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Gerok, Karl von - Andachten zum Psalter - Psalm 103.

(V. 1-5.)

(1) Ein Psalm Davids. Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen; (2) Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat, (3) Der dir alle deine Sünden vergibt, und heilt alle deine Gebrechen, (4) Der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit, (5) Der deinen Mund fröhlich macht, und du wieder jung wirst, wie ein Adler.

Es sind alte liebe Bekannte, die uns in diesem Psalm begegnen. Trost- und Kraftsprüche, Gold- und Kernsprüche, die wir in unserer Kindheit schon gelernt, die wir unzählige mal inzwischen gehört, die in Trauerstunden und Freudentagen, an Brautaltären und Krankenbetten an viel tausend Herzen ihre Gotteskraft schon erwiesen haben. Und was macht denn diesen Psalm zu einem Lieblingspsalm in der Gemeinde? Worin besteht denn die eigentümliche Schönheit, die herzgewinnende Lieblichkeit dieses Psalms? Darin, meine Lieben, es weht etwas von der süßen Lebensluft des neuen Testaments, von dem milden Friedenshauch des Evangeliums durch diesen Psalm, wie ein süßes, mildes Frühlingslüftlein durch einen schönen Garten weht. Ja, meine Lieben, wie oft noch mitten im Winter Tage des Vorfrühlings sich einstellen, wo der Himmel so tief dunkelblau glänzt, wo die Sonne so warm und kräftig scheint, wo die Luft so mild und weich uns umsäuselt, dass jede Eisrinde springt, dass alle Schneereste vollends zerfließen, dass nicht nur die erwärmte Erde aufgeht, sondern auch das Menschenherz aufgeht, dass man meint, man sei schon in den Mai versetzt und dürfe Veilchen- und Rosendüfte riechen, so finden wir auch im alten Testament, mitten unter dem strengen Winterregiment des Gesetzes, mitten in der trüben Zeit des Wartens solche Vorfrühlingstage, in denen schon der Gnadenfrühling des neuen Testaments sich ankündigt; solche sonnenhelle Stellen, die schon von der Sonne des Evangeliums beschienen sind; solche liebliche Sprüche und Kapitel, von denen man sagen möchte: Hier ist das neue Testament schon mitten im alten. Derartige Stellen sind zum Beispiel beim Propheten Jesaias das 53. und 54. Kapitel, wo das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, wo die Barmherzigkeit Gottes, der die Seinen wohl einen kleinen Augenblick scheinbar verlassen kann, aber mit großer Gnade sie wieder sammeln will, so herrlich und tröstlich uns vor Augen gemalt wird. Zu dieser Art von Stellen gehört auch unser Psalm mit seinem wunderschönen Lob göttlicher Gnade und Erbarmung. Und nun, meine Lieben, wenn schon ein Vater des alten Bundes, wenn schon ein David in einer seligen Gnadenstunde sich erheben durfte zu solch süßer Gewissheit göttlicher Barmherzigkeit, zu solch fröhlichem Lob göttlicher Gnade: sollten nicht wir, die Kinder des neuen Bundes, die wir des Herrn Klarheit schauen mit aufgedecktem Angesicht, aus vollem Herzen und fröhlichem Mund einstimmen in diesen schönen Lob- und Preisgesang? Sollte nicht auch uns bei Betrachtung dieses Psalms mitten in dieser düstern Winterzeit, mitten in dieser dunkeln Abendstunde, mitten auch in allerlei Bedrängnissen und Bekümmernissen frühlingshell zu Mute werden, als ob der blaue Himmel sich über uns wölbte, als ob die goldene Sonne uns umstrahlte, weil wir's fühlen:

Die Sonne, die mir lacht, ist mein Herr Jesus Christ,
Das was mich singen machet, ist was im Himmel ist!

Ja, auch in unsern Seelen soll es widerhallen, dieses „Lobe den Herrn!“ das durch unsern Psalm hinklingt:

  1. Lobe den Herrn, meine Seele! V. 1-5.
  2. Lobe den Herrn, seine Gemeinde! V. 6-18.
  3. Lobe den Herrn, alle Welt! B. 19-22.

1) Lobe den Herrn, meine Seele!

So ruft David sich selber zu, V. 1-5. Und schon bei diesen fünf Versen gibt's soviel zu denken, zu lernen auch für unsere Seelen, dass wir heute bei diesem ersten Teil des Psalms werden stehen bleiben müssen; wir vernehmen da zuerst einen Aufruf zum Lobe Gottes, V. 1 und 2.

V. 1: „Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen.“ Es tut not, Geliebte, dass wir uns zu diesem Lobe Gottes immer wieder selber ermuntern und uns ein kräftiges Lobe den Herrn zurufen; denn wir alle wissen aus Erfahrung, wie träg unser Herz oft ist zum Lobe des Herrn und zur Anerkennung der göttlichen Wohltaten; und wie unser Mund oft viel schneller ist zum Klagen als zum Loben, viel williger zum Bitten als zum Danken. Darum wollen auch wir's uns gern gesagt sein lassen und gern selber sagen: Lobe den Herrn, meine Seele! Wohlgemerkt, nicht nur der Mund soll ihn loben, nicht nur die Lippen sollen einstimmen, sondern aus dem Herzen soll es kommen, die Seele soll dabei sein, der ganze Mensch soll einstimmen in dieses Lob des Herrn: Alles, was in mir ist, lobe seinen heiligen Namen! Alle Seelenkräfte sollen wie eine vollstimmige Harfe zusammenklingen zum Preise der göttlichen Gnadenwohltaten: Der Verstand soll sie erkennen; das Herz soll sie fühlen; der Wille soll sich dadurch anfeuern lassen. Gedächtnis, Begierden und Affekte, ja alle Nerven, Äderlein und Blutstropfen, wie ein alter Ausleger sagt, sollen sich als wie die Rädlein eines Uhrwerks zum Lobe Gottes regen und bewegen, wie's auch in einem unserer Lieder heißt:

Wär jeder Puls mein Lebenlang
Und jeder Odem ein Gesang!

Aber wie mach ich's denn, dass ich mein Herz zu solchem Lobe Gottes ermuntere? Darauf gibt die Antwort unser

V. 2: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ Vergiss es nicht! Darin liegt's! Danken kommt von denken. Würden wir fleißiger denken an all das Gute, das Gott an uns getan, dann würden wir ihm auch feuriger dafür danken. Aber das Menschenherz ist so gar vergesslich, vergesslich zwar nicht für das Gute, das es selber getan, aber für das Gute, das es empfangen hat; vergesslich zwar nicht für Beleidigungen, die ihm widerfahren, aber für Wohltaten, die es genossen! Und doch sollte es umgekehrt sein; doch sollte schon unter Menschen die Regel gelten: Beleidigungen schreibe in den Sand, aber Wohltaten grabe in Marmor ein. Und nun vollends Gott, unserem größten Wohltäter gegenüber, von dem wir so unzählig viel Gutes, von dem wir nichts als Gutes empfangen, wäre es da nicht doppelte Menschenpflicht, Christenpflicht, Kindespflicht: Vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat! Vergiss nicht gleich seine Hilfe wieder, wenn die Not vorüber ist! Vergiss nicht das Gute, was er dir an Leib und Seele tut, weil er's täglich tut, weil du's stündlich empfängst, weil es dir etwas Alltägliches wird, sondern denk auch manchmal daran: Wie wär's, wenn ich das nicht hätte, nicht meinen gesunden Leib, nicht mein täglich Brot, nicht meine lieben Angehörigen, nicht meinen gesunden Verstand, nicht meine liebe Bibel, nicht meine liebe Kirche, nicht meinen lieben Heiland! Vergiss es nicht, auch unter mancherlei Entbehrungen und Bekümmernissen, wieviel Gutes du noch hast, wieviel schlimmer es noch sein könnte, wieviel besser du noch dran bist als Tausende. Denke manchmal an das alles, nicht nur wenn dir ein großes außerordentliches Glück widerfahren, nicht nur an einem Dankfest, an einem Jahresabend, an einem Geburtstag, nein jeden Morgen und jeden Abend denke daran, was der Allmächtige kann, - und was der Allgütige getan, der dir mit Liebe begegnet! Und damit nun keines frage: Ja, was hat er denn mir besonders Großes getan? so höre nun, wie David die göttlichen Gnadenwohltaten aufzählt, V. 3-5.

V. 3: „Der dir alle deine Sünde vergibt und heilt alle deine Gebrechen.“ Sieh, mit den geistlichen Wohltaten fängt der fromme Sänger an. Die sind ja die größten. Der Übel größtes ist die Schuld, und kein äußeres Glück kann uns froh machen, solang wir den Zentnerstein eines bösen Gewissens in unserer Brust herumtragen. Das hat David selber bitterlich erfahren, als er, der große und mächtige König, mitten in seinem Glück, mitten in seinem herrlichen Palast doch als ein zerknirschter Sünder vor Gott im Staube lag und seufzte im 51. Psalm: „Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit.“ Aber die höchste Wonne für ein Menschenherz ist auch die Erfahrung der göttlichen Gnade und Erbarmung, wenn der Friede Gottes wie ein kühler, milder Balsam das wunde Herz überströmt; wenn durch alle Höhen und Tiefen der Seele die Himmelsstimme ertönt: Sei getrost, deine Sünden sind dir vergeben! - dieses Glück hat ein David erfahren, als er ausrief: Lobe den Herrn, meine Seele, der dir alle deine Sünde vergibt; und eine Magdalena, da der Herr mit seiner milden Heilandshand sie aufrichtete in ihren Tränen; und ein Schächer am Kreuz, da er das Verheißungswort vernahm: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein; und ein Apostel Paulus, da er an Timotheus schrieb: Es ist je gewisslich wahr und ein teuer wertes Wort, dass Christus Jesus ist in die Welt gekommen, die Sünder selig zu machen, unter welchen ich der Vornehmste bin. Dieses Glück - o gewiss auch manche Seele hier schon hat es erfahren: am Abendmahlstisch, oder nach einem heißen Bußgebet im Kämmerlein, oder nach einer kräftigen evangelischen Predigt ist dir's da nicht auch schon gewesen, als ob die milde Stimme deines Heilands in dein Herz hineinriefe: Sei getrost, deine Sünden sind dir vergeben?

Hast's da nicht auch du zu dir selber gesagt in süßen Freudentränen: Lobe den Herrn, meine Seele, der dir alle deine Sünde vergibt?

„Und heilt alle deine Gebrechen!“ Sieh, das ist noch mehr. Nicht nur die alten Sünden will er vergeben, auch vor neuen will er uns bewahren. Nicht nur rechtfertigen will er uns durch seine Gnade, sondern auch heiligen. Nicht nur von den einzelnen Sünden, die wir begangen, will er uns waschen durch seine sündenvergebende Gnade und durch das Versöhnungsblut unseres Heilands, sondern auch von der Sünde, die uns immerdar anklebt, will er uns heilen durch die Lebenskräfte seines heiligen Geistes. Von unsern natürlichen Schwachheiten, von unsern sündlichen Neigungen, von unsern Seelengebrechen, von unserer Blindheit gegen das Licht der Wahrheit, von unserer Taubheit gegen das göttliche Wort, von unserer Lahmheit zum Guten, von dem Aussah so mancher unreinen Lüste, von allen diesen Gebrechen, die jedes unter uns oft schmerzlich fühlen muss, das eine da, das andere dort, das eine so, das andere anders, von dem allem will er uns je mehr und mehr heilen durch die himmlischen Heilkräfte seines Worts und seines Geistes, und solche Leute aus uns machen, die in seinen Wegen wandeln und seine Gebote halten und darnach tun. Wenn das größte Wohlgefühl des Leibes das der Genesung ist, ist das nicht auch ein Wohlgefühl, eine Wonne, meine Lieben, wenn man so spüren darf, wie man mit Gottes Hilfe allmählich immer mehr heil wird von seinen Gebrechen, immer mehr fest wird in der Gnade, immer mehr stark wird im Guten? Gilt's da nicht auch ein recht herzliches: Lobe den Herrn, meine Seele, der da heilt alle deine Gebrechen schon hienieden von Tag zu Tag und einst völlig droben, wenn du erwachen. wirst nach seinem Bild. Denn er ist's auch weiter:

V. 4: „Der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit.“ Mit der Sünde nimmt er auch die Strafe der Sünde von uns. Der Tod ist der Sünden Sold und Sünde ist der Leute Verderben. Darum wie der Herr in seiner Gnade die Sünde vergibt und wegnimmt, so erlöst er uns auch vom Verderben, leiblich und geistlich, zeitlich und ewig. „Der dein Leben vom Verderben erlöst!“ wie mannigfach hat das der treue Gott auch an uns allen schon erfüllt! Schon im Leiblichen erfüllt! Wie manches unter uns hat er aus schweren Nöten errettet, vom Rande des Grabes zurückgeführt und bis hierher gnädig erhalten zur Stütze der Unsern, zur Vorbereitung auf eine selige Ewigkeit! Und wie hat er uns erlöst vom geistlichen Verderben! Von welchen Irrwegen der Sünde hat er uns zurückgeführt! Von welchen Abgründen des Verderbens hat er uns hinweggerissen! Was wäre jetzt schon aus uns allen geworden, was würde aus uns allen noch werden in der furchtbaren Ewigkeit ohne seine Gnade, die uns vom Verderben erlöst! Muss da nicht abermals jedes zu sich selber sagen: Lobe den Herrn, meine Seele! und dem Herrn danken:

Du Herr bist mir nachgelaufen, mich zu reißen aus der Glut,
Denn da mit der Sünder Haufen ich nur suchte irdisch Gut,
Hießest du auf das mich achten, wonach man zuerst soll trachten;
Tausend, tausendmal sei dir, großer König, Dank dafür!

Der dein Leben vom Verderben erlöst,

„Der dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit.“ Sieh da seine Güte und Erbarmung erst in ihrer ganzen Tiefe und in ihrer ganzen Höhe! Nicht genug, dass er uns die Strafen erlässt, die wir verdient hätten, und uns vom Verderben errettet, dem wir von Rechtswegen verfallen wären; nein, er will uns auch krönen zu Gottes Kindern, zu Himmelserben uns krönen, mit Gnade uns überhäufen, mit Licht und Herrlichkeit uns schmücken. Willst du in einem Bild und Gleichnis schauen, liebe Seele, was das heißt: „Der dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit“ denk an den verlornen Sohn und was an ihm der gütige Vater getan! Nicht nur dass er ihn vom Verderben erlöst, dass er ihn aus seinem tiefen Elend herausreißt und ihn vom Hungertod errettet, indem er ihn zu einem seiner Taglöhner macht. Nein er lief ihm entgegen und fiel ihm um seinen Hals und küsste ihn. Und sprach zu seinen Knechten: Bringt das beste Kleid hervor und tut ihn an und gebt ihm einen Fingerreif an seine Hand und Schuhe an seine Füße. Und bringt ein gemästetes Kalb und schlachtet es; lasst uns essen und fröhlich sein, denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wieder gefunden worden. Seht, Geliebte, so will Gott die reuige Sünderseele krönen mit Gnade und Barmherzigkeit. So will er sie neukleiden in die weiße Seide der Gerechtigkeit Jesu Christi, die er ihr schenkt und darreicht, unsere Sündenblöße damit zu decken. So will er ihr an den Finger stecken den goldenen Reif seiner Liebe, womit er sie zu seinem Kind erklärt und sich mit ihr verlobt für Zeit und Ewigkeit. So will er ihr neue Schuhe an die Füße geben und sie mit Kraft ausrüsten zum getrosten Pilgerlauf der Erde, dass sie sich nicht beflecke mit dem Schmutz der Sünde, dass sie sich nicht stoße an den Dornen der Trübsal und an den Steinen des Anstoßes. Ja, er will ihr auch aufs Haupt geben droben die Krone des ewigen Lebens und sie sitzen lassen an seinem himmlischen Freudentisch und sie vor Engeln und Menschen zu seinem Kind und Erben erklären. - Wenn du das bedenkst, liebe Seele, und bedenkst, das alles kann und soll auch dir widerfahren; auch dich will dein treuer Gott hienieden schon krönen mit Gnade und Barmherzigkeit; auch dir will er dort beilegen die Krone des ewigen Lebens aus lauter Gnade - o dann musst ja auch du anbetend in den Staub sinken und jauchzen: Liebe, wie vergelt ich dir, was du Guts getan an mir! Da erfüllt sich denn auch das Letzte, was du zu rühmen hast vom Herrn:

V. 5: „Der deinen Mund fröhlich macht oder mit Gütern sättigt und du wieder jung wirst wie ein Adler.“ Ja seinen Kindern, denen er die Sünde vergeben, die er von Gebrechen geheilt, die er vom Verderben erlöst, die er mit Gnade gekrönt, denen macht der treue Gott auch den Mund fröhlich. Er macht ihn fröhlich, indem er sie sättigt und täglich erquickt mit den Gnadengaben seines Reichs, mit dem Lebensbrot seines göttlichen Worts, mit dem Freudenwein seines heiligen Geistes. Er macht ihren Mund fröhlich, indem sie ihren Mund auftun zu fröhlichem Bekenntnis seines Namens, zu herzlichem Preise seiner Gnade, darin sie getrost fortfahren auch unter den Leiden dieser Zeit, auch unter den Lasten des Lebens, auch unter den Beschwerden des Alters. Denn ob auch der äußere Mensch verwest und dem Grabe zureist, der innere wird von Tag zu Tag verneuert. Das ist eben die Kraft seiner Gnade, dass du unter ihrem Segen innerlich alle Tage wieder jung wirst wie ein Adler. Wie dem Adler alljährlich die ausgegangenen Schwungfedern wieder nachschießen, dass er mit erneuter Kraft sich aufschwingt himmelan und sonnenwärts, so weiß der Herr die Seinen auch immer wieder im Geiste zu erneuen und zu verjüngen! Und wenn auch die leibliche Jugend verblüht, wenn auch die Wangen welk und die Haare grau werden - es gibt eine innere Herzensjugend, der die Jahre nichts anhaben können, in der auch ein Simeon und eine Hanna noch fröhlich glüht und blüht. Und wenn man auch für die äußeren Lebensfreuden mit den Jahren allmählich den Geschmack verliert: es gibt Seelenfreuden, deren man nie satt wird, die auch im Alter, die auch am Rande des Grabes noch ihre Kraft behalten, ja immer mehr zeigen, weil sie ein Vorschmack sind der ewigen Himmelsfreuden. Das sind die Freuden in dem Herrn, die Freuden an Gottes Wort und dem Gebet, die Freuden christlicher Freundschaft und Gemeinschaft, die Freuden des Glaubens, der Liebe, der Hoffnung. Gewiss, es ist auch unter uns manche Seele, die diese Freuden kennt, die es auch bei alterndem Leib immer seliger erfahren darf: Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden. Der Herr lasse es uns alle je mehr und mehr erfahren, damit wir ihn allesamt immer fröhlicher loben mit Herzen, Mund und Händen, bis wir ihm einst besser lobsingen droben in himmlischen Chören. Ja, lobe den Herrn, meine Seele!

Lobe den Herren und seinen hochheiligen Namen!
Lob ihn was in mir ist, mit dem erkorenen Samen!
Er ist dein Licht: Seele, vergiss es ja nicht!
Lob ihn in Ewigkeit! Amen.

(V. 6-22.)

(6) Der Herr schafft Gerechtigkeit und Gericht allen, die Unrecht leiden. (7) Er hat seine Wege Mose wissen lassen, die Kinder Israels sein Tun. (8) Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte. (9) Er wird nicht immer hadern, noch ewiglich Zorn halten. (10) Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden, und vergilt uns nicht nach unserer Missetat. (11) Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, lässt er seine Gnade walten über die, so ihn fürchten. (12) So fern der Morgen ist vom Abend, lässt er unsere Übertretung von uns sein. (13) Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, so ihn fürchten. (14) Denn er kennt, was für ein Gemächte wir sind; er gedenkt daran, dass wir Staub sind. (15) Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Felde; (16) Wenn der Wind darübergeht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennt sie nicht mehr. (17) Die Gnade aber des Herrn währt von Ewigkeit zu Ewigkeit über die, so ihn fürchten, und seine Gerechtigkeit auf Kindeskind, (18) Bei denen, die seinen Bund halten, und gedenken an seine Gebote, dass sie danach tun. (19) Der Herr hat seinen Stuhl im Himmel bereitet, und sein Reich herrscht über alles. (20) Lobt den Herrn, ihr seine Engel, ihr starken Helden, die ihr seinen Befehl ausrichtet, dass man höre die Stimme seines Worts. (21) Lobt den Herrn, alle seine Heerscharen, seine Diener, die ihr seinen Willen tut. (22) Lobt den Herrn, alle seine Werke, an allen Orten seiner Herrschaft. Lobe den Herrn, meine Seele.

Lobe den Herrn! Das ist, wie wir vor acht Tagen gesehen, gleichsam die goldene Überschrift dieses schönen Psalms. Und zwar zuerst: Lobe den Herrn, meine Seele! Das war der Inhalt der fünf ersten Verse, die wir vor acht Tagen betrachtet haben. Seine eigene Seele ermuntert David zuerst zum Lobe des Herrn; von seinen eigenen Gnadenerfahrungen spricht er zuerst. Die sind's, die ihn überhaupt für diesmal bewogen haben zum fröhlichen Auftun des Mundes und die Harfe des Danks ihm in die Hand gegeben.

Aber nun schaut sein begeistertes Auge im weiteren Umkreis umher, nun stimmt er seine Harfe zu vollerem Ton, nun rühmt er seines Gottes Gnade und Erbarmen, wie er es an seinem ganzen Volk verherrliche, und darum heißt

2) der zweite Teil des Psalms, V. 6-18: Lobe den Herrn, seine Gemeinde!

V. 6: „Der Herr schafft Gerechtigkeit und Gericht allen, die Unrecht leiden.“ So rühmt Davids königliches Herz mit hoher Freude. Ihm selber hat der treue Gott gnädig geholfen aus schwerer Not, und das gibt nun dem frommen Sänger einen helleren und getrosteren Blick auch in Gottes Weltregiment überhaupt. So geht es uns ja, meine Lieben. So lang uns selber irgend ein schweres Kreuz, irgend ein schmerzlicher Kummer drückt, so ist's uns, als wäre überhaupt kein Heil in der Welt, wir sehen alles mit trüben Augen an, wir verzweifeln sozusagen an Gott und Welt. Aber wenn nun uns der Herr geholfen hat, wenn auf unserem eigenen Lebenspfad seine Gnadensonne wieder scheint, dann sehen wir die Welt überhaupt wieder in milderem Lichte, dann glauben wir überhaupt wieder an eine göttliche Güte und Gerechtigkeit. Und das erst gibt uns dann volle Freudigkeit; denn ein edles Herz will nicht für sich allein nur glücklich sein und Gottes Hilfe und Gnade erfahren, sondern möchte allen, die in der Welt leiden, ähnliche selige Erfahrungen gönnen; möchte alle, die da seufzen und weinen, auch miteinstimmen hören in das Lob Gottes und tröstet sich sozusagen über sein eigenes Glück, über seinen eigenen Vorzug mit dem Glauben und der Hoffnung: „Der Herr schafft Gerechtigkeit und Gericht allen, die Unrecht leiden.“ Als einen solchen Gott kennen ihn ja nicht nur einzelne Vielgeprüfte und Hochbegnadigte, ein Hiob und ein David; nein, als einen solchen kennt ihn sein ganzes Volk von altersher.

V. 7: „Er hat seine Wege Mose wissen lassen, die Kinder Israel sein Tun.“ „Habe ich Gnade vor deinen Augen gefunden, so lass mich deinen Weg wissen, damit ich dich kenne und Gnade vor deinen Augen finde.“ So flehte einst am Sinai Mose den Herrn an. Und der Herr erhörte dies Gebet voll Gnade und Herablassung. Er hat Mose seinen Weg wissen lassen, die Kinder Israel sein Tun. Nicht nur äußerlich hat er ihnen den Weg gezeigt, den sie gehen sollten durch die Wüste, indem er vor ihnen herzog des Tags in einer Wolkensäule, des Nachts in einer Feuersäule, sondern auch seine Herzensgedanken und ihre Herzenswege hat er ihnen geoffenbart, indem er ihnen seine Gebote gab auf Sinai, darin gesagt ward, was der Mensch tun soll und was wohlgefällig ist vor Gott. Nicht nur einem Mose hat er sich geoffenbart und mit ihm von Angesicht zu Angesicht geredet, wie ein Mann mit seinem Freunde redet, sondern jeder Seele in der Gemeinde, jedem Kind in Israel hat er seine Gnadenwege gezeigt und sie es erfahren lassen in so manchem Gnadenwunder: Ihr seid das Volk meiner Weide und Schafe meiner Hand. Nicht nur dort in der Wüste auf dem Zug nach Kanaan, sondern auch nachher, auch in den Tagen eines David, eines Elias, eines Jesaias und noch viel herrlicher in den Tagen Jesu und seiner Apostel und bis auf diesen Tag galt es und gilt es in seiner Gemeinde: „Er hat sein Volk seine Wege wissen lassen und die Kinder Israel sein Tun.“ Auch uns allen lässt er ja seine Wege, seine Heilswege und seine Gnadentaten immer aufs neue verkündigen in der Gemeinde, so dass wir ihn wohl loben dürfen in der Gemeinde und bekennen:

Ja, Herr, lauter Gnad und Wahrheit ist vor deinem Angesicht;
Du, du trittst hervor in Klarheit, in Gerechtigkeit, Gericht;
Lässest stets in deinen Werken deine Güt und Allmacht merken:
Tausend, tausendmal sei dir, großer König, Dank dafür!

Und worauf laufen sie denn hinaus, die Wege Gottes, die er uns wissen lässt? Als was für einen Gott offenbart er sich in der Gemeinde? Hört's!

V. 8: „Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte.“ Seht da das letzte Ziel aller Wege Gottes; seht da dem großen Gott recht in sein Herz hinein. Auch andere Eigenschaften dürfen wir an Gott schauen und erkennen; aber erst seine Gnade und Barmherzigkeit lässt uns hineinschauen bis in sein Herz. Wenn wir die Allgegenwart Gottes fühlen, so hören wir gleichsam das Rauschen seines Gewandes, dessen Saum Himmel und Erde erfüllt. Wenn wir die Allmacht Gottes erkennen, so sehen wir gleichsam seinen ausgestreckten Arm, vor welchem der Erdkreis erzittert. Wenn wir die Güte Gottes erfahren, so sehen wir gleichsam seine milde offene Hand. Wenn wir der Allwissenheit Gottes gedenken, so schauen wir gleichsam in sein großes flammendes Feuerauge, vor welchem wir unsere Augen beschämt müssen niederschlagen. Wenn wir uns Gottes Heiligkeit vorstellen, so ist's, als blickten wir in sein strahlendes Angesicht, in das kein Mensch noch Seraph ungeblendet schauen kann. Aber wenn wir hören: „Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte“ dann schauen wir hinein in sein Herz, in sein Vaterherz.

Nur seiner Gemeinde, nur seinem auserwählten Volk hat er sein Herz aufgeschlossen, hat er seine Gnade und Barmherzigkeit geoffenbart von altersher. Das Rauschen seiner Allmacht und Allgegenwart lässt er auch die Heiden vernehmen; den ausgestreckten Arm seiner Gerechtigkeit lässt er auch seine Feinde fühlen; ja selbst die milde Hand seiner Güte tut er auf über alle Kreaturen. Aber seine Barmherzigkeit, der das Herz bricht über unser Sündenelend; seine Gnade, die uns unsere Missetat vergibt; seine Geduld, die unsere Schwachheit mit Langmut trägt; die Güte, die auch Böses den Menschen mit Gutem vergilt diese tröstlichsten und köstlichsten unter allen göttlichen Eigenschaften, die hat er nur seinem Volke geoffenbart, die sind Kleinodien und Juwelen, die nur in seiner Gemeinde verwahrt worden sind von altersher bis auf diesen Tag.

Schon dem Volk des alten Bundes wurden manchmal in seligen Gnadenzeiten diese Kleinodien gezeigt. So wenn Moses mitten unter die Donner des Sinai hinein die sanfte Himmelsstimme vernahm: Herr, Herr Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der du bewahrst Gnade in tausend Glied und vergibst Missetat, Übertretung und Sünde. (2. Mos. 34.) So wenn Gott durch den Mund seines Propheten Jesaias mitten in einer bösen betrübten Zeit seinem Volk ansagen ließ: Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, dass sie sich nicht erbarmte über den Sohn ihres Leibes? und ob sie sein vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen; oder: Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen. Aber voll und ganz, klar und hell hat der ewige Gott seine Gnade und Erbarmung uns leuchten lassen erst im Angesichte seines lieben Sohnes; überm Kreuz auf Golgatha, da klingt noch viel deutlicher und tröstlicher als einst auf Sinais Höhen oder Zions Gipfel die selige Kunde: „Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte.“ Darum lobe den Herrn, du Gemeinde des neuen Bundes, und bekenn es mit preisenden Lippen deinem Heiland:

Dein bin ich nun und Gottes Erbe,
Ich schaue in sein Vaterherz hinein;
Wenn ich nun falle, wenn ich sterbe,
Kann ich unmöglich je verloren sein.
Wenn Sonn und Mond und Erde untergehn,
So bleibt mir Gottes Gnade ewig stehn.

Sie bleibt stehen, wenn sie sich auch oft vor uns verhüllt. Darum gilt's auch:

V. 9: „Er wird nicht immer hadern, noch ewiglich Zorn halten.“ Wohl muss er auch strafen und zürnen; auch sein Volk, ja das ganz besonders, muss die Donner seiner Gerichte hören, die Schläge seiner züchtigenden Hand vernehmen. Das hat Israel oftmals erfahren, das erfahren wir auch heutzutag. Aber auch das darf man in seiner Gemeinde immer wieder erfahren: „Er wird nicht immer hadern, noch ewiglich Zorn halten;“ seine Gnadensonne bricht doch immer wieder hervor aus den Wetterwolken des Zorns, und noch heute wie in den Tagen des Jesaias dürfen es die Seinigen inne werden: Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig von dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser. (Jes. 54.) Denn, wenn er auch als heiliger Gott züchtigt:

V. 10: „Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unserer Missetat.“ Ja, wenn er das täte, wenn er seine nackte Gerechtigkeit walten ließe, dann wehe uns hier, dann wehe uns dort, dann wären wir allesamt längst nicht mehr da. Aber Gott sei Lob und Dank, wir alle wissen's; nicht nur aus seinem Worte hören wir's, sondern in unserem Leben haben wir's schon tausendmal erfahren, wenn er ein gerechtes, wohlverdientes Gericht gnädig an uns vorübergehen ließ, wenn er trotz unserer Übertretungen mit unverdientem Segen uns überhäufte, haben wir selig es erfahren: „Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unserer Missetat.“

V. 11: „Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, lässt er seine Gnade walten über die, so ihn fürchten.“ Wie schön wird uns mit diesem Bilde das Vaterherz Gottes gezeichnet, das größer ist als unsere Sünde, und sein unermessliches Erbarmen, das unergründlich wie der blaue Himmel sich über uns ausdehnt. Wieviel giftige Dünste, wieviel unreine Nebel steigen von der schmutzigen Erde alltäglich auf zum Himmel, und doch, sie dürfen das Himmelblau nicht beschmutzen, sondern werden von ihm aufgesaugt und spurlos verschlungen; sie dürfen die goldene Sonne nicht auslöschen, sondern werden milde verzehrt von ihrer feurigen Kraft. So werden auch die Sünden der Welt immer wieder aufgezehrt von der Sonne der göttlichen Gnade, immer wieder verschlungen von dem unergründlichen Himmel der ewigen Erbarmung, und die Sonne der göttlichen Gnade leuchtet nach wie vor und der Himmel der göttlichen Erbarmung wölbt sich über uns, als wäre nichts geschehen.

V. 12: „So fern der Morgen ist vom Abend, lässt er unsere Übertretung von uns sein.“ Gleichsam müde von all den Freveln und Gräueln, die sie am Tage mitansehen musste, geht oft die Sonne unter am Abend. Und doch, am andern Morgen geht sie wieder frisch und freundlich auf, im Schoß der Nacht sind die alten Sünden begraben und so ferne der Morgen ist vom Abend, lässt Gott unsere Übertretung von uns sein. Mit schwerem Herzen und beladenem Gewissen legen wir oft am Abend unser Haupt aufs Kissen, betrübt über soviel Versäumnisse und Verschuldungen, und siehe, am Morgen schenkt uns Gott doch wieder einen neuen Gnadentag, um frisch anzufangen und alles wieder gut zu machen. Des vergangenen Tages Schulden sind abgetan wie die düstern Träume der Nacht, und so ferne der Morgen ist vom Abend, lässt Gott unsere Übertretung von uns sein. Ja:

V. 13: „Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, so ihn fürchten.“ Da haben wir endlich das köstlichste, tröstlichste Wort, in welchem alle Barmherzigkeit und Gnade, alle Geduld und Treue Gottes so schön und klar zusammengefasst ist, dass ein Kind es verstehen kann: Das Wort „Vater“. Nicht oft, nur etwa ein Duzendmal trägt im alten Bund Gott den lieben, süßen Vaternamen; er ist da vielmehr der Herr und König, der Gebieter und Richter. Um so lieblicher und süßer klingt's, wenn schon im alten Bunde dann und wann dieser holdselige Namen hervortritt, wenn er bei Jeremias sagt: Ich bin Israels Vater und Ephraim ist mein erstgeborener Sohn (Jer. 31, 9.); wenn ein David lobsingt: „Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, so ihn fürchten.“ Und nun, wie gut haben wir's in der Gemeinde des neuen Bundes, denen dieser Vatername erst recht offenbart, erst ganz geschenkt ist im Sohne. Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget, dass wir Gottes Kinder heißen sollen! Seht, welch eine Gnade, dass wir täglich und stündlich mit all unsern Bitten, mit all unsern Sorgen, ja mitsamt unsern Sünden vor den Gnadenthron des ewigen Gottes treten dürfen und im Namen Jesu sprechen: Abba, lieber Vater! Ja nicht nur trotz unserer Schwachheit und Sünden, sondern wegen unserer Schwachheit und Sünden will uns der göttliche Vater mit Erbarmen ansehen. Denn was ist's doch, das eines Vaters oder einer Mutter Herz so sanft und mächtig niederzieht zu ihrem Kind, dass es oft brechen möchte vor Erbarmen? Es ist gerade die Schwachheit und Hilfsbedürftigkeit des Kindes, das ganz abhängt von des Vaters Liebe und Treue. So schaut der himmlische Vater auch unsere Schwachheit an mit väterlichem Erbarmen:

V. 14: „Denn er kennt, was für ein Gemächte wir sind; er gedenkt daran, dass wir Staub sind,“ dass wir nichts sind und nichts haben ohne seine helfende Allmacht, ohne seine verschonende Gnade. Er will mit dem Staube nicht rechten, er will den Wurm nicht zertreten, er will das schwache Kind nicht mit dem Fuße von sich stoßen, sondern mit Vaterhänden führen, auf Vaterarme nehmen, am Vaterherzen tragen. Gelobt sei sein süßer Vatername in der Gemeinde jetzt und immerdar. Noch einmal gedenkt der Psalmist der Hinfälligkeit der Menschenkinder:

V. 15. 16: „Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Felde. Wenn der Wind darübergeht, so ist sie nimmer da und ihre Stätte kennt sie nicht mehr.“ Ja, das ist der Mensch eine Blume des Feldes! Und wenn er noch so schön blüht am Leib und an der Seele er ist eine zerflatternde Rose, die ein Windhauch entblättert; er ist ein winziges Vergissmeinnicht, das flehend sein blaues Auge aus dem Grase emporhebt, als wollte es den allmächtigen Gott bitten: Vergiss mein nicht, verlass mich nicht, zertritt mich nicht! Nun das tut er nicht, der allmächtige Gott; er will das zerstoßene Rohr nicht zerbrechen, er will das schwache Blümlein nicht zertreten, sondern will es mit den Strömen seiner Gnade begießen, wenn es welkte in der Hitze der Trübsal; will es an sein Vaterherz stecken, wenn es demütig vor ihm sich beugt; will es in seinen Himmelsgarten verpflanzen, wenn die Lüfte des Todes darin wehen, dass es schöner wieder aufblühe in Ewigkeit. Denn:

V. 17. 18: „Die Gnade aber des Herrn währt von Ewigkeit zu Ewigkeit über die, so ihn fürchten, und seine Gerechtigkeit auf Kindeskind, bei denen, die seinen Bund halten und gedenken an seine Gebote, dass sie danach tun.“ Da dürfen wir in eine selige Ewigkeit hineinblicken, die Gottes Gnade uns aufschließt. Denn seine Gnade währt ja von Ewigkeit zu Ewigkeit und vererbt sich nicht nur hienieden auf Kind und Kindeskind in seiner sichtbaren Gemeinde, sondern offenbart sich droben noch viel seliger, als ein David es geahnt, in der oberen Gemeinde; denn sind wir Gottes Kinder, so sind wir auch seine Erben.

Und denk ich, bist du hier so schön
Und lässt's uns so lieblich gehn
Auf dieser armen Erden;
Was wird's doch erst nach dieser Welt
Dort in dem schönen Himmelszelt
Und goldnen Schlosse werden!

Aber da hör auch, Gemeinde des Herrn, wer allein seiner Gnade sich freuen und seine Erbarmung genießen darf in Zeit und Ewigkeit. Nur denen gilt sie, die seinen Bund halten und gedenken an seine Gebote, dass sie danach tun. Darum, willst du seiner Vaterliebe dich trösten, so sei auch sein liebes, folgsames Kind. Darum lobe den Herrn, seine Gemeinde, lob ihn nicht nur mit dem Munde, sondern auch mit Herz und Wandel, mit einem Herzen, das seinen Bund hält, mit einem Wandel, der nach seinen heiligen Geboten sich richtet, damit sein Name geheiligt werde, sein Reich komme, sein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel. Auch den Himmel ruft nun David auf zum Lobe des Herrn, nachdem's im ersten Teil des Psalms, V. 1-5 geheißen: Lobe den Herrn, meine Seele! und im zweiten Teil des Psalms, V. 6-18: Lobe den Herrn, seine Gemeinde! so stimmt nun zum feierlichen Schlussakkord der begeisterte Sänger seine Harfe noch zu vollerem Ton und ruft mit starker Stimme zum Schluss:

3) Lobe den Herrn, alle Welt! Über alle Welt erstreckt sich ja sein Reich. Nicht nur im Herzen seiner Gläubigen, nicht nur inmitten seiner Gemeinde wohnt und regiert er, sondern:

V. 19: „Der Herr hat seinen Stuhl im Himmel bereitet und sein Reich herrscht über alles.“ Darum soll auch durch die ganze Welt sein Lob erklingen!

Die Engel im Himmel sollen ihn loben, ihre Angesichter anbetend vor ihm neigen und ihre Harfen zu seinem Preise schlagen herrlicher, gewaltiger, als seine Gemeinde auf Erden es vermag.

V. 20. 21: „Lobt den Herrn, ihr seine Engel, ihr starken Helden, die ihr seinen Befehl ausrichtet, dass man höre die Stimme seines Worts. Lobt den Herrn, alle seine Heerscharen, seine Diener, die ihr seinen Willen tut.“ Aber auch die unvernünftigen Kreaturen sollen einstimmen in sein Lob, der Vogel im Zweig, und der Käfer im Gras, der Stern am Himmel und die Blume am Boden, jegliches soll ihn loben in seiner Art:

V. 22: „Lobt den Herrn, alle seine Werke, an allen Orten seiner Herrschaft.“ Und nun, wie schön der Schluss: „Lobe den Herrn, meine Seele!“ Damit kehrt der Psalm in seinen Anfang zurück. Damit fasst er uns noch einmal bei unserem Herzen, damit das nicht zurückbleibe in dem allgemeinen Lobgesang der Schöpfung. Ja, lobe den Herrn, meine Seele! O möchte diese Mahnung nachklingen in uns, wenn wir nun heimgehen! Möchte dieser schöne Psalm von Gottes Gnade und Erbarmung uns als ein liebliches Trostlied recht oft im Herzen nachtönen auf allen unsern Wegen! Möchte unser ganzes Leben je mehr und mehr ein Loblied auf unseres Gottes Gnade werden, bis wir ihm besser lobsingen in Ewigkeit:

Ach nimm das arme Lob auf Erden,
Mein Gott, in allen Gnaden hin!
Im Himmel soll es besser werden,
Wenn ich bei deinen Engeln bin;
Da bring ich mit der selgen Schar
Dir tausend Halleluja dar!

Amen.