Auf dass ich mich nicht der hohen Offenbarung überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlage, auf dass ich mich nicht überhebe.
(2. Kor. 12, 7.)
Was der Apostel in vorstehenden Worten von sich berichtet, wiederholt sich in kleinem Maßstabe an allen, welche aus Gnaden gerecht geworden, nun Jünger und Diener Christi sein wollen; es wiederholt sich an ihnen in allen Leiden dieser Welt, es wiederholt sich in Erfahrungen, die vorzugsweise an jenen Pfahl im Fleisch des Apostels erinnern. Diese Erfahrungen hängen bei allen Jüngern Christi, wie bei Paulus, mit den vorhergehenden hohen Offenbarungen zusammen; außerordentlicher Gesichte und Entzückungen können sich zwar die meisten Christen nicht rühmen, aber hohe Offenbarungen kann man ihnen deshalb nicht absprechen. Wenn Gott in Wort und Sakrament seine heilsame sündenvergebende Gnade erscheinen und sie uns schmecken und fühlen lässt, wenn er Erquickungsstunden schenkt, wo sein Friede das Herz erfüllt, wenn er sein Licht und seine Wahrheit sendet, dass wir hineinschauen durchs Wort in die Tiefen seiner Weisheit, in die Herrlichkeit seiner Ratschlüsse, wenn er Kraft gibt, die Sünde zu lassen und freudig in seinem Dienst zu wirken, so kann man doch wohl von hohen Offenbarungen reden. Aber wenn diese Gnadenerweisungen des Herrn wirklich zum Siege über Welt, Sünde und Teufel führen sollen, dann bedarf es des Kreuzes, welches, wenn willig aufgenommen und Christo nachgetragen, das Zeichen des Sieges wird. Nun ist ja gewiss alle Trübsal für die Christen ein heilsames Kreuz, an welchem der alte Mensch den Tod finden soll; welche der Herr lieb hat, die züchtigt er; er stäupet aber einen jeglichen Sohn, den er aufnimmt (Hebr. 12, 6). Aber die eine Grund- und Ursünde, der Hochmut, ist so tief in das natürliche Wesen des Menschen eingewurzelt, dass sie sogar an den hohen Offenbarungen Gottes sich emporrankt und zum geistlichen Hochmut sich entwickelt und daher zu ihrer Ausrottung ganz besondere Maßregeln erforderlich sind. Bei jenen herrlichen Gnadenerweisungen Gottes trat an Paulus, tritt an die Christen die Versuchung heran, sich selbst ein Verdienst dabei zuzuschreiben, in dem Gefühle eigener Kraft zu schwelgen, der eigenen Weisheit sich zu rühmen, kurz sich zu überheben und dadurch alles Gnadensegens verlustig zu gehen. Paulus berichtet, dass ihm gegeben ist ein Pfahl ins Fleisch, um ihn in dieser Versuchung und Gefahr zu bewahren. Wir können den Worten des Apostels nur so viel entnehmen, dass es sich für ihn um ein Leiden handelte, das als gleichsam mit seinem Fleisch verwachsen ihn dauernd peinigte, und durch welches eine dämonische, versuchliche Macht ihn immerwährend die Schwachheit seines Fleisches, seines natürlichen Wesens empfinden ließ. Solche Leiden gibt es auch heute für die Christen, und je mehr hohe Offenbarungen ihnen zu Teil werden, desto weniger kann der Pfahl im Fleisch fehlen, auf dass sie sich nicht überheben, sondern die Gnade siegreich walten kann. Ein schwieriges, peinliches Verhältnis zu bestimmten Menschen oder eine quälende Sorge und Not, die immer wieder die Freudigkeit des Glaubens zu stören, die sanftmütige Liebe zu verdrängen drohen, eine Krankheit, ein dauerndes Nervenleiden etwa, die beim Hören und Lesen des Wortes Gottes einen beständig hemmenden Einfluss ausübt und den Aufschwung der Seele zum Lichte lähmt, eine Versuchlichkeit in irgend welcher Beziehung, die trotz Beten und Ringen nicht weichen will, das alles sind Erfahrungen, in denen sich ein Satans-Engel, eine anfechtende Macht oder ein Pfahl im Fleisch darstellt, der als im Fleisch steckend dieses uns in seiner sündigen Schwachheit fühlen lässt. Gilt's nun schon von allem Kreuz des Christen, dass es ihm anzeigt, wie sein Heiland und Hirt ihm helfen will, die Krone des Lebens zu erlangen, so kann man solchen Pfahl im Fleisch erst recht ein Siegeszeichen für den Christen nennen. Dieser Pfahl muss ihm unter der Leitung des Herrn helfen, stets im Gedächtnis zu behalten: ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleisch wohnet nichts Gutes, und in den hohen Offenbarungen immer mehr die überschwängliche Barmherzigkeit Gottes zu erkennen. Durch den Pfahl im Fleisch wird der Christ immer wieder in die Buße getrieben, zu immer herzlicherem Verlangen nach neuer, reichlicherer Gnade erweckt, wird er fähig gemacht, den Trost zu verstehen und zu erfassen, den Paulus empfangen hat, da der Herr zu ihm sprach: lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in dem Schwachen mächtig. Und wenn der Jünger Christi diesen Trost erfasst, so kann er ja nicht mehr den Pfahl im Fleisch und die von ihm bewirkte Schwachheit für ein Zeichen des Unterliegens ansehen, sondern muss sein Kreuz als ein Siegeszeichen preisen, indem er mit Paulus bekennt: darum will ich mich am allerliebsten meiner Schwachheit rühmen, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne.
R. K. 95. Nr. 6.