Von Gottes Gnade bin ich, das ich bin.
(1. Kor. 15, 10.)
Ein hohes Selbstgefühl spricht sich in den vorstehenden Worten des Apostels Paulus aus, ein Selbstgefühl aber, das aufs Innigste verbunden ist mit der tiefsten Demut. Wo immer das evangelische Bekenntnis von der freien Gnade Gottes in Christo Jesu abgelegt wird, da wird sich auch immer wieder jene wunderbare Verbindung von Hoheit und Niedrigkeit, von Selbstgefühl und Demut finden. Vor allem gilt das für den das Wesen des Christentums bildenden, die Grundlage zu allen weiteren Gnadenerfahrungen abgebenden Stand der Gotteskindschaft. Sobald die Worte: „wir sind nun Gottes Kinder“, an Menschenseelen zur Wirklichkeit geworden sind, weiß man sich auf der einen Seite belastet mit einer Schuld, die man durch sündige Gedanken, Worte und Werke auf sich gehäuft und die man nimmermehr abtragen und begleichen kann. Auf der anderen Seite aber sind die Kinder Gottes dessen gewiss geworden, dass das Blut Jesu Christi als ein teures Lösegeld für sie gezahlt ist, dass ihnen alle Schuld erlassen ist, dass sie aus Schmach und Schande zur höchsten Ehre gelangt sind; und diese beiden entgegengesetzten Wahrheiten fassen sie zusammen in das Wort: von Gottes Gnade bin ich, das ich bin.
Die Geltung dieser Worte aber erstreckt sich von der Gottes Kindschaft und weiter auf das ganze Gebiet des Christenlebens und Wirkens; sie gelten zunächst auch von der dem Christen aus Gnade zu Teil gewordenen inneren Erneuerung. „Wir wissen, was uns von Gott gegeben worden ist,“ das kann jeder Christ sagen, wenn er auch nur etwas erkennt und begreift, bedenkt und verwertet von den Schätzen der Weisheit, die ihm im Worte Gottes gegeben sind; aber dabei ist er sich ganz deutlich bewusst: unser Wissen und Verstand ist mit Finsternis umhüllt; und doch zugleich nimmt er es wahr: uns aber hat es Gott geoffenbart durch seinen Geist, dieser heilige Geist erleuchtet unser Herz, erneuert unser Denken und Sinnen, dass wir, wenn hier auch nur stückweise, erkennen, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat. Ebenso heißt es bei den Jüngern Christi: ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen; dabei sind sie fest überzeugt, dass sich darin nicht ihr natürlicher guter Wille oder ein Erfolg eigener Leistung kund gibt, müssen sie doch gerade bekennen: ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleische, wohnt nichts Gutes; aber das erfahren sie freilich auch, dass Gottes heiliger Geist in ihnen das Wollen und das Vollbringen schafft; und wiederum kennen die Christen diese beiden Gegensätze im Wissen und Wollen vereinen in dem einen Zeugnis: von Gottes Gnade bin ich, das ich bin. Für die Jünger Christi gewinnt dieses Bekenntnis aber auch Geltung für ihr natürliches irdisches Leben und alle seine Verhältnisse; haben sie den 2. und 3. Glaubensartikel im Lichte des „aus Gnaden“ aufzufassen gelernt, so verstehen sie auch den 1. Artikel in demselben Sinne: aus Gnaden hat uns Gott erschaffen, erhält, regiert, beschützt er uns. Paulus bezieht die vorstehenden Worte besonders auf sein apostolisches Amt; gekrönte Häupter pflegen sich Könige und Kaiser von Gottes Gnaden zu nennen; aber ein jeder Christ kann ebenso von seiner Stellung, seinem Beruf, seinen Fähigkeiten, den Erfolgen seiner Arbeit, von seinem irdischen Wirkungsfelde, von all' seinen irdischen Beziehungen und Verbindungen reden. Aber in der Erkenntnis, wie alles, was er ist und bedeutet, von Gottes Gnade ist, liegt für die, die solches Selbstgefühl in sich tragen, abermals das Doppelte enthalten: einerseits die eigene, vollständige Verdienstlosigkeit in Bezug auf alles, was sie sind und haben, und die eigene Unfähigkeit zur rechten Ausübung ihres Berufs: andererseits der Preis göttlicher gnädiger Fügung und Berufung, göttlicher Barmherzigkeit, die uns würdigt, in des Herrn Dienst zu arbeiten, göttlicher Kraft und göttlichen Segens, die uns zum Wirken befähigen. Gott gebe, dass wir alle in rechtem christlichem Selbstgefühl es spüren und erfahren möchten auf allen Gebieten: von Gottes Gnade bin ich, das ich bin.
K. R. 95, Nr. 44.