Here, der du sterbend noch für die,
Die dich erwürgten, batest:
Der du vor deinem Vater sie
So liebevoll vertratest;
Wann werd' ich dir doch ähnlich seyn
Und meinen Feinden gern verzeih'n?
Ein Sünder, dem noch Rache glüht
Im aufgebrachten Herzen,
Der noch sein Wohlgefallen sieht
An seiner Feinde Schmerzen,
Besteht vor deinem Angesicht,
O Gott der Lieb' und Langmuth, nicht!
Text: Joh. 13, V. 11.
Denn er wußte seinen Verräther wohl; darum sprach er: Ihr seyd nicht alle rein!
An dem feierlichen Abend, an welchem der Herr das heilige Abendmahl eingesetzt und durch das Fußwaschen seinen Jüngern ein Beispiel der Demuth gegeben hatte, dem sie nachfolgen sollten, sind diese Worte gesprochen. Mit der höchsten Milde gab er durch die Aeußerung: ihr seyd nicht alle rein, zu erkennen, daß er seinen Verräther wohl wußte und hat uns damit, und mit seinem ganzen Verhalten gegen seinen Verräther an jenem Abende zugleich ein Beispiel hinterlassen, wie wir selbst den Feind lieben sollen. Das Verhalten Jesu gegen den, den er als seinen Verräther kannte, sey der Gegenstand unserer Betrachtung.
Die meisten verbinden mit dem, was sie durch den Ausdruck Feind bezeichnen, verschiedene Begriffe. Viele nennen schon diejenigen ihre Feinde, die ihre Ehre gekränkt, ihre Eitelkeit beleidiget, oder einmal eine entschiedene Abneigung, ein entschiedenes Widerstreben gezeigt haben. Wirklich kann indessen nur der Feind eines Andern heißen, der dadurch offenbar feindselige Gesinnungen zeigt, daß er des Letztern Unternehmungen zu hindern sucht, dessen Unglücks sich freut, dessen Liebe mit Haß und Undank lohnt, und, unter der Maske der Anhänglichkeit, den Fall desselben herbeizuführen sucht.
Viele glauben nun schon diejenigen, welche sie einmal verletzten, wenn auch nicht hassen, doch mindestens gleichgültig behandeln zu dürfen, und dieß natürlich weit mehr noch Feinden im ganzen Sinne des Worts. Ja die Welt hat es nicht selten für Stumpfsinn oder Schwäche erklärt, den Feind zu lieben. Aber der Geist der Welt ist auch nicht der Geist Gottes. Das Beispiel Jesu belehrt uns eines ganz andern.
Die feierliche Versammlung, in der sich Jesus mit seinen Getreuen am Vorabende seines Todes befand, war vielleicht besonders geeignet, den treulosen Jünger für den Verrath, den er im Schilde führte, zu züchtigen. Für die übrigen Jünger würde ein Wort ihres Meisters hingereicht haben, den Bösewicht zu bestrafen. Sie, die bis jetzt so viel Muth, so viel Entschlossenheit in Gefahren, so viel Anhänglichkeit an ihren Herrn und Meister bewiesen hatten, wie hätten sie ihn nicht kräftigst beschützen sollen? Wie sollten sie auch nur einen Augenblick gezögert haben, die Schandthat ihres Mitgenossen, die ihren geraden und redlichen Sinn im Innersten empören mußte, auf das Empfindlichste zu ahnden? - Ueberdieß hätte der Herr ihrer Hülfe ja nicht einmal dazu bedurft, er, dem Legionen Engel zu Gebote standen, dem alle Gewalt übergeben war, er bedurfte des ohnmächtigen menschlichen Arms nicht, um einen Bösewicht zu bestrafen. Doch in des Heiligen Seele kommt kein Gedanke von Rache, er stellte alles dem anheim, der gerecht richtet. Lasset uns das zuerst in seinem Verhalten gegen den beachten, von dem er wohl wußte, daß er sein Verräther war.
Jesus übte an seinem Feinde keine Rache. O, daß auch wir so handelten! Aber des Menschen bemächtigt sich so leicht das Gefühl, was wir mit dem Ausdruck Rache zu benennen pflegen. Sich zu rächen, ist der erste Gedanke, der in Tausenden nach erlittener Beleidigung entsteht; wie diese Rache geschickt auszuüben sey, darauf sinnen sie Tage und Nächte. Es bedarf dazu keiner so empörenden, feindseligen Handlung, als der Verrath eines Judas ist; für viele reicht schon ein unbedachtsam ausgesprochenes Wort aus, einen ihrer Brüder für ihren Feind zu erklären, sie mit Zorn zu entflammen, der ihr Angesicht röthet oder erbleichen macht. Wie sucht dann der Erzürnte, der Beleidigte das kränkendste, das bitterste Wort, um die angethane Beleidigung zu rächen, um den Gegenstand seiner Rache auf das Tiefste zu beugen. Und nicht etwa nur im Leben des Fremden mit dem Fremden, des Gebieters mit dem Untergebenen sehen wir solche Ausbrüche wilder Leidenschaft; auch die heiligsten Bande der Natur werden dadurch gelöst. Rache kocht hie und da selbst im Herzen des Bruders gegen den Bruder, des Freundes gegen den Freund, des Gatten gegen den Gatten. Wollen wir die Nachfolger Jesu an der Macht erkennen, mit der sie sich beherrschen; an der Kraft, mit der sie ihren Leidenschaften Gewalt anthun; an der Stärke, mit der sie ihren Zorn besiegen: ach leider werden wir wenig wahre Verehrer ihres Heilandes finden! Wenige, die auch nur um den tausendsten Theil so gekränkt, als es Jesus von seinem Verräther war, des Wortes gedächten: „Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr! Lasset die Sonne nicht untergehen über euern Zorn; wer seinen Bruder nicht liebet, der er siehet, wie kann der Gott lieben, den er nicht siehet? - Und doch ist damit, dem Feinde die an uns verübte Beleidigung nicht wieder zu vergelten, noch gar nicht alles gethan; doch ist bei weitem noch nicht genug, sich an dem Beleidiger nicht zu rächen. Ganz andere Beweise von Liebe gibt der Herr noch seinem Feinde.: 1. Um seinen Jüngern ein Beispiel der Demuth zu geben, wäscht Jesus ihnen am letzten Abend vor seinem Tode die Füße, ein Dienst, zwar allgemein im Morgenlande, aber doch sonst nur von Knechten den Gästen erwiesen, und siehe, Jesus erzeigt denselben auch dem, den er wohl als seinen Verräther kannte, der mit wahrhaft feindseligen Gesinnungen ihm gegenüber stand; er demüthigt sich vor ihm, verrichtete an ihm einen gemeinen Knechtsdienst. Laßt uns das zweitens in dem Verhalten Jesu bemerken. Der natürliche Mensch möchte fast sagen: das ist zu viel. Als die allermildeste Strafe hätte Judas eine Demüthigung verdient, statt dessen beugt sich der Meister vor dem verrätherischen Jünger und demüthigt sich vor ihm. Was hatte Jesus von dem Treulosen für diesen Dienst anders zu erwarten, als Hohn und Verachtung? - Aber dieses macht den Göttlichen nicht irre. Er demüthigt sich vor seinem Feinde; er sucht ihn durch einen neuen Beweis der Herablassung, des Wohlwollens und der Güte zu gewinnen, und er hat und damit ein Beispiel gegeben, dem wir nachfolgen sollen. Es ist nicht genug, Christ, daß du deinen Gegner nicht schmähst, daß du ihn nicht verfolgt, daß du dich begnügst, ihn kalt und gleichgültig seinen Weg ziehen zu lassen, mein, wenn die Gelegenheit sich dazu darbietet, sollst du dich vor ihm demüthigen, vielleicht daß du ihn dadurch gewinnst. Ach, das däucht dem schwachen Herzen eine schwere Pflicht zu seyn. Solche Liebe, die den Freund, den Verwandten, den Hülfsbedürftigen umfasst; wollten wir uns anzueignen suchen; aber den Feind zu lieben, ja uns vor ihm zu demüthigen, das ist eine Pflicht, deren Erfüllung Tausenden unmöglich dünkt. Ja, manches stolze Herz weit entfernt solche Pflicht zu üben, wird schon durch die Aufforderung dazu empört. Und doch verlangt diese Selbstverläugnung der, der auf alle äußere Ehre, auf allen Glanz, auf alles Wohlbehagen verzichtete, um uns zu erretten. Wer Fleisch und Blut in dem Augenblick, wo er sich gekränkt und beleidigt glaubt, fragt, was er zu thun habe, der wird freilich keine andere Antwort erhalten, als daß er seinen Gegner beschämen, erniedrigen, das angethane Unrecht wieder vergelten müsse; wer aber Gott fragt, der wird den Ausspruch vernehmen: „Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; thut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr Kinder seyd eures Vaters im Himmel. Der ungeheiligte Mensch ist besorgt, sich etwas zu vergeben, Schwäche an den Tag zu legen, wenn er dem Beleidiger verzeiht; der angeborne Stolz heißt ihm darnach zu ringen, daß er Etwas gelte, daß er geehret sey vor der Welt, und dieses kann freilich mit einer Demüthigung vor dem Feinde nicht bestehen; aber das Wort des Herrn lehrt uns, daß es keine Stärke gibt, als die Stärke, welche in dem Bewußtseyn bestehet, Gott zum Freunde zu haben; daß es keine wahre Ehre gibt, als die Ehre, welche durch Befolgung des Willens Gottes erlangt wird; sein Wille ist aber, wie uns das Wort und das Beispiel seines Sohnes zeigt, den Feind zu lieben. Dem Göttlichen genügt es nicht, vor dem Feinde sich zu demüthigen, sein Vergeben zu verschweigen und keine Rache an ihm zu üben; er vollbringt das Höchste, was die Liebe dem Feinde erweisen kann, er sucht ihn zu bessern, sucht ihn zur Erkenntniß seiner selbst und damit zur Erkenntniß des Verabscheuungswürdigen seines Vorhabens zu führen. Laßt uns das drittens in dem Verhalten Jesu gegen seinen Verräther bemerken.
„Ihr seyd nicht alle rein“ - äußerlich, wollte der Herr damit sagen, seyd ihr alle gereinigt; innerlich seyd ihr es nicht alle; einer ist unter euch, der sein Herz nicht Gott, der es dem Satan geweiht. Einer ist unter euch, der von der Seligkeit nichts wissen will, die ich denen verheißen habe, welche reines Herzens sind. Judas mußte wissen, daß er der eine sey, den der Herr als unrein bezeichnet. - Die sanfte Rede sollte in das Tiefste seiner Seele dringen und ihn zur Erkenntniß seiner selbst, und zur Sinnesänderung führen. Noch blieb es seinem freien Entschlusse anheimgestellt, ohne daß er weitere Vorwürfe von andern zu fürchten hatte, das verabscheuungswürdige Vorhaben aufzugeben. Diese unendliche Sanftmuth und Liebe sollte die Härte seines Herzens erweichen; aufwachen sollte er aus dem Schlafe der Sünde und das Wort seines Meisters sollte ihn zurückführen zu dessen Herzen. So begegnet der Herr dem größten seiner Feinde. Wo sind die Nachbilder dieses Vorbilds? - Wo ist im Großen und Kleinen, im großen Haushalt bürgerlicher Verbindungen und im kleinen des Familienlebens das Bestreben sichtbar, den wirklichen Beleidiger zu bessern, statt zu verderben? - Wo sind die Edlen zu finden, die, wirklich gekränkt, mehr über die Sünde des Beleidigers, als über ihren eignen Schmerz trauern; deren erster Gedanke es ist, den Verirrten auf den Weg des Lebens zurückzuführen? Die Sünde herrscht über unsern sterblichen Leib und wir sind Glieder eines verderbten Geschlechts; aber keine Art der Sünde ist häufiger und verklagt uns schwerer, als die der Lieblosigkeit. Ist es doch bei Vielen, als ob sie ihre Seligkeit geringer achteten, als die Wonne, an dem Feinde sich zu rächen.
Wohl sprechen Viele, sie haßten ihren Feind nicht; sie würden ihm sogar, wenn er sich in Noth befände, thätig helfen und ihn unterstützen; aber ihm die Hand zur Versöhnung zu bieten, selbst wenn sie die Beleidiger waren; sich vor ihm zu demüthigen, bestünde diese Demüthigung auch nur in der Anerkennung ihres verübten Unrechts: das sey ihnen, erklären sie, unmöglich. O der thörichten, der sündlichen Sprache! Im Herzen des wahrhaft Frommen darf keine Rache, kein Haß, keine Erbitterung wohnen. Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm. Nur wer viel geliebt, dem wird auch viel vergeben werden. Euch, ihr Unversöhnlichen, wird einst der Zuruf des Herrn: „Weichet von mir, ihr Uebelthäter, ich habe euch nie erkannt“ - Verdammniß bringen! O, daß wir doch der falschen Ruhmsucht, doch dem Stolze ganz entsagten; daß dein erhabenes Beispiel Jesu, versöhnlicher, liebevoller seyn, uns lehrte; daß wir deiner Gnade und Barmherzigkeit und nie durch feindselige, gehässige Gesinnungen unwürdig machten! O, daß durch uns auch nicht eine Seele gekränkt, bekümmert würde; o, daß wir alle Brüder liebten, und selbst den Feinden Retter ihres Seelenheils würden! Amen.