erst aufdeckt und sie dem Sünder zum Bewußtsein bringt; aber in der Absicht, sie wieder zuzudecken und zu heilen. Das Aufdecken thut sie immerhin ungern, und wo sie's thun, thut sie's mit Schonung und so wenig verletzend als möglich und verräth auch darin ihren himmlischen Ursprung. Und o wie verschieden ist dieses Aufdecken der Sünde, wenn es von der Hand der Liebe geschieht von jenem Aufwühlen und Aufreißen der Schäden, wie der Haß und die Feindschaft es üben! Offene Gräber, die niemand deckt, klaffende Wunden, die niemand heilt, das, das sind die einzigen Früchte jener rücksichtlosen Offenheit und Freimüthigkeit, die über alle zartern Regungen des Herzens und über die zartesten Verhältnisse des Lebens sich wegsetzt, und hinter welche so oft nur die Rohheit einer eigenliebischen oder rachsüchtigen Gesinnung, ja der gemeinsten Schadenfreude sich verstecket! Wie ganz anders die Liebe wo sie aufdecken, wo sie verletzen und strafen muß! Wie versucht sie da erst alle Mittel der Güte und der Milde, ehe sie zum Aeußersten schreitet! wie besinnt sie sich, ob nicht auf eine noch zartere, noch schonendere Weise dasselbe erreicht werden könnte. Und wenn sie zum Aeußersten schreiten, wenn sie aufdecken muß, wo sie lieber zudecken möchte, wenn sie wehe thun muß, wo sie lieber wohl thäte, wie denkt sie dann schon auf Mittel, das Verwundete wieder zu heilen, so bald es zur Heilung reif ist; wie ist es ihr einzig nur um die Besserung des Gestraften, um die Rettung des schon Aufgegebenen, um die Wiederbringung des Verlornen zu thun. So deckten Christus und die Apostel so deckten die ächten Reformatoren, so die wahren Menschen- und Vaterlandsfreunde aller Zeiten, die öffentlichen wie die geheimen Schäden auf, nur um desto gründlicher sie zuzudecken und zu heilen. So machten es von je weise Eltern in ihrem Hause, verständige Freunde in ihren Kreisen, und die treuen Wächter der öffentlichen Sitte dem öffentlichen Urtheil gegenüber. Das ist es, was die Schrift nennt aufrichtig seyn, wahrhaft und rechtschaffen seyn in der Liebe. (Ephes. 4,15.)

3. Aber die Liebe geht noch weiter. Nicht nur hilft sie die Sünden wieder decken, die sie im Dienste der Wahrheit aufdecken mußte, sie hilft auch die decken, die ohnehin schon aufgedeckt waren; hilft auch da verbinden, wo sie nicht verwundet, auch da trösten, wo sie nicht betrübet hat. - Groß und weit ist, wir wissen's alle, das Feld der Liebe. So weit die Welt der Uebel reicht und die Welt der Sünde, so weit und noch weiter hinaus reicht ihr Gebiet. Zwischen den Sünden der Einzelnen und den Nebeln im Großen und Ganzen findet eine unläugbare Wechselwirkung statt. Elend und Armuth erzeugen eine Menge von Sünden, und umgekehrt ist die Sünde wieder die Mutter des Elends und der Armuth. Da tritt denn eben die Liebe mitten in diese Verwicklungen und Verschlingungen des sittlichen wie des natürlichen Lebens hinein mit ihrem allsehenden Auge, mit ihrem alles umfassenden Herzen, mit ihrem alles belebenden Odem, mit ihren stets offenen Händen, mit ihrem tröstenden Wort, ihrer segensreichen That. Geistlich und leiblich, innerlich und äußerlich zugleich, mittelbar und unmittelbar greift sie ein, ein gesegnetes Werkzeug in Gottes Hand, und weiß dem Ausbruch der Sünde nicht nur hülfreich zu begegnen, sie weiß ihn womöglich zu verhüten. Oder sagt selbst, heißt das nicht der Sünden Menge decken im besten Sinne des Wortes, wenn durch weise Anstalten der Wohlthätigkeit, des Unterrichtes, der Erziehung, dem Müssiggang, der Unwissenheit, dem Laster gesteuert, wenn seine Quelle verstopft und dagegen dem redlichen Fleiße, dem stillen christlichen Sinne der Weg gezeigt wird, nicht nur mit Ehren durchs Leben zu kommen, sondern auch die höhern Güter des Lebens sich anzueignen und so zur einzig wahren, nie verwelkenden Glückseligkeit zu gelangen? Ja, die Liebe decket der Sünden Menge, indem sie der Sünde die Wurzel abschneidet, ihr die Quelle abgräbt, ihr die Nahrung entzieht und dagegen das Gute pflanzet, schützet, pfleget und heget wo immer sie kann.

4. Nicht nur aber ist die Liebe unermüdet im Gutesthun, im Schaffen und Wirken für das Wohl der Menschheit, sondern der unmittelbare Einfluß ihres Wesens selbst, den sie auf Andere übt, das Leben, das von ihr auf Andere überströmt und sich nach und nach der ganzen Gemeinschaft mittheilt, das, ja das vor allem decket der Sünden Menge. - Die äußere That ist viel werth, meine Freunde, und ohne sie giebt es keine wahre Liebe. Aber sie thut es nicht allein. Die Liebe hat auch ihre stille, ihre innere That, ihr geheimes und unsichtbares Wirken, und gerade in dieser stillen Wirksamkeit der Liebe, in dieser bescheidenen Selbstoffenbarung ihres Wesens liegt der Zauber und das Geheimniß ihrer erlösenden, ihrer Sündenbedeckenden Kraft.

So war es ja bei dem Erlöser selbst. Daß er Kranke geheilt, Hungernde gespeist, Todte dem Leben wieder gegeben, das waren alles Aeußerungen seiner Liebe, die wie alles, was von ihm ausging, erlösend, heiligend, bessernd auf die Menschheit einwirkten. Aber das, wodurch er doch eigentlich der Sünden Menge gedeckt, ja, wodurch er sie begraben hat für immer, das ist der gewaltige Eindruck, den seine ganze Erscheinung, seine himmlische Größe im Leben, seine göttliche Ruhe im Sterben hinterlassen hat. Und so wird es noch immer seyn bei allen wahren Christen. Oder wer könnte den wahrhaft Liebenden in seinem stillen Wirken beobachten, wer ihm in das liebende Auge schauen, wer ihn leiden sehen in stiller Ergebung und Geduld, ohne selbst dadurch in seinem Innern gereinigt und geläutert zu werden? Wer dürfte einen sündlichen Gedanken des Grolles oder der Rache aufkommen lassen in der Nähe der segnenden und verzeihenden Liebe? Wer muß nicht vielmehr zu ähnlichen Liebesgesinnungen sich angetrieben und ermuntert fühlen, wo ein reines Vorbild der Liebe ihm entgegen tritt? - Wie die Sonne allmählig die letzten Lagen des Schnees schmilzt, die letzten Eiseskrusten sprengt und erwärmend in das Erdreich eindringt, um es empfänglich zu machen für die edle Saat, die ihm soll anvertraut werden, so wirkt die Liebe mildernd auf ihre Umgebungen ein, vertreibt alle Kälte, alle Härte, allen Starrsinn aus den Herzen und macht sie weich und empfänglich, bildsam und beweglich für das Gute. - Und wenn denn an einem andern Orte der Schrift der Apostel Paulus sagt: die Liebe sey das Band der Vollkommenheit, (Col 3,14) so sagt er im Grunde dasselbe, was Petrus mit seinen Worten meint, die Liebe decke der Sünden Menge; denn eben wo durch die Liebe das Unvollkommene verdrängt, das Unedle veredelt, das Ungeistige vergeistigt, das Todte belebt wird - da wird ja auch der Sünden Menge von selbst auf immer bedeckt und begraben, ihre Macht wird gebrochen, und vollendet ist der Sieg der Erlösung.

II.

Die Liebe decket der Sünden Menge. Gilt dieser Ausspruch, wie wir gesehen haben, in seinem weitesten Umfang von den fremden Sünden außer uns; sollte er nicht auch gelten von den eigenen Sünden in uns, von den Schwächen und Gebrechen, deren unser Gewissen uns fortwährend anklagt und mit denen wir noch immer zu kämpfen haben? - Wenigstens sind die Worte unseres Textes von Vielen so verstanden und gerade vorzugsweise auf die Menge der eigenen Sünden gedeutet worden. Und in der That, wie könnte die Liebe in uns anderer Sünden decken wollen, wenn sie nicht auch bessernd und heiligend auf unser eigenes Wesen zurückwirkte? Aber freilich sind eben diese Worte unseres Textes auch schon von alten Zeiten her dahin mißdeutet und mißbraucht worden, als vermöchten wir durch äußere Werke der Liebe, durch Gefälligkeiten, die wir Andern im Leben erweisen, durch Opfer und Spenden für fromme Zwecke oder gar durch Stiftungen und Vermächtnisse nach unserm Tode den Schaden der Seele zu heilen, wo er noch nicht geheilt ist, als vermöchten wir damit die Unreinigkeit und Unlauterkeit des Innern zu bedecken, wie mit einem geborgten Kleide, oder als vermöchten Almosen das Feuer zu löschen, das in der Hölle eines von Gott entfremdeten Gewissens brennt! O ferne sey von uns, die wir die Liebe nicht zum Deckmantel der fremden Sünden machen wollten, sie nun zum Deckmantel der eigenen Sünde zu machen. Aber sollen wir damit den Sinn unseres Textes beschränken und schmälern, sollen wir darum jene andere, eben so deutliche Verheißung des Evangeliums aufheben, daß wer viel liebt, daß dem auch viel vergeben wird? (Luc. 7,47.) Nein gewiß nicht. Vielmehr müssen wir sagen: auch der eigenen Sünden Menge kann die Liebe decken wo sie rechter Art ist.

1. Dieß gilt schon, wenn wir die Sache nur erst nach ihrer oberflächlichsten Erscheinung betrachten, von den Sünden, welche der Welt in die Augen fallen und welche die Welt an uns richtet. Schon hier gilt das Wort des Herrn: mit eben dem Maaß, mit welchem ihr messet, wird auch euch gemessen werden, (Marc. 4, 24) und jenes andere: selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. (Matth. 5, 7.) Dem Liebenden, dem Milden, dem Versöhnlichen wird manches verziehen, was an Andern strenge gerügt wird. Hat er je den Frieden Anderer gestört, er kann auf Nachsicht, auf Verzeihung hoffen, da er selbst zu vergeben bereit ist und den ersten Schritt entgegenkommt. Hat er Aergerniß gegeben auf die eine oder die andere Weise, so wird die Demuth, womit er seinen Fehler eingesteht, die edle Unbefangenheit, mit der er ihn abbittet, die Bereitwilligkeit, die er zeigt, den Fehler wieder gut zu machen, ihm viele Herzen gewinnen. „Man kann ihm nicht zürnen“, heißt es dann. Die Liebe hat alles wieder ausgeglichen und bedeckt, und der Friede ist aufs Neue geschlossen.

Aber, sagt ihr, das ist ja doch nicht der rechte Friede, und ihr habt recht. Was hilft es, wenn Andere uns die offenkundigen Fehler vergeben, und wir uns nicht selbst vergeben können, wessen das Gewissen im Stillen uns anklagt? was hilft es, wenn Menschen uns freundlich ansehen, aber wenn der ewige Richter uns zürnet im Innern? - O reicht die Liebe nicht weiter im Bedecken unserer Sünden, als daß die schwachen, kurzsichtigen Menschen auf Augenblicke uns milder beurtheilen, dann ist uns noch nicht wahrhaft geholfen.

2. Aber sie reicht weiter. Nicht von den Menschen allein, von Gott heißt es: so ihr den Menschen ihre Fehler vergebet, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben;(Matth. 6,14) und auf Gottes Barmherzigkeit beziehen sich die vorhin angezogenen Worte: wer viel liebt, dem wird viel vergeben! - Freilich gilt es auch hier nicht so, als ob unsere schwache, unvollkommene Liebe den Himmel gleichsam bestechen und beschwichtigen, als ob sie ihm den Trost der Vergebung irgendwie abschmeicheln, abtrotzen, oder abverdienen könnte; auch nicht so, als ob das gute Herz und die sogenannte gute Meinung, uns schon gerecht vor Gott machte und uns die Bitterkeit der Rene und den ernsten Kampf der Buße ersparte. Wir wissen, daß wir nicht aus eignem Verdienst gerecht werden und daß nicht unsere Liebe es ist, die Gottes Liebe zu uns herabzieht, sondern daß vielmehr Gottes Liebe uns zuvorkommt und daß wir diese freie Gnade durch den Glauben uns anzueignen haben. Aber das wissen wir auch, daß die Liebe Gottes, die uns zuerst geliebt und uns zuerst verziehen hat, nun nachdem sie ausgegossen ist in unsere Herzen, auch allmählig alles ungöttliche Wesen in uns verzehret und aufreibt, ja, daß die Liebe Christi uns dringet, der Sünde mehr und mehr abzusterben und dem zu leben, der für uns gestorben und auferstanden ist. Wo die rechte christliche Liebe einmal die Herzen erfüllt, da ist auch immer der Ernst der Heiligung, und da nehmen wir es auch genau mit uns selber. Wie wir dort gesehen haben, daß die Liebe die Sünde Anderer aufdeckt, um sie desto gründlicher zuzudecken und zu heilen, so deckt sie auch - noch ehe sie den Splitter aus des Bruders Auge ziehen will - die eignen Sünden auf, damit vor allem des eigenen Geistes Auge klar und gesund sey, ein reiner Spiegel der Gottheit. Je stärker die Liebe in uns, desto strenger das Urtheil über uns selbst; denn weit entfernt, daß die christliche Selbstliebe in falsche Eigenliebe und Selbstgefälligkeit ausarte, ist sie vielmehr der Tod derselben; weit entfernt, daß sie uns in falsche Sicherheit einwiege, führt sie vor allem zur rechten Selbsterkenntniß und eben dadurch zur Besserung und Selbstveredlung. Die tägliche Wahrnehmung, wie wir es in der Liebe noch nicht so weit gebracht haben, als wir es hätten bringen sollen, wirkt beschämend und aufmunternd zugleich auf uns, und indem wir so, getrieben und gespornt vom Geist der Liebe, auch immer mehr zu wachsen suchen in ihr, indem wir allen Stolz, allen Haß, alle Bitterkeit und Leidenschaft in uns unterdrücken, schneiden wir auch in uns der Sünde die Wurzel ab und hemmen ihr Wachsthum; und so decket denn auch in uns die Liebe der Sünden Menge. Oder wäre es nicht so? Wer immer darauf denkt, wie er Gott gefalle, wie er Menschen beglücke, wie er sich rein und unbefleckt erhalte vor Gott und der Welt, wer an der Liebe Anderer sich erfreut und erbaut und sich täglich übt in Werken der Liebe, der ist gewiß auf dem besten Wege, der Sünde los zu werden, und will sie auch fürderhin ihre Macht an ihm versuchen, er hindert ihren Ausbruch, er zerbricht ihren Stachel, er dämpft und erstickt ihre Flamme. Ja, wie die Liebe das Band der Vollkommenheit ist in Beziehung auf unser Wirken nach außen, so ist sie es auch in Beziehung auf unsere Arbeit nach innen. Sie heiligt unser Wesen, sie reinigt unsern Sinn, sie macht uns demüthig, geduldig, ergeben; dankbar gegen Gott, hülfreich gegen jedermann, einig mit uns selbst. Sie treibet die Furcht aus und die böse Lust, öffnet das Herz dem Frieden Gottes und also bedecket sie der Sünden Menge.

Wollte aber dennoch jemand auftreten und sagen, die Ordnung des Heils sey doch eine andere; nicht die Liebe sey es, sondern der Glaube, durch den wir gerecht werden, dem sey es zur Beruhigung und uns allen zur Belehrung gesagt, daß ja von keiner andern Liebe hier die Rede seyn kann, als von der, die aus dem Glauben kommt und in der der Glaube sich thätig erweist, von keiner andern Liebe, als von der, womit Christus uns zuerst geliebet hat und die uns noch immer von oben geschenkt wird aus Gnaden durch den heiligen Geist.

Aber eben, weil die Menschen so oft sich an Formen und Worte hängen, weil so manche ein todtes Bekenntniß der Lippen schon für den Glauben selber halten, eben darum hat die Schrift dafür gesorgt, daß dieselben Wahrheiten auch in verschiedener weise und mit verschiedenen Worten und geoffenbaret würden. Sagt sie daher das einemal, daß wir allein gerechtfertigt werden durch den Glauben ohne des Gesetzes Werke und daß alles Sünde ist, was nicht aus dem Glauben geht, selbst wenn es den Anschein der Liebe hätte, so lehrt sie uns hinwiederum, daß der Glaube todt sey ohne die Werke der Liebe; denn so sagt Paulus: wenn ich einen Glauben hätte, der Berge versetzte und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts (1. Cor. 13.) Ueberhaupt wo wäre ein ächter Glaube ohne Liebe, wo eine ächte Liebe ohne Glauben? Wo der Glaube ist, da ist die Liebe, und wo die Liebe ist, da ist der Glaube. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe: diese drei, aber die Liebe ist die größte unter ihnen.

Darum noch einmal, liebe Brüder! Vor allen Dingen habet unter einander eine brünstige Liebe, denn die Liebe, ja die Liebe decket der Sünden Menge. Amen.