Von dem schönen Liede Tersteegens: „Kommt Kinder lasst uns gehen,“ heißt der zweite Vers:
Es soll uns nicht gereuen
Der schmale Pilgerpfad,
Wir kennen ja den Treuen,
Der uns gerufen hat.
Kommt, folgt und trauet dem;
Ein Jeder sein Gesichte
Mit ganzer Wendung richte
Fest nach Jerusalem.
Dieser Vers, namentlich seine letzten Worte, eignen sich zum Wahlspruch eines jeden Christen, insofern er als ein Pilgrim auf Erden das Jerusalem, das droben ist, die himmlische Gottesstadt, zu suchen hat. Aber die Weisung, sein Angesicht nach Jerusalem zu richten, ist nicht bloß in Beziehung auf das himmlische Jerusalem zu befolgen, sondern auch in Beziehung auf das irdische; denn letzteres ist die Stätte, wo die Kirche Jesu Christi, deren Glieder wir Alle sind, ihren Anfang und ihren Ausgang fand. Es ist daher Pflicht der Gemeinde Gottes, von Zeit zu Zeit und besonders in den Pfingsttagen ihren Blick nach Jerusalem und auf die Anfänge der christlichen Kirche zu richten. Es bieten sich aber in jener Zeit in Jerusalem die stärksten Gegensätze unserm Blick dar. Auf der einen Seite sehen wir eine Gemeinde voll heiligen Geistes, die Ein Herz und Eine Seele war, die beständig blieb in der Apostel Lehre, im Brotbrechen, in der Gemeinschaft und im Gebet; eine Gemeinde, die durch Machtwirkung Gottes von dem teuflischen Unkraut, das im Herzen des Ananias und der Sapphira wucherte, gereinigt war; eine Gemeinde, die für ihre menschliche Schwachheit, die sich im Murmeln der griechischen Witwen gegen die hebräischen kund gab, in der Weisheit der Apostel ein Heilmittel fand, und die schönste Blüte kirchlichen Lebens darin entfaltete, dass auch die mit dem äußerlichen Geschäft der Almosenpflege betrauten Männer voll heiligen Geistes und Glaubens waren, ja zum Teil die Gaben des Wundertuns und unwiderstehlicher Weisheit im Reden empfangen hatten. Auf der anderen Seite sehen wir, wie Jerusalem, berufen des großen Königs Stadt zu sein, auf dem heillosen Wege ist, Sodoma und Ägypten zu werden. Jerusalem, wo von je her die Propheten umgekommen waren, wo der Herr gekreuzigt worden, wo die Apostel ins Gefängnis geworfen und gestäupt wurden, ist nun auch im Begriff, das erste Märtyrerblut eines Zeugen Jesu Christi zu vergießen. Diese Begebenheit führt unser Teilabschnitt uns vor die Augen.
Stephanus aber, voll Glaubens und Kräfte, tat Wunder und große Zeichen unter dem Volk. Da standen etliche auf von der Schule, die da heißet der Libertiner, und der Cyrener, und der Alexanderer, und derer, die aus Cilicia und Asia waren, und befragten sich mit Stephano. Und sie vermochten nicht zu widerstehen der Weisheit und dem Geist, aus welchem er redete. Da richteten sie zu etliche Männer, die sprachen: Wir haben ihn gehört Lästerworte reden wider Mosen und wider Gott. Und bewegten das Volk, und die Ältesten, und die Schriftgelehrten, und traten herzu, und rissen ihn hin, und führten ihn vor den Rat; und stellten falsche Zeugen dar, die sprachen: Dieser Mensch hört nicht auf zu reden Lästerworte wider diese heilige Stätte und das Gesetz. Denn wir haben ihn hören sagen: Jesus von Nazareth wird diese Stätte zerstören und ändern die Sitten, die uns Moses gegeben hat. Und sie sahen auf ihn alle, die im Rate saßen, und sahen sein Angesicht wie eines Engels Angesicht. Da sprach der Hohepriester: Ist dem also? Er aber sprach: Ihr Halsstarrige und Unbeschnittene an Herzen und Ohren, ihr widerstrebt allezeit dem heiligen Geist, wie eure Väter, also auch ihr. Welche Propheten haben eure Väter nicht verfolgt und sie getötet, die da zuvor verkündigten die Zukunft dieses Gerechten, welches ihr nun Verräter und Mörder geworden seid? Ihr habt das Gesetz empfangen durch der Engel Geschäfte, und habt es nicht gehalten. Da sie solches hörten, ging es ihnen durchs Herz, und bissen die Zähne zusammen über ihn. Als er aber voll heiligen Geistes war, sah er auf gen Himmel, und sah die Herrlichkeit Gottes, und sprach: Siehe, ich sehe den Himmel offen und des Menschen Sohn zur Rechten Gottes stehen. Sie schrien aber laut und hielten ihre Ohren zu, und stürmten einmütiglich zu ihm ein, stießen ihn zur Stadt hinaus, und steinigten ihn. Und die Zeugen legten ab ihre Kleider zu den Füßen eines Jünglings, der hieß Saulus. Und steinigten Stephanum, der anrief und sprach: Herr Jesus nimm meinen Geist auf! Er kniete aber nieder und schrie laut: Herr behalte ihnen diese Sünde nicht! Und als er das gesagt, entschlief er.
Apostelgesch. 6, 8-15; 7, l. 31-59.
Dem Almosenpfleger Stephanies erging es wie so manchem Mann in der heiligen Geschichte, die Bedeutung seines Namens erfüllte sich in seinem Leben, oder vielmehr in seinem Tod. Das Wort Stephanus bedeutet einen Kranz oder eine Krone, und war somit ein bedeutungsvoller Name für einen Mann, der der erste Blutzeuge Jesu Christi werden und sich im Tod die Märtyrerkrone erwerben sollte. Seiner Abstammung nach war er ein Jude, aber, wie sein griechischer Name schließen lässt, wahrscheinlich nicht in Jerusalem geboren, sondern ein eingewanderter Fremdling aus einer Gegend, wo man griechisch redete. Seines Amtes war er Almosenpfleger oder Diakonus und zwar wird er unter den sieben Almosenpflegern, die die Apostel wählen ließen, als der Erste genannt. Alle Sieben besaßen ein gut Gerücht1) und waren voll heiligen Geistes und Weisheit, aber von Stephanus wird noch besonders berichtet, dass er Gaben besaß, mit denen er über die Grenzen seines Gemeindeamtes hinaus wirksam war. Nicht nur war er voll Glaubens und heiligen Geistes, was nötig war, um ein tüchtiger Almosenpfleger zu sein, sondern er war auch voll Gnaden und Kräfte, tat Wunder und große Zeichen unter dem Volk (V. 8).
Diese ungewöhnliche Begabung, wie seine außerordentliche Wirksamkeit, hatte ihn in Berührung gebracht mit der Synagoge der Libertiner und anderer Ausländer von Cyrene, Alexandria, Cilicien und Asien. Sie disputierten mit Stephanus, aber sie vermochten nicht zu widerstehen seiner Weisheit und dem Geist, aus welchem er redete (V. 10). An Stephanus erfüllte sich somit das Wort des Herrn Luk. 21,15: So nehmt nun zu Herzen, dass ihr nicht sorgt, wie ihr euch verantworten sollt, denn ich will euch Mund und Weisheit geben, welchem nicht sollen widersprechen mögen, noch widerstehen alle eure Widerwärtigen. - Die besiegten Libertiner, statt sich gefangen zu geben, wurden erbittert und griffen gleich zu boshaften Mitteln, um den Stephanus zu verderben. Sie regten nicht nur das Volk auf (V. 12), das bis dahin den Jüngern Jesu leidlich günstig gewesen war, sondern sie riefen auch den Beistand des feindlich gesinnten hohen Rates an. Die Synagogen, die jüdische Obrigkeit und das Volk vereinigten sich nunmehr zur Verfolgung der Bekenner Jesu. Die Schule der Libertiner hatte alle Scham bei Seite gesetzt, indem sie falsche Zeugen zugerichtet hatten. Der hohe Rat konnte seinem Hass freien Lauf lassen, weil ihm jetzt das Volk den Rücken deckte, und das Volk zeigte sich wetterwendisch, wie es sich immer, und namentlich gegen Jesum selbst erzeigt hatte. Vor kurzem noch hatten die Apostel solche Gnade bei dem Volk gehabt, dass die Tempelwache sich fürchten musste, gesteinigt zu werden, wenn sie die Apostel mit Gewalt gefangen nähme (5,26), und jetzt sah dasselbe Volk ruhig zu, dass Stephanus von den Libertinern gewaltsam ergriffen und vor den hohen Rat gerissen wurde.
Volk, Obrigkeit und Schulen sind nicht bloß damals Verfolger gewesen, sondern haben sich zu allen Zeiten entweder einzeln oder in Gesamtheit gegen den Herrn und seine Kirche aufgelehnt. Dem jüdischen Volk gefiel es später wohl, dass Herodes den Jakobus hinrichten ließ, und wie oft hat in den ersten drei Jahrhunderten nach Christo das heidnische Volk die Märtyrer zum Scheiterhaufen geschleppt und sie von wilden Tieren zerreißen sehen; wie viel Zeugen-Blut hat das afterchristliche Volk in der Bartholomäusnacht und bei hundert andern Gelegenheiten vergossen. Die Obrigkeit, und zwar nicht bloß die weltliche, sondern auch die geistliche, hat sich nicht selten zur Verfolgung wahrer Christen hinreißen lassen. Es lassen sich - ganz abgesehen von der großen Babylon, die trunken ist von dem Blut der Heiligen und von dem Blut der Zeugen Jesu (Offb. 17,6) - aus der Kirchengeschichte zahllose Beispiele anführen, dass die geistliche Obrigkeit sich durch Bedrohung, Absetzung, Landesverweisung feindselig verhielt gegen die wahren Jünger, und sie in die Lage brachte, zu sagen: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Dasselbe gilt von den Schulen. Wir wollen nicht von den hohen Schulen und den Orten reden, wo von den Lehrstühlen aus krasser Unglaube verbreitet wurde und noch wird, und sie sich als Höhen erweisen, auf denen man Israel sündigen macht; sondern es gilt auch von den niederen Schulen, den Elementarschulen. Die vielfach entartete Tochter der Kirche, die Schule, hat sich nicht nur emanzipiert, sondern schlägt ihre Mutter ins Gesicht und unterwühlt im Grund ihrer heilsamen Lehre, und diese feindselige Gesinnung ist noch heute vorhanden, wenn gleich ihre öffentlichen Kundgebungen, seit den bitteren Erfahrungen der letzten Jahre, gegenwärtig mit Gewalt unterdrückt werden.
Dieser allgemein verbreitete feindselige Geist gegen die wahren Bekenner Jesu kommt daher, dass so viele Libertiner in der Welt sind. Damals war die Schule der Libertiner eine jüdische Genossenschaft von gewesenen Sklaven und deren Nachkommen, denn das Wort Libertiner war eine Bezeichnung für freigelassene Sklaven. Jetzt gibts keine Libertiner mehr dem Stande nach, aber es gibt ihrer viele der Gesinnung nach, das sind Leute, die sich freigemacht haben, nicht etwa von den Sklavenketten des Unglaubens und der Sünde, sondern von dem sanften Joch des Evangeliums, von der Zucht des heiligen Geistes und von den heilsamen Ordnungen Gottes. Es sind diejenigen, die ihr Fleisch emanzipiert haben von der Herrschaft des Geistes und dagegen ihrer Augen und ihres Fleisches Lust und ihr hoffärtiges Wesen auf den Thron gesetzt haben. Wenn man aber in solcher bösen Zeit lebt, wo Volk, kirchliche Obrigkeit und Schulen vom Verderben zerfressen sind, und die Wahrheit und deren Kinder verfolgen; wenn die Lüge und der Irrtum von den gewichtvollsten Autoritäten als Wahrheit verkündet und aufrecht erhalten wird; wie kann man in einer so gefährlichen Lage erkennen, was Wahrheit ist, und wie kann man sich des Irrtums erwehren? Antwort: Wenn man es macht, wie die Pfingstgemeinde, die beständig blieb in der Apostellehre. Der Apostel Lehre ist für uns ausschließlich enthalten in der Bibel. Das Bibelbuch ist aber ein wunderbares Rüst- und Werkzeug, denn es ist Tötungs- und Lebensmittel zugleich, Waffe und Wegzehrung, Stein und Brot zugleich. Manchmal dient es als glatter Stein aus dem Bach in die Stirn des Feindes, manchmal als Brot aus der Stiftshütte zum Labsal der Kämpfer. Das Schwert des Geistes ist zugleich Brot des Lebens. Wie jenen Schildwächter der Midianiter träumte, dass ein geröstet Gerstenbrot sich zu dem Heer der Midianiter wälzte und die Zelte umwarf und sie umkehrte das oberste zu unterst, und sein Gefährte ihm dieses Gerstenbrot als das Schwert Gideons deutete (Richter 7,13), so ist auch das Wort Gottes beides, das, wovon der Mensch lebt, und das, womit er kämpft gegen innere und äußere Feinde, und Flucht und Verwirrung unter ihnen anrichtet.
Die Anklage gegen Stephanus lautete auf Lästerung wider Mosen und wider Gott, wider die heilige Stätte und das Gesetz (V. 11 u. 13), sowie darauf, dass er gesagt habe, Jesus von Nazareth werde den Tempel zerstören, und ändern die Sitten, die Moses gegeben habe (V. 14); und zur Erhärtung dieser Beschuldigungen stellten die Ankläger falsche Zeugen auf. Nun hatte zwar Stephanus ohne Zweifel Ähnliches gesagt, wenn er den ungläubigen Libertinern die Weissagungen Jesu vorgehalten hatte, dass vom Tempel kein Stein auf dem anderen bleiben werde, dass ihr Haus wüste gelassen werden solle, wenn sie nicht aufhören würden, sich auf den Tempel und das Gesetz zu steifen, statt Buße zu tun und an den Namen Jesu zu glauben. Auch, dass Jesus von Nazareth Vollstrecker dieses Gerichtes sein werde, wenn er als des Menschen Sohn komme in den Wolken des Himmels, hat Stephanus den Libertinern schwerlich vorenthalten; aber dennoch waren die Zeugen falsch, weil sie einmal die Worte des Stephanus verdrehten, und ihnen sodann einen lästerlichen Sinn unterlegten, der seiner Absicht am allerfernsten lag. Nachdem die Libertiner das falsche Zeugnis benutzt hatten, um das Volk zu bewegen und mit dessen Hilfe den Stephanus vor den hohen Rat zu führen, stellten sie auch vor diesem obersten Gerichtshof ihre falschen Zeugen auf, um mit ihrer Hilfe die Anklage auf Lästerung wider Alles, was den Israeliten heilig war im Himmel und auf Erden, gegen ihn zu erhärten. Wie mag dem Stephanus zu Mut gewesen sein unter der erdrückenden Wucht dieser Anklage und beim Anschauen dieser hohen und mächtigen Versammlung seiner erbittertesten Feinde, deren giftige und drohende Blicke er auszuhalten hatte „denn sie sahen auf ihn alle, die im Rat saßen“ (V. 15). Dass er verloren sei, konnte er sich keinen Augenblick verbergen; aber was machte diese Wahrnehmung für einen Eindruck auf sein Gemüt? Das lesen wir V. 15: Und sie sahen sein Angesicht wie eines Engels Angesicht. Nicht Furcht kann diesen engelgleichen Ausdruck seines Angesichtes bewirkt haben, denn wer sich fürchtet, kann unmöglich ein leuchtendes, strahlendes Angesicht haben, folglich muss Stephanus nicht den leisesten Anflug von Furcht gefühlt haben und von jeder Art von Beklemmung frei gewesen sein. Die Verklärung seines Angesichtes war ein Zeichen der ungetrübtesten Freudigkeit und unbefangensten Freimütigkeit; sie war die Schönheit des Glaubens, die seinem irdischen Angesicht einen himmlischen Ausdruck gab. Die Verklärung des Angesichts bei Stephanus war aber nicht bloß der natürliche, äußere Ausdruck seiner inneren begeisterten Stimmung, sondern sie war zugleich ein Wunder, was an ihm geschah. Nie dem Herrn Jesu auf dem Berg die Verklärung widerfuhr, als Moses und Elias mit ihm redeten von dem Ausgang, den er erfüllen sollte zu Jerusalem2), so geschah ähnliches dem Stephanus, als er vor seinen erbosten Feinden stand und den gewissesten Tod vor Augen sah. In der Verklärung seines Angesichtes lag eine Stärkung für ihn selbst, aber zugleich auch ein göttliches Zeugnis gegen seine Feinde, dass derjenige, dessen Angesicht leuchtete, wie einst Mosis Angesicht geleuchtet hatte3), unmöglich habe Lästerworte wider Mosen sagen können.
Innerlich erleuchtet und äußerlich verklärt begann nun Stephanus auf die Aufforderung des Hohenpriesters seine Verteidigungsrede, die wir für heute übergehen müssen, um von dem Ausgang, von dem Märtyrertod, des Stephanus zu reden. Der schneidend scharfe Schluss seiner Rede lautet: „Ihr Halsstarrigen und Unbeschnittenen an Herzen und Ohren, ihr widerstrebt allezeit dem heiligen Geist, wie eure Väter, also auch ihr. Welche Propheten haben eure Väter nicht verfolgt und sie getötet, die da zuvor verkündigten die Zukunft dieses Gerechten, welches ihr nun Verräter und Mörder geworden seid?! Ihr habt das Gesetz empfangen durch der Engel Geschäfte und habt es nicht gehalten“ (V. 51-53). - Mancher von unseren sogenannten Unparteiischen, oder besser Unentschiedenen, die ihre Scheu, Ernst zu machen, hinter vorgeblicher Mäßigung verbergen, würde hier mit vorlautem Tadel bei der Hand sein und sagen: Ja, wenn man so dreinfährt, wie Stephanus, ists kein Wunder, wenn man die Leute erbittert und sich Verfolgung auf den Hals zieht, dadurch aber der guten Sache schadet und sich seines Wirkungskreises beraubt. Wäre Stephanus säuberlicher verfahren mit seinen Richtern, er wäre nicht gewaltsam unterbrochen worden und hätte Gelegenheit bekommen, nun auch Jesum zu bezeugen. - Das hört sich alles ganz gut an, ist aber dennoch verkehrt geredet. Wer sagt dir denn, dass Stephanus um jeden Preis vor solchen erbosten Gemütern habe Jesum bezeugen wollen? Dass Stephanus mit seiner Strafrede sich nicht versündigt hat, also von fleischlichem Eifer keine Rede sein kann, bezeugt ganz einfach die Verklärung seines Angesichtes und das Zeugnis, dass er voll heiligen Geistes gewesen sei (V. 55), sowie das Gesicht vom offenen Himmel, dessen er gewürdigt wurde. Der Geist trieb Stephanum zu dieser Strafrede, und ob darauf eine Verkündigung Jesu folgen sollte, oder nicht, das wollte er vielleicht vom Eindruck seiner Rede abhängig machen; daher sich die Frage, ob Stephanus weiter zu reden gedachte und unterbrochen wurde, oder ob er seine Rede mit V. 53 wirklich schließen wollte, nicht mit Bestimmtheit entscheiden lässt. Uns ist wahrscheinlich, dass er eine abwartende Pause zu machen gedachte.
Die sofortige Wirkung seiner Rede war, dass es ihnen durchs Herz ging und sie die Zähne zusammenbissen (V. 54). So stand also Stephanus gleichsam vor reißenden Tieren, die mit den Zähnen knirschten, wie Daniel vor den hungrigen Löwen; aber es widerfuhr dem Stephanus etwas viel Herrlicheres als dem Daniel, denn, als er voll heiligen Geistes war, sah er auf gen Himmel und sah die Herrlichkeit Gottes und Jesum stehen zur Rechten Gottes und sprach: Siehe, ich sehe den Himmel offen und des Menschen Sohn zur Rechten Gottes stehen. Merkwürdig ist, dass Stephanus des Menschen Sohn stehen sah, während es sonst immer in der Schrift heißt, er sitze zur Rechten Gottes. Das Stehen soll bedeuten, dass Jesus zur Rechten Gottes nicht untätig ruht, sondern sich aufgemacht hat, wider seine Feinde zu streiten, dass er steht und richtet, dass er nicht im Schifflein schläft, sondern am Ruder steht und als gewaltiger Steuermann das Schiff seiner Kirche regiert. So steht auch das Lamm mitten im Stuhl und mitten unter den Ältesten, wenn es sich anschickt, das Buch zu nehmen und seine sieben Siegel auf zu tun, d.h. die großen Ereignisse ins Werk zu setzen, welche das Ende der Wege Gottes herbeiführen sollen (Offb. 5,6). Aber wie reimt sich das, dass Christus dem Stephanus stehend und regierend erscheint, und doch in demselben Augenblick seinen treuen Zeugen den Händen seiner Feinde rettungslos preis gibt? Das reimt sich ganz wohl nach dem Wort des Herrn: Was ich jetzt tue, weißt du nicht, du wirst es aber hernachmals erfahren. Wir wissen, dass das Blut der Märtyrer der Same der Kirche gewesen ist, wir wissen, dass Jesus starb für das Volk, um die große Menge zur Beute und die Starken zum Raube zu haben, und dass Stephanus durch seinen Tod erstattete, was noch mangelte an den Trübsalen Christi. Wir wissen, dass Stephanus - von Anderem nicht zu reden - mit seinem Blut Einen so zu sagen erkauft hat, der Größeres getan hat, denn er selbst. Hören wir doch, dass Einer bei Stephani Tod zugegen war, und die Kleider der Mörder verwahrte, der einen Stachel ins Herz bekam, der ihn ruhelos umhertrieb, bis der Wutschnaubende, gejagt von den Schrecken Gottes, endlich erschöpft, zitternd und gebrochen vor den Füßen Jesu zusammenstürzte, - und das war Saulus. Wahrlich Stephanus ist nicht umsonst gestorben, wenn er solch einen Starken zum Raube gehabt hat und die Seele eines Saul ihm geschenkt wurde, der ein auserwähltes Rüstzeug war, den Namen Christi zu den Heiden zu tragen und durch maßlose Leiden sich als echten Apostel auszuweisen.
Stephanus hat einen schönen Tod gehabt, auch wenn wir sein Ende nur äußerlich ansehen. Zwar im wildesten Tumult gesteinigt, wurde er doch nicht zu Boden geworfen, sondern es blieb ihm vergönnt, kniend zu sterben (V. 59), oder vielmehr, wie unser Text mit einem hoffnungsreicheren Ausdruck sagt, „zu entschlafen.“ Wie es für einen Feldherrn keine schönere Stellung gibt als stehend zu sterben, so kann sich ein Streiter Christi nichts Schöneres im Tod wünschen, als auf den Knien zu sterben. Indessen machten mehr noch als diese fromme Gebärde, die Äußerungen des inneren Lebens den Tod des Stephanus zu einem schönen. Er starb im Glauben, in der Liebe und in der Hoffnung.
Herr Jesu, nimm meinen Geist auf! Das war ein Wort des überwindenden Glaubens, wenn es gleich den Peinigern als eine Lästerung erscheinen mochte. Zu Jesu von Nazareth, dem Sohn des Menschen beten, im letzten Augenblick beten, ihn gerade darum bitten, dass er den Geist des Entschlafenden aufnehme, das heißt wahrlich, ihn im Glauben bekennen als den Herrn über Lebendige und Tote, als den wahrhaftigen Gott und das ewige Leben. Dasselbe, was der sterbende Jesus vom Vater erbat, indem er seinen Geist in des Vaters Hände befahl, dasselbe erbittet Stephanus von dem Sohn, weil er glaubt und weiß, dass dem Sohn Alles übergeben ist von seinem Vater. Seines Leibes gedenkt Stephanus nicht in seinem letzten Gebet, sondern übergibt ihn willig denen, die Macht hatten, den Leib zu töten, seine Seele weiß er geborgen in der Hand dessen, der die des Schächers mit sich in das Paradies genommen hatte.
Stephanus starb in der Liebe, denn er schrie laut: Herr behalte ihnen diese Sünde nicht! (V. 59.) Er betet nicht besonders für die Gemeinde, denn diese weiß er gesichert unter der schirmenden und treuen Hut ihres guten Hirten, sondern er betet für sein verstocktes Volk, das von Anfang an dem Herrn widerstrebt hatte und sich auch jetzt wieder mit unschuldigem Blut befleckt hat. Dies Wort der Fürbitte bezeugt, dass der strafende Schluss der Rede, so hart er klingt, gleichwohl einzig und allein vom Geist der Liebe eingegeben war. In der Fürbitte für seine Mörder, wie im Gebet für seine eigene Seele sieht man, dass Stephanus sich das Sterben seines Herrn und Meisters zum Vorbild genommen hatte und zwar nicht äußerlich, sondern innerlich.
Die Fürbitte: Herr behalte ihnen diese Sünde nicht! war ein Wort der Liebe, aber sie war auch ein Wort der Hoffnung. Stephanus starb in Hoffnung, nicht bloß auf seiner eigenen Seele Heil, sondern auch in Hoffnung auf die Erlösung seines Volkes. Wäre für sein Volk nichts mehr zu hoffen gewesen, so hätte Stephanus nicht so beten können, denn für eine Todsünde zu bitten, ist uns nicht geheißen4), und wer so voll heiligen Geistes war, wie er, konnte in solcher Stimmung keine törichte Bitte tun. Stephanus hofft also noch in seinem Tod zuversichtlich, dass, wie der Erzvater Abraham zweimal gerufen wurde, einmal in Ur in Chaldäa und zum anderen mal in Haran in Mesopotamien (V. 2 u. 4), so auch der Same Abrahams zweimal werde gerufen werden. Er hofft, dass wie Moses zweimal gekommen sei, um Israel zu erlösen, Einmal in seinem vierzigsten Jahr und zum Andernmal in seinem achtzigsten, so auch Jesus zweimal kommen werde; wie er Einmal gekommen war, um zu sterben und entrückt zu werden zu Gott und den Himmel einzunehmen , so werde er das andere Mal wieder kommen, gesendet von Gott, um die Zeiten der Erquickung von dem Angesicht des Herrn zu bringen, welche eintreten werden, wenn Alles herwiedergebracht ist, was Gott geredet hat durch den Mund aller seiner heiligen Propheten von der Welt an5). Derselben Hoffnung wie Stephanus, dass Christus zweimal erscheinen werde, ist auch Paulus, wenn er schreibt: Christus ist Einmal erschienen, durch sein Opfer wegzunehmen Vieler Sünden; zum Andernmal wird er ohne Sünde erscheinen denen, die auf ihn warten zur Seligkeit6).
Aber, was sollen nun Wir aus dieser Geschichte lernen, da wir doch schwerlich zum Märtyrertod berufen sind? Ob wir zum Märtyrertod berufen sind, oder nicht, kann Niemand wissen, aber das wissen wir gewiss, dass wir berufen sind, um der Gerechtigkeit willen zu leiden, und darin soll Stephanus unser Vorbild sein. So leiden wie Stephanus kann nur der, welcher so glauben, so lieben, so hoffen kann. Wie fleckenlos rein und schön, wie mutig, wie sanftmütig und demütig hat Stephanus gelitten und wie unwillig, wie gereizt, und darum wie schwächlich leiden wir! Die gewöhnlichsten Leiden um der Gerechtigkeit willen sind Lüge, Verleumdung, Lästerung, selten kommts bei uns zur Verfolgung. Derartige Leiden haben nun aber ihr besonders Schweres und das besteht darin, weil unser erstes Gefühl dabei das der Empörung ist über uns angetanes Unrecht. Wenn man sich nun gegen die böswilligsten Beschuldigungen nicht verteidigen kann, sondern wüstes Geschrei und Ohrenzuhalten und Zähneknirschen einem oftmals entgegenkommen, dann empört sich das Fleisch und dämpft dadurch zugleich den Geist, aus dem allein Kraft kommen könnte, das Leiden gottgefällig zu bestehen. Das ist eben das Schwere, dass viele Leiden uns gleich zur Versündigung reizen und uns dadurch ein gut Teil Kraft zum Widerstand rauben. Das ist das Schlimme, dass der Streich nicht nur trifft und Schmerz macht, sondern uns auch vielfach das Schwert des Geistes und den Schild des Glaubens aus der Hand schlägt, und man diese Waffen erst wieder aufraffen muss, ehe man dem Leiden gewachsen ist. Diese Leiden lassen eben wegen der hervorgerufenen Versündigung einen Stachel, einen Widerhaken im Herzen zurück, und es passt darum auf sie, was der Psalmist in ähnlicher Lage von den Feinden sagt: Sie umgeben mich wie Bienen. Man stößt mich, dass ich fallen soll7).
Wir haben vorhin gefragt, was wir aus dem Leiden und Sterben des Stephanus lernen sollen und antworten jetzt: Schämen sollen wir uns lernen, dass wir unsere kleinen Leiden so schlecht bestehen; denn dass unsere Leiden trotz des Schweren, von dem wir eben gesprochen haben, vergleichungsweise doch sehr klein sind, bedarf keines Beweises. Unsere Leiden sind mit denen des Stephanus verglichen auch darum klein, weil wir diejenigen, die uns Böses antun, lange nicht so lieb haben, als Stephanus sein Volk lieb hatte, und darum ihr Tun uns auch nicht so im tiefsten Inneren verletzen kann. Ehe wir uns über uns selbst geschämt haben, sind wir noch nicht auf dem Wege, den Stephanus zum Vorbild zu nehmen, ist ersteres aber geschehen, dann nur getrost gen Himmel aufgesehen, von wo uns die Kraft herabkommt, welche allein ihn stark machte, bis der Wahlspruch, der in seinem Namen liegt, der unsrige wird:
Für einen ew'gen Kranz
mein armes Leben ganz! Amen.