Inhaltsverzeichnis

Goetz, Christoph Wilhelm - Kurze Betrachtungen über die Leidensgeschichte Jesu - Siebente Betrachtung.

Des Lasters Pfad ist anfangs zwar
Ein breiter Weg durch Auen;
Allein sein Fortgang zeigt Gefahr,
Sein Ende Nacht und Grauen;
Der Tugendpfad, ist anfangs steil,
Läßt nichts als Mühe blicken;
Allein sein Fortgang führt zum Heil,
Sein Ende zum Entzücken.

Text: Joh. 13, V. 23 - 27.
Es war aber einer unter seinen Jüngern, der zu Tische saß an der Brust Jesu, welchen Jesus lieb hatte. Dem winkte Simon Petrus, daß er forschen sollte, wer es wäre, von dem er sagte? - Denn derselbige lag an der Brust Jesu und sprach zu ihm: Herr wer ist's? Jesus antwortete, der ist's, dem ich den Bissen eintauche und gebe, und er tauchte den Bissen ein und gab ihn Juda Simonis Ischarioth. Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn. Da sprach Jesus zu ihm: Was du thust, das thue bald.

Ein warnendes Beispiel, Geliebte, wie tief der Mensch sinken kann, ist uns in dem, was der Evangelist von dem Verräther Judas erzählt, aufgestellt. Kein Mensch wird auf einmal zum Verbrecher, nach und nach bemächtigt sich seiner das Böse. Ein Schritt auf der Bahn des Lasters zieht den andern nach sich, bis er in den Abgrund des Verderbens rettungslos sinkt. Denn, wie der Mensch im Guten erstarken kann, daß ein völliger Fall für ihn fast unmöglich ist; so kann er auch durch häufiges Thun des Bösen so tief sinken, daß ein Aufstehen vom tiefen Falle fast undenkbar ist, und so tief gesunken erscheint uns Judas Ischarioth nach dem, was das Evangelium von ihm uns berichtet. Zur Warnung lasset uns heute

die Verhärtung des Sünders

betrachten, und zwar wollen wir nach dem, was wir von dem Verräther Judas vernehmen, kennen zu lernen suchen, wodurch sie sich zeigt.

Es ist aber dreierlei, was den verhärteten Sünder kenntlich macht, nämlich

  1. Mangel an allem menschlichen Gefühl;
  2. Taubheit für jede Warnung und Ermahnung;
  3. Blindheit für jede Folge der Sünde.

1.

Dem verhärteten Sünder mangelt alles menschliche Gefühl; jede sanftere Regung ist seinem Herzen fremd. Dieß sehen wir recht deutlich an dem Verräther Judas. Lange hatte er an der Seite seines göttlichen Meisters gelebt; auch er hatte aus seinem Munde das ergreifende Wort der Wahrheit vernommen; auch zu seinem Herzen tönte die freundliche, liebevolle Rede von den Lippen desselben, auch er war Zeuge der großen Thaten, der himmlischen Milde und der Reinheit des Herzens seines Herrn; auch er hatte erst ein Zeichen der Liebe bei der allgemeinen Fußwaschung von seinem Meister erhalten. Schon allein der Anblick des Erhabnen, der Ausdruck des Kummers in dessen Antlitz, denn der Heilige war ja betrübt im Geiste, hätte ihn rühren, hätte ihn aus dem Sündenschlafe aufwecken und zur Erkenntniß des Gräuelvollen seines Vorsatzes führen sollen - aber vergeblich, er ist unempfänglich für jedes menschliche Gefühl. Trotz aller Liebe seines Freundes, seines erhabenen Meisters, reift der Plan zur verabscheuungswürdigen That immer mehr in seiner Seele.

Durch Verläugnung jedes menschlichen Gefühls zeigt sich die Verhärtung des Sünders immer. Es ist der Fluch der Sünde, daß derjenige, welcher sie begeht, nicht nur sich selbst Elend bereitet, sondern auch seine Umgebung unglücklich macht, und es muß daher auch schon deßhalb bei dem, der im Thun des Bösen trotzig verharret, alles Erstorbenseyn des menschlichen Gefühls, menschlicher Theilnahme vorausgesetzt werden, weil ja eben das tausendfache Leid, was der Sünder seiner Umgebung zuzieht, ihn außerdem rühren und auf bessere Wege leiten müßte. Gefühllosigkeit zeigt uns die That eines Judas, das zeigen uns Verbrechen manchfacher Art, die zu allen Zeiten begangen wurden. Erbarmungslos mordet die Rache den Gegenstand ihres Hasses; schonungslos überfällt die Habsucht den Wehrlosen; selbst den heiligsten Banden der Natur wird Hohn gesprochen, und es führen Mütter nach ihren eigenen Säuglingen, Kinder nach ihren Eltern, Geschwister nach ihren Geschwistern den Todesstreich. Wer nennt die Schandthaten und Gräuelthaten alle, die der Mensch, nur der Sünde dienend, vollbrachte, und durch welche er sich mit schaudererregender Grausamkeit unter das Thier erniedrigte? - Von rohen Bürgerbanden, wenn die Geisel des Kriegs oder der Empörung über ein Land geschwungen wurde, ist zu allen Zeiten so wenig menschliches Erbarmen geübt worden, als von dem beleidigten Stolze, vom Neide und Geize, die scheußlicher noch, im Finstern schleichend, sich ihres Opfers bemächtigen. Weg mit diesen Entsetzen erregenden Bildern! Aber das lasset uns bedenken, daß der Teufel umher gehet, wie ein brüllender Löwe und suchet, welchen er verschlinge, daß, wer dem Laster ausweichen will, vor dem ersten Schritte auf der Bahn, die dazu führt, erbeben müsse, daß Wachsamkeit und Gebet uns Schwachen allen ohne Ausnahme Noth thut. Wer noch nicht versucht ist, kann seiner Tugend sich nicht rühmen, und wer steht, der sehe wohl zu, daß er nicht falle, daß ihn das Böse nicht mit furchtbarer Gewalt ergreife und zum tiefsten Verderben fortreiße.

2.

Der verhärtete Sünder ist taub gegen jede Warnung und Ermahnung. Wie vielfach gewarnt war Judas der Verräther? So oft suchte ihn sein Freund, sein göttlicher Meister zurecht zu weisen, aber vergebens. Schon einmal an dem feierlichen Vorabend seiner Leiden hatte Jesus die ernsten Worte gesprochen: Ihr seyd nicht alle rein. Sie galten ihm, er hätte es wohl wissen können, aber er war taub gegen die Warnung. Wiederum sprach Jesus: Die Schrift wird erfüllet, der mein Brod isset, tritt mich mit Füßen! - Mich meint er, konnte Judas sich sagen, ich verläugne das Gefühl der Liebe, der Dankbarkeit, ich trete den Geliebten in Staub, aber es dringt nicht zu Judas Herzen. Einer unter Euch wird mich verrathen, fügte Jesus seiner Rede hinzu, und da die Jünger fragten, wen er meine, und Judas selbst die Frechheit hatte, sich unter die Fragenden zu mischen, sagte er: Der ist es, dem ich den Bissen reiche, und gab ihn dem Judas. Judas sah sich also erkannt, sah seinen Plan entdeckt, sah, man wisse es, wer der Verräther sey. Aber er vernimmt dieses nicht, sein Sinn brütet Böses und er ist taub gegen jede Warnung und Ermahnung. Warnende Stimmen umgeben jeden, der Böses thut. Natur, Vernunft, Gewissen, geoffenbartes Wort Gottes, bald dieß, bald jenes besonders laut, bald alle vereinigt, verkündigen den heiligen Willen des Herrn. Nicht leicht läßt sich das Gewissen einschläfern, nicht schnell wird es betäubt, aber dem, der im Bösen verharrt, wird endlich der Ruf desselben unvernehmbar. Und, das ist der Fluch der Sünde, daß sie den Menschen verhärtet und mit unaufhaltsamer Eile dem Verderben zutreibt.

So zeigt es sich noch immer. Vergebens wird dem Leichtsinnigen zugerufen: Wehre deinem Leichtsinne, scheue das Auge Gottes, dieser Weg führt dich zum Verderben! Er wandelt dennoch die Bahn der Thorheit und erkauft eine kurze Lust mit langem Schmerz. Vergebens hören die Unerfahrnen, die Eitlen den Zuruf: Trauet nicht der lockenden Stimme der Verführung! Haltet nicht Schmeicheleien für Wahrheit! Folget nicht den Forderungen der Eitelkeit! Prüfet mit Ernst, ob das, was euch jetzt reizend erscheint, nicht später zu eurem Verderben gereichen werde. Die Sünde trägt den Sieg davon, und erst händeringend über den unersetzlichen Verlust wird der einstigen Warnung gedacht. Vergebens läßt die ewige Erbarmung Gottes, welche nicht den Tod des Sünders will, tausendfache Hindernisse eintreten, welche der Verbrecher erst aus dem Wege zu räumen hat, um die Gräuelthat zu vollbringen; er achtet ihrer nicht, sie hemmen vielleicht nur augenblicklich seinen Lauf; aber sie bringen ihn nicht zur Erkenntniß seiner Sünde. Ja, die Sünde, einmal mächtig geworden, macht den Menschen taub gegen jede Warnung, jede Lehre. Der verhärtete Sünder hört nicht die Stimme Gottes, er vernimmt sie nicht in seinem Wort; er achtet ihrer nicht in seinem Herzen; er begreift sie nicht aus dem Munde treuer Freunde, weiser Rathgeber; sie ertönt ihm nicht aus wunderbaren Fügungen, aus dem überraschendsten Zusammentreffen von Umständen; er wandelt hin in seiner Verhärtung, als das Kind der Sünde, in die Nacht des Verderbens.

3.

Der verhärtete Sünder ist blind über die Folgen seiner Sünde. Judas konnte wohl berechnen, wie gering und flüchtig der Lohn seiner Sünde seyn, wie wenig er ihm nach vollbrachter That genügen würde; er konnte die Reue ahnen, die ihn zur Verzweiflung bringen würde; er konnte den Abscheu seiner Genossen, der übrigen Jünger des Herrn und aller Anhänger Jesu, den sein Verrath ihm zuziehen würde, sich denken. Judas kannte die feile Verworfenheit der jüdischen Obersten, die nur blutgierig nach dem Opfer ihres Ehrgeizes verlangten, und von denen zu erwarten war, daß sie des Verräthers spotten würden, wenn sie ihren Zweck erreicht hätten. Aber dieß alles sah er nicht. Sein geistiges Auge war geblendet.

Umnachtet ist der Blick des Menschen, dessen sich das Böse bemächtigt hat, und erst, wenn die That vollbracht ist und die Qualen der Reue ihn geißeln, fällt die Decke von seinen Augen und in gräßlicher Klarheit liegt seine Verworfenheit vor ihm. So zeigt sich uns das Laster, so der verhärtete Sünder noch immer. Der Verbrecher, der seinen Mitbruder mordet, sieht nicht das Hochgericht; der Rachsüchtige, der der losgelassenen Leidenschaft des Zornes fröhnt, sieht nicht das blutige Opfer seiner Wuth, vor dem er, zur Besinnung gekommen und abgefühlt, händeringend stehen wird; der Betrüger, welcher auf Raub ausgeht, sieht nicht den Blick der Verachtung, der ihn zu Boden drückt, wenn seine That an das Licht gekommen seyn wird. Ach, wir alle sind immer dann geblendet, wenn wir mit hellem Auge die Folgen unserer Thorheit und Sünde sehen sollten. Keiner, der dem tiefsten Falle entrinnen will, darf sich vor demselben sicher glauben. Den kleinsten Anfang im Bösen scheuen, ist das sicherste Mittel, vor dem Alles überwältigenden Einflusse desselben uns zu bewahren. Darum lasset uns wachen und beten, daß wir nicht in Anfechtung fallen, denn der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.

Heiliger Gott, der du Gutes nur liebst, die Sünde aber, das Böse verabscheuest, o gib uns Kraft zum Guten! Stehe uns bei mit deiner mächtigen Hülfe, gegen das Unrecht zu kämpfen, damit wir dir immer wohlgefälliger werden, und den Frieden eines guten Gewissens uns bewahren für Zeit und Ewigkeit! Amen.