Inhaltsverzeichnis

Gerok, Karl von - Andachten zum Psalter - Psalm 70.

(1) Ein Psalm Davids, vorzusingen zum Gedächtnis. (2) Eile, Gott, mich zu erretten, Herr, mir zu helfen. (3) Es müssen sich schämen und zu Schanden werden, die nach meiner Seele stehen; sie müssen zurückkehren, und gehöhnt werden, die mir Übels wünschen. (4) Dass sie müssen wiederum zu Schanden werden, die da über mich schreien: Da, da! (5) Freuen und fröhlich müssen sein an dir, die nach dir fragen; und die dein Heil lieben, immer sagen: Hochgelobt sei Gott! (6) Ich aber bin elend und arm. Gott, eile zu mir, denn du bist mein Helfer und Erretter; mein Gott, verziehe nicht.

Dieser Psalm ist eigentlich schon einmal vorgekommen. Er ist nichts anders als eine wörtliche Wiederholung aus dem 40sten. Wann ihr Psalm 40 nachlest, so findet ihr, dass dort die fünf Verse vom 14.-18. gerade gleich lauten mit den fünf Versen unseres Psalms vom 2.-6. Die Ausleger meinen, in der Not der babylonischen Gefangenschaft habe man jene fünf Verse aus dem 40. Psalm besonders gebetet und daraus sei unser 70. Psalm entstanden. Dem sei, wie ihm wolle, es fragt sich: Sollen wir nicht gleich weitergehen zum 71. Psalm, weil ja also dieser schon da gewesen? Ich meine nicht. Man darf dieselben Worte in der Schrift wohl zweimal lesen und zweimal betrachten.

Ich will gar nicht davon reden, wie in unsern Betstunden hier die schönsten Stellen oft nur flüchtig behandelt werden können und wir an den lieblichsten und reichhaltigsten Versen oft nur gleichsam vorüberstreifen können, wie der Schiffer im Kahn etwa an blühenden Rosenbüschen oder an fruchtbeladenen Bäumen vorüberstreift; er möchte gerne verweilen und pflücken, aber er kann höchstens ein Blättlein oder ein Zweiglein abstreifen im Vorüberfahren, weil die Wellen ihn weitertragen; so können wir oft in diesen Betstunden von diesem oder jenem Vers kaum ein Blättlein abstreifen, kaum die Oberfläche berühren und den Schaum abschöpfen, weil eben womöglich jeder Psalm in den Rahmen einer kurzen Stunde gespannt werden soll. - Aber auch für eine längere, genauere, tiefere Betrachtung, als wir sie geben können, ist dennoch die Schrift nicht auf einmal auszuschöpfen. Das ist eben ihr göttlicher Reichtum, dass man nicht aufs erste Mal, nicht aufs zehnte Mal, nicht aufs hundertste Mal damit fertig werden kann. Von jedem Kapitel und von jedem Verse und von jedem Worte fast gilt es ja: O welch eine Tiefe des Reichtums, beide der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Und so oft man wieder von vorn anfängt zu lesen, erfährt man wieder, wie richtig Luther sagt: Man klopft allemal noch ein Äpfelein vom Ast, man findet allemal noch neue Gedanken, auf die man früher nicht gekommen. Und diese Mannigfaltigkeit und Unerschöpflichkeit liegt nicht nur in der Schrift, sie kommt auch von uns her, die wir die Schrift lesen, weil wir sie immer wieder unter andern Umständen lesen. Wie eine Gegend, ein Berg, ein Tal, eine Wiese, ein Wald ganz anders sich ausnimmt, ob man sie bei Sonnenschein sieht oder bei trübem Wetter, im Sommer oder im Winter, am Morgen oder am Abend, im Mittagslicht oder im Mondenschein so nimmt sich auch eine Schriftstelle ganz anders aus, je, nach den Umständen, unter denen wir sie lesen, ob wir sie in fröhlicher Stunde lesen oder in trauriger Stimmung, in der Zerstreuung oder in der Einsamkeit, mit ruhiger Seele oder mit angefochtenem Herzen, im 20. Jahre oder im 40. oder im 70.; immer werden wir wieder etwas Neues herauslesen. So wollen wir denn, will's Gott, auch von diesem unscheinbaren Ästlein im Psalmengarten, an dem wir schon einmal vorbeigestreift, noch ein paar Äpfelein herunterklopfen, und wollen uns freuen, dass wir diesmal weniger Verse haben, um sie desto genauer, Wort für Wort, anzuschauen und zu genießen. Es ist nichts als:

Der Stoßseufzer eines geängsteten Herzens,

den wir in diesem Psalm vernehmen; aber es gibt dabei genug zu betrachten; zuerst wendet das geängstete Herz den Blick aufwärts zu Gott, dann vorwärts auf die Feinde, dann rückwärts auf die Freunde, dann einwärts in sich selbst und dann zu guter Letzt noch einmal aufwärts zum Herrn. Also:

1) Aufwärts zu Gott.

V. 2: „Eile, Gott, mich zu erretten, Herr, mir zu helfen.“ Da wollen wir diesmal besonders das Wörtlein „Eile“ ins Auge fassen. Das Wasser muss unserem Beter an die Seele gehen, die Not muss weit gekommen sein, dass er seinen Gott so zur Eile mahnt und treibt. Wenn du nicht bald mit deiner Hilfe kommst, will er sagen, so ist's aus mit mir; lange kann ich's nicht mehr aushalten. Eile, Gott, mich zu erretten! Ja so meinen auch wir oft rufen zu müssen. Die Not ist aufs höchste gestiegen, die Hilfe hat lang auf sich warten lassen, es kommt uns vor, als ginge Gott den Schneckengang; wir können's nicht mehr erwarten, wir seufzen, wir rufen, wir schreien: Eile, Gott, mich zu erretten! Wie oft hat da schon ein liebendes, besorgtes Herz etwa am Krankenbett eines lieben Angehörigen geseufzt: Ach wenn's nicht bald besser wird, so macht er's nicht durch; hat die Tage, die Stunden, die Minuten gezählt: Eile, Gott, zu erretten! Ja haben wir nicht dieses Frühjahr, diesen Sommer noch, auch gesagt und geseufzt: Wenn's jetzt nicht besser kommt, wenn wir nicht bald anderes Wetter bekommen, so ist es zu spät: so ist die Ernte hin, so ist der Weinstock hin, so ist unser Land hin: Eile, Gott, uns zu erretten! Und was tut nun Gott im Himmel, wenn ihn seine Menschenkinder so zur Eile. spornen und um seine Hilfe mahnen? Er eilt, aber er eilt mit Weile; er hilft, aber er hilft keinen Augenblick früher, als bis seine Stunde gekommen ist. Wie er dort bei der Hochzeit zu Kana sagte: Meine Stunde ist noch nicht gekommen, und ließ die Leute warten; wie er dort auf die Botschaft: Den du lieb hast, der liegt krank, nicht eilte, sondern weilte und ließ die Schwestern warten und ließ die Jünger mahnen und ließ den Bruder sterben; so lässt er auch jetzt noch die Seinen oft warten und verzeucht mit seiner Hilfe, mögen wir ihm noch so ängstlich, noch so brünstig rufen: Eile, Herr, eile! Aber sei getrost, Seele, er kommt darum nicht zu spät, sondern zur rechten Stunde:

Hilfe, die er aufgeschoben,
Hat er drum nicht aufgehoben,
Hilft er nicht zu jeder Frist,
Hilft er doch, wann's nötig ist.

Er kommt nicht zu spät, denn er kann schnelle Schritte machen, wenn's einmal drauf ankommt, und alles hereinholen in Kurzem. Wie schnelle Schritte hat er seit sechs Wochen gemacht zu unserer Hilfe! Wie wunderbar, wie durch einen Zauberschlag sind unsere Weinberge vorangeschritten in wenigen Wochen und haben alle Erwartungen übertroffen und überholt! Der Herr kommt nicht zu spät, denn er kann alles wieder gut machen in einer Stunde, wie dort am Grabe des Lazarus, und lässt nur darum die Not aufs höchste steigen, um die Hilfe von oben desto herrlicher zu zeigen. Daran halte dich, Menschenherz, und ruf immerhin zu deinem Gott in der Not: Eile, mich zu erretten! und steig immer höher im Gebet, je höher die Trübsal steigt, wie Noahs Arche immer höher stieg, je höher das Wasser der Sündflut schwoll. Aber vergiss nicht dabei die Geduld der Heiligen. Es ist oft bei uns eine verkehrte Sache, sagt ein alter Ausleger, dass wir haben wollen, Gott solle auf der Post zu uns eilen, und wir wollen zu seinem Dienst anders nicht als wie die Schnecken eilen. Darum murre nicht ungeduldig und zage nicht kleingläubig, wenn der Herr mit seiner Hilfe verzeucht:

Im Verweilen und im Eilen
Bleibet stet dein Vaterherz;
Lass dein Weinen bitter scheinen,
Dein Schmerz ist ihm auch ein Schmerz!
Wann die Stunden sich gefunden,
Bricht die Hilf mit Macht herein,
Um dein Grämen zu beschämen,
Wird es unversehens sein!

Und nun, nachdem er flehend aufwärts geblickt, blickt unser Beter:

2) Vorwärts, mutig vorwärts auf seine Feinde, V. 3. 4.

V. 3: „Es müssen sich schämen und zu Schanden werden, die nach meiner Seele stehen; sie müssen zurückkehren (weichen) und gehöhnt werden, die mir übles wünschen!“ Ei wie mutig, wie trotzig klingt das nach der herben Klage von vorhin! Wie kommt der Psalmist auf einmal zu solchem Mut und Trotz, mit dem er vorwärts schaut, seinen Feinden ins Gesicht? Das macht: er hat vorher aufwärts geschaut, seinem Gott ins Auge, oder eigentlich: er hat sich hinaufgeschwungen an Gottes Vaterherz und schaut nun abwärts auf seine Widersacher, und schaut sie nicht mehr vor sich, sondern bereits tief unter sich. Mach's auch so, Seele, wenn dir bang ist vor menschlichen Feinden, vor irdischen Dingen, sieh sie an von oben herab, von dem Felsen des Glaubens, vom Herzen Gottes, und sie werden dir klein erscheinen, wie von hohem Bergesgipfel die Menschen klein sich ausnehmen wie Ameisen! Ja, meine Lieben, wie nichtig erscheint uns irgend eine Widerwärtigkeit, wie unbedeutend wird uns irgend ein Feind, und wär er noch so gewaltig und noch so boshaft, wenn wir ihn anschauen vom Standpunkte des Glaubens, wenn wir dabei denken an den Gott, von dem es heißt: Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein! wenn wir dabei denken an das Grab, das alle Menschen gleich und auch den Übermütigsten still macht; wenn wir dabei denken an die ewige Herrlichkeit der Kinder Gottes, deren nicht wert sind alle Leiden dieser Zeit! So sieht's der Psalmist an, darum sieht er seine Feinde schon überwunden und prophezeit ihren Untergang:

Es müssen sich schämen und zu Schanden werden, die mir nach der Seele stehen nach dem Leben trachten. Schämen und zu Schanden werden, das ist zweierlei. Schämen, das ist die innere Scham vor sich selbst; zu Schanden werden, das ist die äußere Schmach vor der Welt. Besser sich schämen als zu Schanden werden. Wenn der Gottlose, der Übertreter sich selbst beizeiten noch schämte, in sich ginge, zur Besinnung käme und Buße täte, dann könnte ihm die Schande vor der Welt oft erspart werden, dann müsste er nicht zu Schanden werden. Aber weil so viele sich nicht mehr schämen mögen, darum muss Gott schärfere Mittel brauchen, darum müssen sie zu Schanden werden vor der Welt. Ach, läuft ja doch mancher heutzutage umher in offener Schande vor der Welt und schämt sich doch nicht; läuft umher und lässt mit Fingern auf sich weisen als ein Lügner, als ein Meineidiger, als ein Betrüger, als ein Dieb, als ein Ehebrecher, und schämt sich doch nicht, blickt frech umher in seines Herzens Trotz und brüstet sich gar noch mit seiner Schande! - Nein, Geliebte, wir, wollen uns selber richten, auf dass wir nicht gerichtet werden; wir wollen uns demütigen vor dem heiligen Gott über unsere Versehen und Vergehen in frommer Scham, auf dass er uns nicht zu Schanden mache vor der Welt, nicht zu Schanden mache einst vor seinen heiligen Engeln an seinem großen Tag, der alles ans Licht bringt! Denn es bleibt dabei: Es müssen sich schämen oder zu Schanden werden alle, die wider Gott streiten, sei's hier oder sei es dort. Das ist nicht die Drohung eines rachsüchtigen Menschen; das ist eine Prophezeiung des Heiligen Geistes! So wollen wir auch den folgenden Vers fassen:

V. 4: „Sie müssen wiederum zu Schanden werden, die da über mich schreien: Da, da!“ Wir wollen's wörtlich nehmen, dass es heißt im Deutschen: „sie müssen“, und nicht: „sie sollen“. Nicht der Wunsch eines Frommen ist es: Meine Feinde sollen verdammt werden! Aber das Gesetz des gerechten Gottes ist's: Sie müssen zu Schanden werden, die des Herrn spotten und seine Heiligen verhöhnen! Und wenn auch ein Frommer des alten Bundes, ein David oder ein Hiob oder ein Elias, weil er eben ein Mensch war, noch dann und wann in einem Wort auflodern sollte von fleischlichem Eifer, dann stellen wir als Christen uns allezeit den vor Augen, der geboten hat: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen; und hat selbst danach getan. Nachdem er so mutig und drohend sein Antlitz vorwärts gewendet gegen die Feinde, blickt der Psalmist:

3) Rückwärts auf die Freunde, die hinter ihm stehen;

auch sie sollen teilnehmen an seinem Triumph.

V. 5: „Freuen und fröhlich müssen sein an dir, die nach dir fragen; und die dein Heil lieben, immer sagen: Hochgelobt sei Gott!“ Ein schönes Wort und ein schöner Gegensatz zum vorigen. Der Fromme, wie er im Leiden nicht selbstsüchtig ist, nicht sowohl um seinetwillen den Sieg wünscht, als um Gottes und seiner Sache willen; so ist er auch in der Freude nicht eigennützig, will nicht allein die Freude haben und das Glück und die Ehre, sondern sie teilen mit allen, die es redlich meinen; und wie das Weib im Gleichnis, das ihren Groschen gefunden, ihre Nachbarinnen und Freundinnen herzu ruft, und der Hirte, wenn er sein Schaf gefunden, seine Freunde und Nachbarn herbeiruft: Freut euch, ich habe meinen Groschen gefunden! mein Schaf gefunden! so der Fromme, wenn ihm Heil widerfahren ist im innern oder im äußeren Leben. so preist er's gerne in der Gemeinde, nicht um sich zu rühmen, sondern um Gott zu danken, um andere Mühselige und Beladene aufzurichten: Freut euch, der alte Gott lebt noch; der mich errettet, der wird auch euch helfen; mein Gott ist auch euer Gott; und so werden die Gnaden Gottes, die er Einem erwiesen, ein Gemeingut aller Frommen, wie an Davids Freudenpsalmen tausend Herzen seit Jahrtausenden sich erfreuen und erwärmen. Und so sei es auch heute wieder hineingerufen in die Gemeinde: Seid fröhlich, ihr Gerechten, der Herr hilft seinen Knechten! Nun aber wie die Lerche, wenn sie jubilierend himmelan geflogen, wieder herabsinkt ins Ackerfeld, so fällt unser Sänger aus der seligen Zukunft auf einmal wieder herab in die traurige Gegenwart, blickt:

4) Einwärts in sich selbst

und klagt:

V. 6: „Ich aber bin elend und arm.“ Er fühlt nun wieder seine ganze Armut und Schwäche und dass er von sich nichts ist und hat und kann, sondern alles nur mit Gott und von Gott und durch Gott. So ist's recht, liebe Seele. Gott wohnt bei denen, die einen zerschlagenen Geist haben. Und selig sind die Geistlich armen, denn ihrer ist das Himmelreich. So fühl es nur und bekenn es: Ich bin elend und arm; fühl es und bekenn es nicht nur in bösen Stunden, sondern auch mitten in Glück und Freude. Dann aber blick umso gläubiger und brünstiger noch einmal aufwärts zu Gott, wie David: „Gott, eile zu mir, denn du bist mein Helfer und Erretter; mein Gott, verziehe nicht.“ Ja Herr, auf dich werfen wir all unsere Sorgen. Eile und verzeuch nicht. Hilf unsern Nöten ab im Geistlichen und Leiblichen und erlöse uns von dem Übel, bis du uns einst völlig erlösen wirst in deinem himmlischen Reich.

Doch wohlan, du wirst nicht säumen,
Möchten wir nicht lässig sein;
Werden wir doch als wie träumen,
Wenn die Freiheit bricht herein.

Amen.