„Meine Kindlein“, sagt Paulus, „die ich von neuem mit Ängsten gebäre, bis daß Christus in euch eine Gestalt gewinne.“ Unsere Heiligkeit, das sind eigentlich nicht wir, als wenn wir uns völlig änderten und besser würden - denn nach fünfzig Jahren treuer Arbeit könnte es uns begegnen, daß wir uns plötzlich wieder so schlecht fänden, wie ein halbes Jahrhundert vorher - vielmehr er ist es, wie er in uns geboren wird und zunimmt, so daß er unser Herz erfüllt und allmählich unser natürliches Ich, unseren alten Menschen verbannt, der seinerseits sich nie bessert und nichts besseres tun kann als sterben.
Wie bewerkstelligt sich nun in der Praxis diese Art von Menschwerdung, durch die Christus selbst unser neues Ich wird? Durch ein freies und moralisches Verfahren, welches Jesus beschrieben hat in einem Worte, das uns in Erstaunen setzt, weil es seine Heiligkeit fast auf denselben Fuß setzt wie die unsrige: „Wie der lebendige Vater mich gesandt hat und ich lebe durch den Vater, so wird, wer mich isset, auch leben durch mich.“ (Joh. 6,57). Jesus nährte sich vom Vater, der ihn gesandt hatte, und lebte durch ihn. Das bedeutet ohne Zweifel, daß er jedesmal, wenn er handeln oder reden sollte, zuerst sich selbst stille war, dann ließ er den Vater wollen, denken, handeln, alles in ihm sein. Auf dieselbe Weise, wenn wir berufen sind, eine Handlung zu verrichten oder ein Wort zu reden, sollen wir uns zuerst selbst Jesu gegenüber aufgeben, und nachdem wir mit energischer Glaubenstat jeden eigenen Wunsch, jeden eigenen Gedanken, jede eigene Tätigkeit in uns unterdrückt haben, Jesus seinen Willen, seine Weisheit, seine Kraft in uns entfalten lassen. So leben wir durch ihn, wie er lebte durch den Vater; so essen wir ihn (das ist das Wort, dessen er sich bedient), wie er sich vom Vater nährte. Jesu Verfahren und das unsrige sind gleichartig. Nur bezog sich dasjenige Jesu direkt auf den Vater, weil er als der ewige Gottessohn mit ihm in direkter Gemeinschaft stand, während das unsrige auf Jesus geht; weil mit ihm der Gläubige unmittelbar in Verbindung steht und wir allein durch ihn den lebendigen Vater finden und besitzen. - Das ist das im allgemeinen so wenig verstandene Geheimnis der christlichen Heiligung.
Quelle: Gärtner - Eine Wochenschrift für Gemeinde und Haus 1931