Hochverehrte Versammlung!
Die Unterweisung, welche dem vertrauten Kreise seiner Jünger von dem Herrn Jesu zu Theil wurde, geschah in einem allmählich aufsteigenden Stufengang. Während der ersten anderthalb Jahre ihres Zusammenseins sprach er nicht mit directen Worten gegen sie aus, daß er der Christus, d. h. der von den Propheten geweissagte König Israels und aller Völker sei. Sie sollten durch das Hören seiner Worte des ewigen Lebens, durch den Anblick seiner wunderbaren Thaten, durch den Heiligen Eindruck seiner ganzen Persönlichkeit von selbst auf diese Ueberzeugung geleitet werden. Gegen Ende dieser anderthalb Jahre war bei der Masse des Volks der begeisterte Beifall, der ihm eine Zeit lang zu Theil geworden, gewaltig erkaltet. Dagegen war die Feindschaft der pharisäischen Partei so hoch gestiegen, daß Jesus nicht mehr an Einem Orte in Ruhe wohnen konnte, sondern fort und fort seinen Aufenthalt wechseln mußte. Erst jetzt und gerade jetzt, in dieser kritischen Zeit, richtete Jesus einst plötzlich die Frage an seine Jünger, für wen sie ihn halten. Es war bei Cäsarea Philippi, hoch im Norden des Landes. Und als nun trotz aller Ungunst der äußeren Lage aus Petri Mund das freudige Bekenntniß erfolgte: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“, da hat Jesus feierlich seinen Jüngern versichert, daß er es sei1). Hiermit war das erste Stadium in seiner Unterweisung der Jünger abgeschlossen. Aber sofort hat er das zweite begonnen Die Evangelisten erzählen nämlich, daß er in eben dieser Stunde angefangen habe seinen Jüngern feierlich das ihm bevorstehende Leiden anzukündigen. Auch habe er den Worten vom Sterben noch beigefügt, der Menschensohn werde einst wiederkommen in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln und dann vergelten einem Jeglichen nach seinem Thun. Andeutungen von Beidem hatte Jesus auch schon früher gegeben; jetzt aber wurden diese zwei Themata, des Messias Sterben und des Messias Wiederkommen, in Jesu Unterweisung seiner Jünger zu Cardinalpunkten. Als ein dritter kam zu den zweien noch dies, daß er auch in der Zwischenzeit zwischen Tod und Wiederkunft, unsichtbar aber in wirkungskräftiger Realität, bei den Seinigen bleiben werde2). Dieses zweite Stadium der Unterweisung, das bis zu seinem Tode dauerte, darf, was die Zeitlänge betrifft, auf etwa 3/4 Jahre berechnet werden.
Es sind Jesu Aussprüche über seinen Tod, welche uns in dieser Stunde näher beschäftigen sollen. Denn um die neutestamentliche Versühnungslehre soll es sich jetzt handeln, und für diese bilden Jesu Aussprüche über seinen Tod die wichtigste Quelle.
Seit jenem Vorgange bei Cäsarea hat unser Herr die damals gegebene Erklärung, daß des Menschen Sohn müsse getödtet werden, von Zeit zu Zeit und zwar jedesmal fast mit denselben Worten wiederholt. Aber zuerst eben nur wiederholt. Er nannte den Ort, an welchem es geschehen werde, - Jerusalem; er nannte die Menschen, durch welche es geschehen werde, - die Häupter des israelitischen Volks; er hob hervor, es müsse geschehen, trete also nicht als Zufälligkeit, sondern kraft einer Nothwendigkeit ein, aber kraft welcher Nothwendigkeit und zu welchem Zweck, darüber sprach er sich noch nicht aus3). Noch auf der Reise zu seinem Tod wiederholt er in dieser Weise sein Wort4). Man kann fragen, warum er, die Tödtung voraus erblickend, dennoch die Reise unternimmt. Seiner Pflicht, dieser Hauptstadt das Reich Gottes zu predigen, war von ihm schon reichlich entsprochen. Oftmals hatte er, um mit seinen eigenen Worten zu reden, Jerusalems Kinder um sich zu sammeln gesucht; aber sie hatten nicht gewollt5): warum bleibt er nun nicht ferne von dieser Stadt? Man sieht: es ist jenes „Muß“, das ihn treibt. Er hat in seinem Getödtetwerden einen göttlichen Rathschluß erkannt. Der Haß der Menschen ist es, der ihn tödten wird; aber er weiß, daß sie damit nur thun, was geschehen muß. Dennoch spricht er sich auch während der Reise - sie geschah vom galiläischen Meere her, auf der linken Seite des Jordanthales - über den Zweck dieses Rathschlusses vorerst noch nicht aus. Wer die Geschichte unseres Herrn mit rechter Aufmerksamkeit durchdenkt, wird überhaupt auch das bewundern lernen, wie sehr Jesus das Warten verstand. Nirgends ein Vorauseilen, überall ruhige Besonnenheit. Erst als sie in die Nähe von Jericho gekommen, also von Jerusalem nur noch eine Tagereise entfernt sind, bemüht er eine Gelegenheit, den Zweck seines Sterbens auszusprechen6). Zwei seiner Jünger, Johannes und Jakobus, hatten Jesu die Bitte vorgetragen, wenn er seinen Königsthron errichte, möchte er sie Beide zu den Ersten unter seinen Gewaltigen machen. Denn die Jünger konnten noch immer nicht von der Vorstellung lassen, daß die Aufrichtung des Thrones nahe sei. Jesus erwidert ihnen, daß sie nicht berufen seien, über die Menschen zu herrschen, sondern zu dienen. Und dann fügt er bei: „wie der Menschensohn nicht gekommen ist, sich dienen zu lassen, sondern zu dienen und zu geben sein Leben als ein Lösegeld an der Statt von Vielen“.
Also Jesus ist gekommen, zu dienen. Einen Tag um den andern war in diesen Jahren seines öffentlichen Wirkens seine ganze Kraft dem größten Dienste, den ein Mensch seinen Brüdern erweisen kann, geweiht, der Verkündigung Gottes durch Wort und Werk. Aber nicht sein Wirken allein, sondern auch sein Sterben soll ein Dienst für die Menschen sein. Und zwar sein Sterben noch in anderer Weise als sein Wirken. Er will sein Leben hingeben als ein Lösegeld. Als ein Lösegeld an der Statt von Vielen. Also als ein stellvertretendes Lösegeld. Die, an deren Statt er sein Leben hingibt, befinden sich also in Gefangenschaft. Und sie könnten aus dieser Gefangenschaft nicht loskommen, wenn nicht Jesus sein Leben an ihrer Statt hingeben würde. Wir sehen: dieses erste Wort, welches Jesus über den Zweck seines Todes sprach, konnte dem Nachdenken seiner Jünger bereits einen reichen Blick eröffnen. Aber wenige Tage hernach fügte er dem ersten Worte ein zweites hinzu. Es war am Dienstag vor seinem Tode, daß er zu den Jüngern sprach: „Ihr wisset, daß nach zwei Tagen das Passahfest stattfindet, der Menschensohn aber wird überantwortet zum Gekreuzigtwerden.“7) Merkwürdige Zusammenstellung! Was haben diese Thatsachen miteinander zu thun: des jüdischen Volkes Passahfeier und des Menschensohnes Uebergebenwerden zur Kreuzigung? Es sollte bald klar werden. Denn als nun am Donnerstag Abend der Herr mit seinen Jüngern zusammensaß, nach der Sitte des Festes das Lamm zu essen, nahm er das Brod, hernach den Kelch mit Wein und sprach: „Trinket Alle daraus, denn das ist mein Blut, das Blut des neuen Bundes, des für Viele vergossen ist zur Vergebung der Sünden.“ Am Tage darauf wurde sein Blut am Kreuze vergossen. Das Passahfest diente dem Andenken an die Stiftung des alten Bundes, da Israel aus dem Lande des Elends befreit, zum Volke Gottes erhoben und dem Lande der Heimath entgegengeführt wurde. Jener Bund ward durch das Blut von Lämmern eingeweiht. Jetzt soll ein neuer Bund an die Stelle des alten treten. Aber zu diesem Zwecke muß erst Jesu Blut vergossen werden. Vergossen werden zur Vergebung der Sünden. Zuerst Bewirkung von Gottes Vergebung, dann erst kann der neue Bund Gottes in's Leben treten8). Und es sei der Sohn des Menschen, das will sagen, der Sohn der Menschheit, der längst verheißene und ersehnte, ihr edelster Sproß, der jetzt übergeben werde zur Kreuzigung. Denn der neue Bund ist nicht, wie der alte, ein Bund mit Israel allein, sondern mit der Menschheit. - An demselben Abend sprach Jesus in dem Abschiedsgebete das Wort: „Ich heilige mich selbst für sie.“ Als ein Heiliges Opfer geht er in den Tod9).
Diese vier Aussprüche unseres Herrn sind die Hauptwurzeln, aus welchen die Zeugnisse der Apostel über die versühnende Bedeutung des Todes Jesu erwachsen sind. Petrus und Paulus wiederholen in ihren Briefen das Wort vom Lösegeld10). Paulus und Johannes führen weiter aus, daß in Jesu das wahre Lamm Gottes, von welchem Israels Passahlamm nur das Vorbild war, der Menschheit gegeben sei11). Der Hebräerbrief nennt das Blut Jesu das Blut des ewigen Bundes, durch welches unser Gewissen gereinigt werde. Was Jesus von der Weihung seiner selbst zum heiligen Opfer sprach, ist in diesem Briefe dahin ausgeführt, Jesus sei Beides zugleich, der Priester und das Opfer, gewesen und indem er sich durch den in ihm wohnenden ewigen Geist als ein heiliges Opfer an Gott geweiht, sei eine ewige Erlösung durch ihn vollbracht worden12). Nicht eine Erfindung der Kirche sondern das apostolische Wort ist es also, worauf der Glaube der Christenheit ruht, daß am Carfreitag die Versühnung der menschlichen Sünde geschehen, d. h. die Vergebung unserer Sünden von Jesu bei seinem Vater ausgewirkt worden; dieses apostolische Wort aber ruhte auf Jesu eigenem Wort.
Es gibt in gegenwärtiger Zeit Manche, welche leugnen, daß der Mensch frei sei, d. h. das Vermögen habe, zwischen verschiedenen für ihn möglichen Handlungsweisen zu wählen: sie behaupten, daß der Mensch Alles, was er in seinem Leben gethan habe oder thun werde, kraft einer theils in seiner Eigenthümlichkeit, theils in seiner äußeren Lage liegenden Nothwendigkeit so thun müsse, wie er es thue. Es gibt sogar Manche, welche versichern, daß sie keine Seele haben, sondern lauter Materie seien. Das wirksamste Verfahren gegenüber von solchen Behauptungen ist der Hinweis auf die innere Erfahrung. Der Mensch erfährt seine Freiheit, denn er erfährt innerlich seine Verpflichtung zum Gehorsam gegen ein sittliches Gesetz und erfährt seine Verantwortlichkeit für den Gehorsam oder Ungehorsam gegen dieses Gesetz. Wer die Entschlossenheit besitzt, zu leugnen, daß er diese Erfahrung mache, mit dem kann man vorerst nicht weiter verhandeln. Es ist aber auch nicht nöthig. Denn der unbefangene Theil der Menschen ist sich seines innern Erlebnisses der Freiheit so gewiß, daß er seinen Weg ruhig weitergeht. Der Staat wird fortfahren, für die Erziehung der Jugend und für gerechte Bestrafung der Verbrecher zu sorgen, also die Freiheit des Menschen vorauszusetzen. Von Erziehung, ebenso von einer nach Principien der Gerechtigkeit geschehenden Bestrafung kann ja nur dann die Rede sein, wenn es mit dem inneren Erlebniß der Freiheit seine Richtigkeit hat. In ähnlicher Weise, meine Freunde, setzt die christliche Kirche, wenn sie von der Versühnung der Sünde durch Christum redet, ein inneres Erlebniß voraus. Und zwar das Erlebniß, daß Gott heilig ist und, daß wir Menschen verschuldet sind. Wer Gottes Heiligkeit und seine eigene Verschuldung leugnet, für den hat das Reden von Versühnung der menschlichen Schuld keinen Sinn. Wer Beides - zwar nicht leugnet, aber für Dinge von geringer Bedeutung hält, dem erscheint das Reden von der Versühnung zwar nicht gerade als Thorheit, aber es läßt ihn kalt. Die christliche Kirche wird sich hierdurch in ihrer Verkündigung der Versühnung nicht beirren lassen. Denn sie weiß, daß jeder Mensch, welcher mit Aufmerksamkeit auf sein Gewissen achtet, dieses Erlebniß, daß Gott heilig und, daß der Mensch verschuldet ist, machen kann, ja, daß für jeden eine Stunde kommt, in der er es machen muß. Es gehört zu diesem Erlebniß allerdings noch etwas mehr Sammlung und Energie in der Achtsamkeit auf die innere Stimme als zu dem bloßen Innewerden davon, daß wir frei sind, aber es liegt auf derselben Linie, nur, daß man noch tiefer hinabsteigen muß. Dieses innere Erlebniß setze auch ich voraus: nur Die, welche in demselben einverstanden sind, können für das Reden von der Versühnung ein Interesse, und für die Weise, wie sie geschehen ist, ein Verständniß haben. Diesem Verständniß suchen wir jetzt näherzutreten.
Christus hat unsere Sünde gesühnt, das heißt, er hat uns die Vergebung unserer Sünde bei Gott ausgewirkt. Schon daran hat sich bei Manchen ein Befremden geknüpft. Sie sagen: „Gott ist ja die liebe: wie sollte es also nöthig gewesen sein, daß erst Christus den Menschen die Vergebung auswirkte und gar vollends durch seinen Tod?“ Der Gott, welcher die Liebe sei, vergebe gewiß Jedem, welcher ihn um Vergebung bitte, alsobald. Ich will hierauf zuerst erwidern: Bremen hat im ersten Drittel dieses Jahrhunderts unter seinen Predigern einen Mann gehabt, der zu den geistvollsten Theologen der evangelischen Kirche gehörte und dazu von der größten Unabhängigkeit des Urtheils war: Alles, was ihm als bloß menschliche Tradition erschien, achtete er nicht, hingegen war er ganz und gar durchdrungen von der göttlichen Auctorität der Schrift. Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich Gottfried Menken meine. Man kann nicht kraftvoller über dieses große Thema, daß Gott die Liebe ist, reden, als Menken es that. Eben dieser Mann aber hat keinen Anstand genommen, zu bezeugen, daß Christus - ich bediene mich der eigenen Worte von Menken - „die an der Menschheit haftende Schuld bezahlte, Gottes Mißfallen von uns abwendete, durch seinen Tod ein neues Recht und einen neuen Weg zum ewigen Leben uns eröffnete“. Ihm war es also kein Widerspruch, daß Gott die Liebe ist und, daß doch Christus uns die Vergebung unserer Sünden erst auswirken und unsere Sünde sühnen mußte. Aber ich steige von dem Schüler der Apostel zu den Aposteln selbst hinauf. Johannes ist es, welcher das große Wort: „Gott ist die Liebe“, zum ersten Mal ausgesprochen hat. Sofort aber, nachdem er im 4. Kapitel seines ersten Briefes dieses Wort geschrieben, fügt er bei: „Darin steht die Liebe, daß Gott uns geliebet hat und gesandt hat seinen Sohn als Versühnung für unsere Sünden.“ Also auch Johannes weiß von keinem Widerspruch zwischen dem, daß Gott die Liebe ist, und zwischen dem, daß unsere Sünde durch Christum gesühnt werden mußte.
Wir wollen noch einmal höher steigen: von dem Apostel des Herrn zu dem Herrn selbst. Von dem Herrn Jesu hat die Menschheit gelernt, daß sie Gott mit dem Vaternamen nennen dürfe: die Propheten des Alten Testaments haben noch nicht gewagt, ihre Gebete zu beginnen: Unser Vater. Eben unser Herr aber hat ausgesprochen; er werde sein Leben hingeben als Lösegeld an der Statt von Vielen, sein Blut sei das Blut des neuen Bundes, zur Vergebung der Sünden vergossen. Unter diesen Umständen wird ein hellblickender Mensch sich wohl besinnen, ehe er in die Behauptung einstimmt, einer Versühnung unserer Sünde habe es, weil Gott die Liebe sei, nicht bedurft, denn er wird sich sagen, daß der, von welchem der Vatername Gottes der Menschheit kundgethan wurde, in den Wegen der göttlichen Liebe wohl besseren Bescheid gewußt haben werde als das heutige Geschlecht. Heute redet man von der Liebe, Jesus lebte in der Liebe. Uebrigens ist es für einen etwas tiefer denkenden Menschen auch gar nicht schwer, zu erkennen, warum Gottes Liebe und Gottes Forderung einer Sühnung sich nicht ausschließen, vielmehr in Harmonie befinden. Man kann dies sogar aus unseren menschlichen Verhältnissen anschaulich machen. Wenn ein charaktervoller Vater erleben muß, daß sein Sohn durch ein schweres Vergehen die sittliche Ordnung bricht, so hört deshalb seine Liebe zum Sohne nicht auf, vielmehr bewährt sie sich in dem Ernst, womit der Vater des Sohnes Umkehr sucht; aber im Umgang des Vaters mit dem Sohne tritt eine Aenderung ein, die Vertraulichkeit hört auf, vielleicht wird der Sohn sogar vom Verkehr mit dem Vater ganz ausgeschlossen und dies so lange, bis die entsprechende Sühnung des Vergehens geschehen ist, das einfache Wort des Sohnes, daß ihm dies Vergehen leid sei, genügt einem charaktervollen Vater nicht, er verlangt den Beweis des Ernstes durch die sühnende That. Und das ist nicht Mangel an Liebe, sondern wahre Liebe, denn die wahre Liebe weiß, daß des Sohnes Wohl nur wenn er im vollsten Ernst unter die sittliche Ordnung sich gebeugt hat, wieder gedeihen kann.
Vielleicht gibt das eben Gesagte den Anlaß zu einer zweiten Einwendung. Jener menschliche Vater, wird man sagen, fordert dann die Sühnung des Vergehens von eben dem, welcher das Vergehen begangen hat; Gott aber soll die Sühnung von dem Einzigen, welcher ohne Sünde war, gefordert haben? Käme da nicht bei Gott eine Ungerechtigkeit heraus? Ich trete auf diese Frage um so lieber ein, als sie uns nöthigt, in den Kern der Sache, nämlich in die Art und Weise, wie Christus die Versühnung unserer Sünde vollbracht hat, tiefer einzudringen. Und das ist die Hauptsache. So lange man eine Wahrheit nicht recht versteht, sieht mancher Einwurf bedeutend aus, welcher für Den, der in das innere Wesen der Sache einen Einblick gewonnen hat, sofort kraftlos wird. Ich beginne diese Erörterung mit einer Bemerkung, welche auf den ersten Anblick fremdartig erscheinen mag. Niemand unter uns wird sich darüber wundern, daß das Verhältniß der Todesfälle zu der Bevölkerungszahl Jahr für Jahr ungefähr dasselbe bleibt. Man denkt, der Tod erfolge nach einem Naturgesetz, und dieses Gesetz wirke in jedem Jahr in gleicher Stärke. Nun haben aber unsere Statistiker in den letzten Jahrzehnten bei den Verbrechen dieselbe Stetigkeit gefunden. „So lange der Gang der Justiz in Absicht auf Verfolgung und Bestrafung der Verbrechen in einem Staate sich nicht ändert“ - dies sind die Worte des zuverlässigen Statistikers Dr. Wappäus in seiner allgemeinen Bevölkerungsstatistik - „wiederholen sich die Verbrechen nach ihrer Zahl und Art sowie nach ihrer Vertheilung auf das Geschlecht und das Alter mit der größten Regelmäßigkeit.“ Mancher mag denken, ob das nicht ein Beweis gegen alle Freiheit sei. Allein die Verbrecher selbst haben das bestimmte Bewußtsein, daß sie das Verbrechen hätten unterlassen können, wenn sie nur ernstlich gewollt hätten. Auch gibt die Statistik wieder andere Thatsachen an die Hand, aus denen man sieht, die Freiheit sei nicht ein Traum, sondern eine Wirklichkeit. (Ich kann auch hierfür auf das angeführte Werk verweisen). Das aber ist aus dieser Regelmäßigkeit, mit welcher die Verbrechen wiederkehren, unwidersprechlich klar, daß es mit der Entwickelung und dem Gebrauch der dem Menschen angeborenen Freiheit nicht steht, wie es stehen könnte und sollte. Es ist ja nach dem Zeugniß jedes Gewissens frevelhafte Unnatur, wenn der Mensch seinen Bruder mordet; aber so sehr hat sich die Masse der Menschen der Macht der Leidenschaften hingegeben, so sehr hat sie die sittliche Widerstandskraft in sich erschlaffen lassen, daß Jahr für Jahr ungefähr dieselbe Zahl von Menschen der mit stetiger Stärke wirkenden Versuchung unterliegt und das unnatürliche Verbrechen begeht. Hundertmal hat man sich im Namen der Aufklärung darüber geärgert, daß die Schrift den Menschen für einen Knecht der Sünde erkläre und von einem Gesetze der Sünde rede13); jetzt kommen die Zahlen der Statistiker und beweisen, es sei dennoch so. Stellt sich hier nicht mit erschütternder Kraft die Thatsache vor unser Auge, daß der Weg, den die Menschheit geht, ein völlig anderer ist als der, den ihr Heiliger Schöpfer vom Anfange an ihr zugewiesen hat? Und wenn sich dies so verhält, ist es dann nicht begreiflich, daß die Majestät Gottes von der Menschheit eine Sühnung ihrer Sünde verlangt?, daß die Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen nicht wieder angeknüpft, der Geist Gottes den Menschen nicht mitgetheilt werden kann, ehe die Sühnung geschehen ist? Gott thut auch denjenigen Menschen, die von ihm ferne sind, viel Gutes. Die heidnischen Völker genießen bis auf den heutigen Tag Gottes Sonnenschein und Regen und die Erfüllung der Herzen mit mancherlei Freude. Dieselben Segnungen werden unter den Christen auch den Verächtern Gottes zu Theil. Allein diese äußerlichen Güter sind ja nicht das höchste Gut. Nur wer Gott selber hat, indem Gottes Geist in ihm wohnt, hat das höchste Gut. Und diese irdischen Güter geben eben nur für dieses irdische Leben Kraft und Freude. Unvergängliches Leben kann durchaus nur aus der Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott selber kommen. Wer etwas tiefer nachdenken will, kann leicht einsehen, daß allermeist nach dem Tod die Unmöglichkeit, ohne ein Leben im Geiste Gottes kraftvoll und freudevoll zu bleiben, sich herausstellen wird. Denn durch den Tod wird der Mensch von den irdischen Nahrungsquellen abgeschnitten. Während des irdischen Lebens ist die Selbsttäuschung möglich, als ob das Irdische dem Menschen genügen könnte; aber aus welcher Quelle soll jenseits die Nahrung, Kräftigung, Beglückung kommen, wenn nicht aus Gott selbst? Was die Schrift „verloren werden“ nennt, ist, wo der Geist Gottes fehlt, in der That das Natürliche, Selbstverständliche, Nothwendige. Den Geist Gottes zu empfangen ist also für uns Menschen im vollsten Sinn des Wortes eine Lebensfrage. Und doch ist es, wie vorhin bemerkt, der Majestät Gottes widersprechend, seinen Geist, also sich selbst, den Menschen hinzugeben, ehe eine Sühnung der Sünde geschehen ist. Wie soll nun diese geschehen? Die Menschen haben es in verschiedener Weise versucht, die Sühnung zu Stande zu bringen. Sie haben Thiere als Opfer dargebracht. Allein unmöglich konnte hierdurch eine menschliche Uebelthat gesühnt werden. Sie haben sich selber schwere Leistungen auferlegt, z. B. mühselige Wallfahrten, oder schmerzvolle Leiden, z. B. durch Geißelungen. Allein auch dies ändert ja die Herzen nicht, kann also vor Gott keinen Werth haben. Die Sühnung einer Missethat könnte offenbar nur darin liegen, daß der Mensch erstlich die Uebel, welche von der Gerechtigkeit Gottes als Vergeltung der Missethat auf den Missethäter fallen, in demüthiger Anerkennung der göttlichen Gerechtigkeit tragen, zweitens mit dem bösen Sinn, aus welchem die bösen Thaten hervorgegangen sind, vollständig brechen, drittens von nun an ein gerechtes Leben führen würde. Wo sind nun aber die Leute, die dies vermögen? Und zwar es vermögen, ehe sie den heiligen Geist haben? Denn dieser kann ja erst nach geschehener Sühnung dem Menschen gegeben werden. Es mag allerdings Manche geben, welche meinen, daß sie wohl im Stande seien, jenes Dreifache zu leisten, also ihre eigenen Versühner zu werden. Aber das ist eine Selbsttäuschung. Diese Menschen wissen nicht, daß es ein Gesetz der Sünde gibt, daß die Sünde ist wie ein sich umschwingendes und den, der sich in sie verwickelt hat, mit sich herumschwingendes Rad. Unsere großen Dichter wissen wohl von diesem sich schwingenden Rad. Wie gewaltig weiß Shakespeare davon zu reden! Aber lasset uns dabei nicht bloß an solche Frevler wie Macbeth und seine Gemahlin denken. Selbstsüchtig sein heißt böse sein. Ob das in dem Menschen wohnende Böse in großen oder kleinen Dimensionen, in häßlichen und rohen oder anständigen und feinen Formen auftrete, ist Nebensache. Häßliche Thiere sind, wenn ihre Häßlichkeit durch die Kleinheit ihrer Gestalt dem menschlichen Auge sich entzieht, darum nicht minder häßlich: wer sein Auge mit einem Mikroskop bewaffnet, entsetzt sich über ihre Häßlichkeit. Vor Gottes Auge aber steht Alles so da, wie es in Wahrheit ist. Sogar das ist Nebensache, ob das Böse zur That wird, oder im Herzen verschlossen bleibt. Gott sieht das Herz an. Vor seinem Auge kann man mit bloßen Gedanken einen sehr reellen Mord begehen. Auch die in der Tiefe des Herzens verborgen gebliebene Selbstsucht ist eine Herrin über den Menschen: er kann sie im besten Falle verhindern, durch Wort und That sich zu offenbaren; nicht aber kann er sie aus seinem Herzen hinauswerfen. Ich rede ja hier immer von solchen Menschen, die den heiligen Geist noch nicht haben. Mir scheint, es müsse jetzt klar sein, daß kein Mensch seine Sünde selber sühnen kann. Und doch ist die Sühnung unserer Sünde nothwendig. Deshalb sind wir jetzt auf den Punkt gekommen, von welchem aus wir anfangen können, das Eintreten Jesu an unsere Statt zu verstehen. Das ewige Wort Gottes ist in Jesu Fleisch geworden, ein voller wahrhaftiger Mensch. Als nun Jesus sündlos aber wahrhaft menschlich, wahrhaft menschlich aber sündlos in Nazareth aufwuchs, mußte er bald Allen, die ihm begegneten, abfühlen, daß sie zu Gott nicht standen, wie er zu ihm stand. Ihm war der Umgang mit Gott für sein Seelenleben so nothwendig, wie das Athmen der Luft und das Schauen des Lichts für das leibliche. Und er fand auch nirgends eine Scheidung zwischen Gott und sich. Beten und den Willen Gottes thun, war seine Lust. Sein innerstes Bewußtsein sagte ihm, daß er Gottes Kind und Gott sein Vater sei. Bei den Menschen in seiner Umgebung fand er wohl auch ein Bedürfniß nach Gott, aber weder diese Stetigkeit des Suchens nach Gott, noch diesen Kindesumgang mit ihm. Als der Knabe zum Jüngling wurde und sein Blick auf sein Volk sich ausdehnte, dazu durch das Lesen des Alten Testamentes die Geschichte seines Volks und ein Theil der Weltgeschichte ihm bekannt wurde, trat ihm immer gewaltiger die Allgemeinheit der menschlichen Sünde entgegen und wie völlig die Menschheit des Geistes aus Gott entbehre. Ferner dürfen wir für sicher halten, daß in demselben Maße, als Jesu diese Erkenntniß aufging, sein Gebetsumgang mit seinem Vater geworden ist zu einer Fürbitte für seine Familie, für sein Nazareth, für sein Israel, für die Menschheit. Denn der lebendige Umgang mit Gott wird nothwendig zum Gebet, das wahre Gebet wird nothwendig zur Fürbitte. Nicht minder sicher ist aber auch das Andere, daß Jesus bald erkennen mußte, wie für die wirkliche Errettung seines Volkes und der Menschheit die bloße Fürbitte nicht genügen könne. Schon das alttestamentliche Gesetz, dann wieder die Weissagung wiesen auf die Nothwendigkeit der Versühnung hin. Lebendig wird die Menschheit nur durch den Geist aus Gott, den Geist aus Gott empfängt sie nur, wenn zuvor Sühnung ihrer Sünde geschehen ist. Also wurde Jesu Fürbitte zu der Bitte, daß der Vater ihn als den Versühner seiner Brüder annehmen möge. Denn wo war ein Heiliger außer ihm? Und nur ein Heiliger kann Versühner werden. Wie wollte er nun aber die Versühnung zu Stande bringen? Sühnen heißt die geschehene Missethat thatsächlich zurücknehmen, thatsächlich abbitten, thatsächlich den Stab über sie brechen. Das wollte Jesus im Namen seiner Brüder thun. Aber - in welcher Weise konnte er es thun? Wenn er seine ganze Kraft daran setzte, Gott seinen Brüdern zu bezeugen und sie zu ihm zurückzuführen, wenn er alle Aufopferungen über dieser Bezeugung Gottes zu erdulden willig war, wenn er alles Elend, welches die Gerechtigkeit Gottes mit der Sünde verknüpft hat, inmitten dieser Arbeit an den Sündern mit erfuhr, aber seine Seele willig darunter beugte, weil, wo die Sünde walte, um der Gerechtigkeit Gottes willen auch das Elend walten müsse, - wenn er dies Alles that, und es bis zum letzten Hauch seines Lebens that: hieß das nicht in den Proceß des Heiligen Gottes gegen die sündige Menschheit so eingreifen, daß er im Namen seiner Brüder die thatsächliche Anerkennung des vollkommenen Unrechtes, der Menschen und des vollkommenen Rechtes Gottes, die thatsächliche Abbitte unserer Missethat vor dem Throne Gottes niederlegte? In solcher Weise unser Sachwalter zu werden, das war der Entschluß, mit welchem der heilige Jesus von Nazareth an den Jordan kam. Manche Leser der Evangelien haben sich schon darüber gewundert, daß unser Herr sein öffentliches Auftreten damit begann, sich von Johannes taufen zu lassen, denn diese Taufe war gewöhnlich mit einem Bekenntniß der Sünde verknüpft. Schon die Untertauchung selbst war ein Sinnbild des Verlangens, den Schmutz der Seele abzuwaschen. Jesus aber war, wie er das nicht bloß einmal, sondern, man dürfte sagen, hundertmal bezeugte, ohne die geringste Verunreinigung. Wozu also bei ihm die Wassertaufe? Die Sache erklärt sich durch das später von ihm geredete Wort von der Leidenstaufe, die an ihm müsse vollendet werden. Die Willigkeit zu dieser ist es, welche er durch seine Theilnahme an der Jordanstaufe sinnbildlich ausgesprochen hat. Der, welcher allein unter allen Menschen keinen Theil hatte an der menschlichen Sünde, wollte doch Theil nehmen an den menschlichen Leiden, welche der Sold der Sünde sind, um auf diese Weise der Sünder hilfreich sich anzunehmen. Diese Willigkeit hat er durch seine Taufe bekannt, und sein Vater hat dieses Bekenntniß angenommen.
Dreimal geschah in dem Lebensgange unseres Herrn vom Himmel her ein Ruf, welcher ihm das Wohlgefallen seines Vaters bezeugte, und jedesmal war er veranlaßt durch eine von Jesu geschehene Bezeugung seiner Leidenswilligkeit. Der erste Fall ist dieser bei Jesu Taufe. Die Evangelisten berichten, bei Jesu Heraussteigen aus dem Wasser sei vom Himmel die Stimme gekommen: „Dieser ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe.“
Der zweite Ruf vom Himmel geschah bei der Verklärung Jesu auf dem Berg. Diese fand statt sechs Tage nachdem Jesus seinen Jüngern jene im Anfang von mir erwähnte feierliche Ankündigung des ihm bevorstehenden Todes bei Cäsarea gegeben hatte. Wieder lautete der Ruf: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe.“ Dieser Ruf sowie die ganze Verklärung auf jenem Berge stand in innigem Bezug zu der von Jesu geschehenen Leidensverkündigung. Jesus demüthigt sich vor seinen Jüngern zu dem Bekenntniß, daß er, der Messias, bis zum schmählichen Tode werde erniedrigt werden; der Vater verherrlicht ihn durch das Hervorbrechen der innerlich verborgenen Herrlichkeit Jesu in seiner äußeren Erscheinung, sodann durch das kommen des Moses und Elias und durch jenen Ruf vom Himmel. Jesus wird durch diese Verklärung als ein Angehöriger der Himmelswelt anerkannt, der, wenn er auf Erden stirbt, nicht stirbt als ein von Natur dem Tode verfallener Mensch, sondern als der Hirte, der aus Liebe zur Heerde freiwillig den Tod erleidet.
Der dritte Fall fand statt nach Jesu feierlichem Einzig in Jerusalem, wenige Tage vor seinem Tod. Der Gedanke an den heranschreitenden Tod hatte Jesum damals, wie Johannes im 12. Kapitel erzählt, plötzlich, mit tiefem Grauen erfüllt. Er ruft aus: „Jetzt ist meine Seele bestürzt.“ Er fragt sich, ob er den Vater um Errettung aus der jetzigen Angststunde bitten solle. Aber wie den Tod selbst, so will er auch diese Angst und die mit ihr vor der Umgebung verknüpfte Demüthigung tragen, wenn nur der Name seines Vaters durch ihn verherrlicht werde. Da kommt denn abermals die Stimme vom Himmel. Sie bezeugt, wie Jesu bis dahin gelebtes Leben, so werde auch sein jetzt bevorstehendes Leiden lauter Verherrlichung Gottes sein14). Das waren Versicherungen des Vaters, wie wohlgefällig ihm die Leidenswilligkeit Jesu sei. Zugleich können wir aber aus diesen Rufen vom Himmel, mit welchen der Vater die Leidenswilligkeit Jesu beantwortete, entnehmen, wie schwer das Leiden Jesu war. Diese Stärkungen, die ihm von Oben zu Theil werden, lassen uns einen Blick werfen in die Tiefe feines Kampfs. Man muß auch nicht meinen, daß das leiden Jesu erst in der letzten Woche begonnen Habe, es zog sich durch sein ganzes Leben, zumal dessen letzte Jahre hin. Fragt man, worin es denn bestanden habe, so kommt besonders ein Dreifaches in Betracht. Zuerst, was ihm von dem Haß der Menschen widerfuhr. Wie verächtlich ist er oft behandelt worden! Einen Knecht des Teufels hat er sich müssen schelten lassen. Aber nicht bloß die Feindschaft der Menschen hatte Jesus zu erdulden. Sein himmlischer Vater hat ihn auch dadurch auf eine schwere Probe gestellt, daß er ihm seine Gegenwart und Liebe oftmals tief verborgen hat. Jesu ganzer Gang war ein Glaubensgang. Immer von Neuem galt es, Dunkelheiten zu durchbrechen. Auf's höchste hat sich diese Verborgenheit des Vaters gerade damals gesteigert, als auch die Feindschaft der Menschen am größten wurde. Wer unter uns sein Leben in der Ferne von Gott führt, sollte billiger Weise seine Unfähigkeit bekennen, das Geheimniß des Lebens Jesu nur auch einigermaßen zu beurtheilen: schon das Leben eines frommen Menschen, wie z. B. eines Luther, bleibt Dem, der von Gott ferne ist, nothwendiger Weise gerade in Bezug auf den tiefsten Kern ein Räthsel, denn natürlich kann nur der Gleiche den Gleichen verstehen; wievielmehr muß ihm das Leben des eingeborenen Sohnes räthselhaft bleiben! Dagegen werden Diejenigen, denen ein inniger Umgang mit Gott eigenes Bedürfniß ist, begreiflich finden, daß bei Jesus, je höher die Feindschaft der Menschen stieg, auch das Verlangen der Seele nach dem innerlichen Erfahren der Gemeinschaft mit seinem Vater um so größer wurde, Statt dessen hat sich ihm gerade in seinen äußerlich schwersten Stunden, nämlich in Gethsemane, als er die Gefangennehmung nahe wußte, und vollends am Kreuz, als der Hohn der Feinde und die leibliche Noth den Gipfel erstiegen hatte, die innerliche Gemeinschaft mit dem Vater verborgen, die innere Stimme des Vaters, daß Er der geliebte Sohn sei, ist verstummt, so, daß Jesus, welcher immer der vollkommen Wahrhaftige war, nicht anders konnte als vor den Ohren der ihn verhöhnenden Feinde in den demüthigenden Ruf ausbrechen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ Und nun kam der Tod selbst, der Tod, welcher nach dem durchgängigen Zeugniß der Schrift Alten und Neuen Testaments der Sold der Sünde ist, also für den heiligen Jesum ein seiner Natur widerstreitendes Erlebnis war. So heiß wurden die Anfechtungen, in denen Jesus den Ernst seines Eifers um die Ehre Gottes und seines Erbarmens mit den Sündern, seiner Fürbitte für sie bewähren mußte. Der sündlose Jesus mußte ganz das Los der Sünder theilen. Die Menschen haben ihn behandelt, als ob er der hassenswertheste Verbrecher wäre, und Gott hat ihn nicht vor dieser Mißhandlung bewahrt, er gab ihn hin in ihren Haß, er schwieg, er gab ihn hin in den Tod. So völlig mußte Jesus erfahren, was es mit sich bringe, mit Sündern sich zu thun zu machen, sie retten zu wollen: er, der Heilige, mußte den ganzen Fluch, der sich durch die Sünde über die Menschheit gelagert hat, schmecken, als ob er selber ein Sünder wäre. Er aber blieb ein williger Dulder. Er hat die Bedingung, unter welcher er allein der Sünder sich annehmen konnte, nämlich das Hineingezogenwerden in den auf unserem Geschlechte liegenden Fluch, nicht verschmäht. Er hat gewußt, daß dieser Fluch mit Recht auf unserem Geschlecht liege, daß es die vergeltende Gerechtigkeit Gottes sei, die ihn auf uns gelegt habe, und indem er das ganze Los Derer, denen er als ihr Bruder helfen wollte, willig mit erduldet hat, hat er die Gerechtigkeit Gottes, die Fluchwürdigkeit der menschlichen Sünde thatsächlich anerkannt. Eben dadurch ist er unser Versühner geworden. Die Sühnung der Sünde muß geschehen durch die thatsächliche Anerkennung, daß sie das völlige Unrecht, das schlechthin Ungehörige und Fluchwürdige, und, daß Gott bei der Verhängung all des Elends an Seele und Leib, womit er unsere Sünde vergilt, in seinem Rechte sei. Durch ein solches Anerkennen wird der von der Sündern ignorierten Majestät Gottes Genüge gethan. Jesus hat im Namen der Menschheit das Gerichtsurtheil über die menschliche Sünde ausgesprochen, darum kann Gott aufhören, uns zu richten.
Meine Freunde! Indem ich mich bemüht habe, durch das eben Gesagte einen Blick zu eröffnen in die Weise, wie die Versühnung der menschlichen Sünde von dem Herrn Jesu bewirkt worden ist, bin ich weit entfernt, zu meinen, daß hiemit von dieser großen Sache erschöpfend geredet sei. Eines aber behaupte ich mit getroster Zuversicht, nämlich, daß schon diese Darlegung zeigen könne, wie oberflächlich die Einwürfe sind, mit welchen die Gegner die Lehre von der Versühnung zu überschütten pflegen. Wo bleibt doch z. B. der Vorwurf einer von Gott gegen Jesum geschehenen Ungerechtigkeit, wenn es das innerste Verlangen Jesu selber war, für seine Brüder als ihr Priester eintreten zu dürfen? Oder wie darf man sagen, nach der in unseren Kirchen gepredigten Versühnungslehre werde die Sünde von Gott zuerst an Jesu und hernach - auch noch an uns selber abgestraft?
Von äußerlicher Abstrafung, mit welcher sich die menschlichen Obrigkeiten gegenüber den Uebertretern der Staatsgesetze begnügen müssen, ist hier überhaupt nicht die Rede, daß die Sünder dem Verderben verfallen, bricht aus der Natur der Sache selbst mit innerlicher Nothwendigkeit hervor, denn wer sich von dem lebendigen Gotte scheidet, der wählt ja eben das mit selber den Tod; was aber der heilige Jesus erlitten hat, das hat er darum erlitten, weil ihn der freie Drang der Liebe getrieben hat, das Leiden seiner Brüder mit zu erleiden. Ebensowenig sollte ein denkender Mann sagen, daß nach dieser Lehre Gott eine doppelte Sühnung unserer Sünden verlange, die erste von uns Sündern, die zweite von dem heiligen Jesus; denn in dem Elend, das wir selbst uns durch unsere Sünde anthun, kann keine Sühnung liegen, weil nur das heilige Leiden ein sühnendes Leiden, unser Leiden aber immer ein unheiliges Leiden ist; das heilige, also sühnkräftige Leiden war durchaus nur bei Jesu zu finden.
Zum Schlusse seien mir noch wenige Worte gestattet über die Frage, wie es doch geschehen könne, daß Christi Sühnen gültig sei für Andere, für die Menschheit, für jeden Einzelnen von uns. Wer dies verstehen will, muß sich zweierlei deutlich machen. Erstlich das Wesen des Versühners, Christi. Selbstverständlich ist, daß Jesus, wenn er selbst ein Sünder gewesen wäre, nicht hätte können unser Versühner werden, denn dann hätte er ja vielmehr selbst eines Versühners bedurft. Allein die Sündlosigkeit hätte noch nicht genügt, ihn zur Versühnung zu befähigen. Man kann die Menschheit vergleichen mit einem Baum. Die gewöhnlichen Menschen sind dann die Blätter. Hervorragende Menschen, welche den Halt für andere bilden, sind den Zweigen ähnlich. Die größten unter den Menschen, solche, deren Geist auf ganze Völker und Generationen wirkt, wie z. B. einen Luther, dürfte man die Aeste des Baumes nennen. Allein der Baum der Menschheit muß auch Stamm und Wurzel haben. Und wenn es sich darum handelt, die ganze Menschheit vor Gott zu vertreten, so wird das nur ein solcher Mensch thun können, welchen man zugleich als der Menschheit Stamm und Wurzel bezeichnen könnte. Dieser Mensch ist Jesus Christus nach der Schrift gewesen. Denn er ist das fleischgewordene Wort Gottes, durch welches und zu welchem die ganze Welt und so auch die Menschheit war geschaffen worden15). Dieses fleischgewordene Wort allein konnte der Vertreter der Menschheit sein. Nur er allein hatte den Blick in die ganze Tiefe der menschlichen Verirrung, deshalb konnte nur er mit dem Vater priesterlich darüber verhandeln. Auch konnte nur Jesus den ganzen, vollen, der Größe der menschlichen Missethat entsprechenden Seelenschmerz über die menschliche Sünde empfinden. Wenn der leichtsinnige Sohn eines edlen Vaters einen schweren Sündenfall thut, bei wem ist der innere Schmerz hernach größer, bei dem Sohn oder dem Vater?
Der Erfahrung nach bei dem Vater. Dies kann uns helfen, den Schmerz Jesu über die Sünde der Menschen zu verstehen, denn Jesus ist der menschgewordene, ewige Sohn Gottes, durch welchen und zu welchem wir geschaffen sind: wir sind von der Schöpfung her sein Eigenthum. Doch von dem inneren Wesen Jesu rede ich jetzt nicht weiter: es hat den Gegenstand eines früheren Vortrags gebildet. Das Andere, was man sich deutlich machen muß, um das Gültigwerden der Versöhnung Christi für uns zu begreifen, ist das Wesen des Glaubens. Nur dem Gläubigen kommt ja Christi Versühnung zu gut. Daß einer Menge von Menschen die christliche Lehre von dem Ruhen unserer Seligkeit auf der Gerechtigkeit eines Andern, nämlich Jesu Christi, unverständlich bleibt, hat hauptsächlich darin seinen Grund, daß sie eine falsche Vorstellung haben von dem, was der Glaube sei. Sie stellen sich vor, Glauben sei so viel als Fürwahrhalten. Sie achten das Glauben für eine Sache des Kopfes, wodurch der Mensch selbst und das Herz des Menschen nicht anders werde als zuvor. Da ist es denn kein Wunder, wenn sie verwundert fragen, ob denn das der göttlichen Gerechtigkeit entspreche, daß eine fremde Gerechtigkeit gelten solle als die unsrige. Wäre der Glaube an Christum nichts als das Fürwahrhalten, daß Christus der und der sei und daß sein Tod die und die Bedeutung habe, dann bliebe uns Christus freilich ein Fremder und von einem Gelten seines Todes für uns könnte keine Rede sein. Allein der Glaube, welchen die Schrift den rechtfertigenden und seligmachenden nennt, ist weit verschieden von einem bloßen Fürwahrhalten. Es gibt allerdings eine Menge von Christen, welche bei einem todten Fürwahrhalten stehen bleiben und sich um dieses Fürwahrhaltens willen für Gläubige achten: aber die wirklich Gläubigen haben von jeher gegen diesen Irrthum protestiert und werden nie aufhören, dagegen zu protestieren. Vielmehr, an den gekreuzigten Christum glauben, das heißt, seinen Sühnungstod machen zu dem Fundament, worauf man steht, zu dem Brod, wovon die Seele sich nährt, zu der Quelle, woraus sie ihren Durst stillt, es heißt hungern und dürsten nach Gerechtigkeit und doch anerkennen die eigene Ungerechtigkeit und sich nur halten an Christi Gerechtigkeit und von ganzem Herzen Freude haben an Christi Gerechtigkeit, es heißt, von ganzer Seele für sich selbst jenes Gerichtsurtheil unterschreiben, welches Christus durch sein williges Miterleiden unseres Todes über die Sünde der Menschheit ausgesprochen, es heißt, die von dem erstgeborenen Bruder im Namen seiner sündigen Brüder geschehene heilige Abbitte der menschlichen Schuld gedemüthigten und doch vertrauensvollen Herzens zur eigenen Bitte machen.
Dazu kommt dann noch ein Zweites. Christus, eben der Christus, welcher für uns starb, ist auferstanden, lebet von Ewigkeit zu Ewigkeit, ist bei uns gegenwärtig, wohnt, waltet, wirkt mitten unter uns, begleitet die Verkündigung seines Worts mit Berührungen unserer Seelen durch seinen Geist, ergreift unsere Seelen - und wenn nun deine Seele Den, der sie ergreift, wieder ergreift, das ist der Glaube. Oder, um Worte Luther's in seiner Schrift über die Freiheit eines Christenmenschen zu gebrauchen: der Glaube vereiniget die Seele mit Christo als eine Braut mit ihrem Bräutigam. Man hört jetzt bisweilen die Versicherung, für das christliche Glaubensleben sei es im Wesentlichen gleich, ob Christus auferstanden sei oder nicht: das ist ungefähr so, wie wenn man sagen wollte, für die Ehe sei es gleich, ob der Bräutigam am Leben sei oder nicht. Wer aber dieses einmal begriffen hat, daß der Glaube ein lebendiges Ergreifen des lebendigen Heilandes ist, dem ist eben damit auch begreiflich geworden, wie Christi Gerechtigkeit für den Gläubigen gelten kann. Aus dies kann ich am besten mit Worten von Luther sagen. Wenn durch den Glauben die Seele Christi Braut geworden sei, sagt Luther: „so werden auch Beider Güter, Fall, Unfall und alle Dinge gemein, das, was Christus hat, das ist eigen der gläubigen Seele; was die Seele hat, wird eigen Christi. So hat Christus alle Güter und Seligkeit, die werden der Seele eigen. So hat die Seele alle Untugend und Sünde auf ihr, die werden Christi eigen.“ In der That: wie Niemand bezweifelt, daß, sobald die Ehe geschlossen ist, die Ehefrau alles Gut ihres Mannes als das ihrige betrachten darf, so kann auch das von keinem tiefer Denkenden bezweifelt werden, daß, wer durch den Glauben in Christo ist und Christus in ihm, berechtigt ist, Christi Gerechtigkeit sein zu nennen. Und die Erfahrung bestätigt dieses Recht. Denn jeder Mensch, welcher in lebendigem Glauben Christum ergreift, empfängt jenes Zeugniß in seinem Innern, wovon Paulus in Röm. 8 schreibt: „Der Geist Gottes gibt Zeugniß unserem Geist, daß wir Gottes Kinder sind.“ So ist es seit achtzehn Jahrhunderten, so wird es bleiben. Alle Vorgänge des tieferen Seelenlebens sind freilich nur Demjenigen verständlich, der sie selber erlebt hat, so wird noch vielmehr das tiefste Erlebniß der menschlichen Seele, nämlich ihre Glaubensverbindung mit Christus, Denen, welche dieselbe nicht erlebt haben, immer unverständlich bleiben. Aber was einem Paulus und Johannes, was einem Luther und Calvin das seligste Erlebniß war, das ist wahrhaftig werth, daß wir Alle es selber zu erleben trachten: darum lasset uns gedenken an jenes Wort, das unser Herr zu den Zweien gesprochen hat, die als die ersten ihn wollten kennen lernen, nachdem der Täufer, auf Jesum weisend, gerufen hatte: „Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt!“ „Kommet und sehet“, hieß das Wort, das der Herr Jesus zu ihnen gesprochen hat.