(1) Ein Psalm Davids, da er floh vor seinem Sohne Absalom. (2) Ach Herr, wie sind meiner Feinde so viel, und sehen sich so viele wider mich! (3) Viele sagen von meiner Seele: Sie hat keine Hilfe bei Gott, Sela. (4) Aber du, Herr, bist der Schild für mich, und der mich zu Ehren setzt und mein Haupt aufrichtet. (5) Ich rufe an mit meiner Stimme den Herrn, so erhört er mich von seinem heiligen Berge, Sela. (6) Ich liege und schlafe und erwache; denn der Herr hält mich. (7) Ich fürchte mich nicht vor viel hunderttausenden, die sich umher wider mich legen. (8) Auf, Herr, und hilf mir, mein Gott; denn du schlägst alle meine Feinde auf den Backen und zerschmetterst der Gottlosen Zähne. (9) Bei dem Herrn findet man Hilfe, und deinen Segen über dein Volk, Sela.
Ein rührender Psalm, rührend schon durch seine Überschrift: „Ein Psalm Davids, da er floh vor seinem Sohne Absalom.“ Also nicht ein freundlicher Lehrer wie im ersten Psalm, nicht ein begeisterter Prophet wie im zweiten Psalm, ein tiefgebeugter Vater ist es diesmal, dessen Stimme wir vernehmen.
Dieser tiefgebeugte Vater, es ist der hochbegnadigte, der reichgesegnete König David. Auch in seinem Lebenslauf steht es geschrieben von Anfang bis zu Ende: Wen Gott lieb hat, den züchtigt er. Nicht genug, dass er das Joch tragen musste in seiner Jugend und die schönsten Jahre seines Lebens unstet und flüchtig zubringen in Wüsten und Wäldern; mit Sauls Leben war seine Trübsal noch nicht zu Ende; wie der Morgen so war auch der Abend seines Lebens stürmisch und trüb und das Bitterste im Leidenskelch kam zuletzt: der Abfall seines eigenen vielgeliebten Sohnes Absalom. Das war ein bitterer Bodensatz im Leidenskelch; Sauls Spieß war einst an Davids Haupt vorübergesaust, aber Absaloms Undank, der traf ihn mitten ins Herz. Das Joch der äußerlichen Trübsal, das ihm in seiner Jugend Gott auferlegt, das hatte er mit starken Schultern rüstig getragen; aber das Hauskreuz, das ihm am Abend seines Lebens durch seine Liebsten, sein eigen Fleisch und Blut bereitet wurde, das beugte den müden Streiter fast zu Boden.
Wir finden es ja seit alten Tagen gar oft, dass gerade diese Art des Kreuzes, das Hauskreuz, der Elternkummer, der Familienjammer den auserwähltesten Knechten Gottes auch nicht erspart wird. Seit Jakob, von bösen Buben unbarmherzig belogen, um seinen Sohn Josef jammerte, seit David, flüchtig vor einem leichtfertigen Sohn, sein graues Haupt noch einmal musste in der Verbannung schlafen legen, seit der Heiland selber im Blick auf Judas auf sich anwenden musste das bittere Wort: Der mein Brot isst, der tritt mich mit Füßen wie mancher Knecht Gottes, der weithin in Segen wirkte, vielen ein Licht war, hat im eigenen Haus mit Herzeleid zu kämpfen gehabt! Wie mancher treue Vater, wie manche fromme Mutter, die alles getan, ihre Kinder aufzuziehen in der Furcht des Herrn, haben doch an einem Kind, das sie mit Liebe überhäuft, mit Treue erzogen, nichts als Kummer und Schande erlebt.
Nun, meine Lieben, wem unter uns Gott auch etwas von solchem Leid auferlegt hätte, von dem zweifach bittern Leid, das der Menschen Hass uns bereitet, von dem dreifach bittern Leid, das die Sünde unserer Liebsten, unserer Blutsverwandten uns bereitet, der richte sich auf an dem Beispiel jener alten Kreuzträger, der bete in seinem Hauskreuz, wie unser David betet in unserem dritten Psalm.
Wir wollen uns zuvor hineinversetzen in die Lage des unglücklichen Vaters, um dann seinen Psalm erst recht zu verstehen.
Die Lage wird uns angedeutet in der Überschrift: Ein Psalm Davids, da er floh vor seinem Sohne Absalom. Mit dieser Flucht ging es kürzlich so zu. Absalom, der blühendschöne, aber innerlich verdorbene, der vielgeliebte und doch so undankbare, der schon einmal begnadigte und doch unverbesserliche Sohn hatte abermals im Land sich einen Anhang gemacht und in Hebron sich zum König ausrufen lassen. Und das Volk, das eitle Volk, dem die roten Wangen und goldenen Locken Absaloms besser gefielen als Davids graues Haar, das undankbare Volk, das den Segen der langjährigen Regierung Davids, der es zu Ruhm und Ehren geführt wie vor ihm und nach ihm kein König, so schnell vergaß, das wetterwendische Volk, das schon damals wie tausend Jahre nachher zur Zeit Jesu und wie heute noch „Hosianna“ rief und „Kreuzige, kreuzige ihn!“ in einem Atem, das Volk lief Absalom scharenweise zu.
Dem alten König ward angesagt: Das Herz jedermanns in Israel folgt Absalom nach. Und David sprach zu seinen Knechten: Auf, lasst uns fliehen, denn hier wird kein Entrinnen sein vor Absalom. Eine überraschende, eine möchte man sagen übereilte und doch eine wohlbegreifliche Flucht. Dreierlei war es, was David, der doch immer noch König war, der noch einen schönen Haufen Getreuer um sich hatte, zu dieser Flucht bewog: Der tiefe Schmerz über den ausgearteten Sohn, unter dem im ersten Augenblick seine ganze Kraft zusammenbrach; sodann vielleicht ein noch tieferer Schmerz, der Gedanke: dieses Familienkreuz ist ein Gericht Gottes über meine Familiensünde, über das was ich einst an Uria gefrevelt; endlich der edle Wunsch: um meinetwillen soll kein Blut fließen.
So floh denn David. Die rührende Erzählung dieser Flucht bitte ich euch nachzulesen 2. Sam. 15. 16. Da lest ihr, wie der edle König mit wenig Getreuen aus der Stadt zog barfuß mit verhülltem Haupt, begleitet von den Tränen eines großen Teils des Volks, über den Bach Kidron hin am Ölberg vorbei, wo einst der große Davidssohn auch seinen Marterpfad und Leidensweg einschlagen sollte. Da lest ihr, wie er der Wüste sich zuwandte, um dort zu harren, wie sich die Dinge in Jerusalem gestalten würden, wie ihm unterwegs der freche Simei fluchte und mit Steinen warf nach dem grauen Haupt des Gesalbten Gottes, und wie David seine zürnenden Begleiter, die dem Bösewicht den Kopf abreißen wollten, zur Ruhe wies mit den schönen Worten: Lasst ihn fluchen, der Herr hat's ihm erlaubt, ein echter Ahnherr dessen, der auch nicht wieder schalt, da er gescholten ward, noch dräute, da er litt, sondern stellte es dem anheim, der da gerecht richtet. Am Abend jenes Tags, des bittersten vielleicht in seinem Leben, legte David sein müdes Haupt in Bahurim, einem Ort nicht gar ferne von Jerusalem, zum Nachtlager nieder, und an diesem Abend dann hat er wohl unseren Psalm gedichtet als ein schönes Abendlied in so ernster dunkler Stunde, wie die Sage den lieben Paul Gerhard das schöne Lied des Gottvertrauens: „Befiehl du deine Wege“ auch auf der Flucht gedichtet haben lässt, da er amtlos, brotlos, heimatlos mit seiner Familie Rast hielt in einer Herberge an der Straße. Nun verstehen wir gewiss den Psalm selbst. Drei Teile können wir unterscheiden in diesem Trauerpsalm: 1. Davids Klage; 2. Davids Trost; 3. Davids Bitte.
(V. 1 und 2.) Er ist verlassen von Menschen. „Ach Herr, wie sind meiner Feinde so viel und sehen sich so viele wider mich.“ Allerdings viele. Von seinem ganzen Volk waren nicht viel über sechshundert bei ihm geblieben. Eine schwere Erfahrung für einen unter der Krone ergrauten König, der sein Volk furchtlos und treu regiert und geführt hatte ein Menschenalter lang. Aber unter diesen vielen war einer, der ihm weher getan, als alle hunderttausend andere, einer, dessen Namen er nicht nennt, sein Sohn, sein eigener lieber Sohn. Und doch, der betrübte Vater nennt diesen Sohn nicht, verklagt ihn nicht bei Gott, auch nicht mit einem Wort, nur über die vielen klagt er, nicht über den einen. Sehet da das Vaterherz, das es nicht über sich vermag, dem Sohn zu fluchen, den Sohn auch nur zu verklagen, das Vaterherz, das auch über dem verlorenen Kinde noch vor Erbarmen bricht. Es ist leicht, einem Vater zu sagen: Zieh deine Hand ab von dem ungeratenen Sohn; der Mutter zu raten: Denk nicht mehr an das verlorene Kind. Aber kann auch ein Weib ihres Kindes vergessen, dass sie sich nicht erbarmte über den Sohn ihres Leibes? Nein, die Liebe hört nimmer auf; wo sie nicht mehr helfen kann, da muss sie doch noch weinen über das verlorene Kind, da kann sie doch noch beten für das verirrte Schaf.
Aber nicht nur von Menschen ist David verlassen; auch von seinem Gott scheint er wenigstens verlassen: „Viele sagen von meiner Seele: sie hat keine Hilfe bei Gott.“ (V. 3.) Von dem, der so unzähligemal von Jugend auf die helfende, segnende Hand Gottes erfahren, sagen sie in ihrem Übermut: Seine Seele hat keine Hilfe bei Gott. So hatte eben an diesem Tag Simei auf offener Straße ihm nachgeschrien: Nun hat der Herr das Reich gegeben in die Hand deines Sohnes Absalom, und siehe nun steckst du in deinem Unglück, denn du bist ein Bluthund. So schüttelten sie ja später auch über den sterbenden Davidssohn den Kopf: Er hat Gott vertrauet, der helfe ihm nun, lüstet's ihn.
Von Gott verlassen sein, das ist freilich noch bitterer für den Frommen, als verlassen sein von allen Menschen; mit seinem Gottvertrauen zu Schanden werden vor der Welt, das ist die schwerste Demütigung für ein gläubiges Herz. Aber so weit kommt's in Wahrheit nicht bei einem gläubigen Herzen. So weit kommt's auch bei David nicht. Sie sagen's von seiner Seele: sie hat keine Hilfe; er sagt's nicht. Er sagt etwas anderes.
Davids Klage haben wir vernommen. Nun vernehmen wir
(V. 4-7.) „Aber du Herr bist der Schild für mich und der mich zu Ehren setzt und mein Haupt aufrichtet.“ O wie schön, wie fromm, wie echt königlich ist dieses Gottvertrauen! Noch war ihm ein Haufe Getreuer geblieben; auch der tapfere Joab mit seinem Bruder Abisai war an seiner Seite. Dennoch seht er auf keine Helden, auf keinen menschlichen Speer noch Schild sein Vertrauen. Er hatte es so eben und oft schon erfahren, was der Prophet sagt: Verflucht ist der Mann, der sich auf Menschen verlässt und hält Fleisch für seinen Arm. Gott nur ist sein Schild, Gott nur ist sein Trost. - „Gott ist mit uns und wir mit Gott, wir werden Sieg erlangen,“ so heißt's im Schlachtgesang des frommen Königs Gustav Adolf; Gott ist der rechte Schild, „du Herr bist der Schild für mich, und der mich zu Ehren setzt“; du hast mich einst zu Ehren gesetzt auf den Thron Israels als deinen Gesalbten, du hast mich jetzt in Schanden fallen lassen nach deinem unerforschlichen Rat, du nur kannst, du gewiss wirst mich auch wieder zu Ehren erheben „und mein Haupt aufrichten“, mein mit Schmach bedecktes, mein von Leid gebeugtes Haupt wieder fröhlich emporrichten. O seliger Trost für den vom Kummer gedrückten! Der Herr ist meine Hilfe! Lasst auch uns daran halten!
V. 5. „Ich rufe an mit meiner Stimme den Herrn, so erhört er mich von seinem heiligen Berge.“ Die treuen Priester hatten die heilige Bundeslade mitnehmen wollen; aber David hatte gesagt in stiller Ergebung: Bringt die Lade Gottes wieder in die Stadt; werde ich Gnade finden vor dem Herrn, so wird er mich wieder holen und wird mich sie sehen lassen und sein Haus. Spricht er aber also: ich habe nicht Lust zu dir, - siehe hier bin ich; er mache es mit mir, wie's ihm wohlgefällt. Jetzt kehrt er sich im Geist zum heiligen Zionsberg hin, wo das Heiligtum war und den er noch am abendlichen Himmel dämmern sah, und weiß, dass ob er auch leiblich fern davon ist, er doch nicht fern ist von der Erhörung. Ja zum himmlischen Zion, zur heiligen Tempelhöhe droben wollen auch wir unsere Blicke richten und unsere Gebete emporsenden in der Trübsal; dieses Berges Spitze schaut der Gläubige auch allenthalben daheim und in der Fremde, in der Wüste und auf dem wilden Meer; von dort her, von seinem heiligen Berge Zion wird auch uns ein treuer Gott erhören. Sela.
V. 6. „Ich liege und schlafe und erwache; denn der Herr hält mich.“ welch schönes Schlummerlied! Wie ein Kind in Mutterarmen legt er sich in seines Gottes Schoß. Wohl war er flüchtig, wohl war er mitten unter einem empörten Volk; aber der Herr war bei ihm. Getrost leg ich mich, in Frieden schlaf ich, freudig erwach ich, denn der Herr hält mich. Selig, selig, wer so im Gottvertrauen spricht:
Kein Urteil mich erschrecket,
Kein Unheil mich betrübt,
Weil mich mit Flügeln decket
Mein Heiland, der mich liebt.
Wohl sind noch Feinde ringsum, aber die können seinen Schlummer nicht stören.
V. 7. „Ich fürchte mich nicht vor viel hunderttausenden, die sich umher wider mich legen.“ Denn der eine Herr ist stärker als tausend mal tausend. Das hatte er erfahren, als er vor Goliath stand, das hatte er in mancher blutigen Schlacht erfahren, das ist jetzt sein Trost:
Fielen tausend mir zur Seiten
Und zur Rechten zehnmal mehr,
Ließest du mich doch begleiten
Durch der Engel starkes Heer,
Dass den Nöten, die mich drangen,
Ich jedennoch bin entgangen:
Tausend, tausendmal sei dir,
Großer König, Dank dafür!
Das ist Davids Trost; das sei auch unser Trost, und nun noch
(V. 8 und 9.) Hört ihr Davids Kriegsdrommeten? Das ist Davids Gebet. Mit starker Macht ruft er seinen mächtigen Bundesgenossen, seinen Gott zur Hilfe an: „Auf, Herr, und hilf mir, mein Gott; denn du schlägst alle meine Feinde auf den Backen und zerschmetterst der Gottlosen Zähne.“ Ja wer auf Gott vertraut, wer vor Gott wandelt, der darf auch zu Gott rufen und sein Gebet wird kräftig wie Drommetenklang durch die Wolken dringen und himmlische Heerscharen zur Hilfe herbeiziehen. So wollen auch wir im Vertrauen auf Gottes Gnadenverheißungen beten, heftiger, kräftiger, kindlicher beten in der Not und unverzagt ihn zu Hilfe rufen gegen alle Feinde; noch lebt er, der heilige, der allmächtige, der treue, der gerechte Gott, noch lebt er auch uns zum Trost und seinen Feinden zum Trotz.
Ist etwas von Grimm und Zorn in den vorlegten Worten, so schließt Davids Gebet mild und sanft im letzten Vers. „Bei dem Herrn findet man Hilfe“, so spricht er, der Erhörung zum voraus gewiss, „und deinen Segen über dein Volk“, so fleht er als ein echter König für sich nicht nur, sondern auch für die Seinen. Wer ist dieses Volk, für das dieser König bittet? Wohl zunächst das kleine Häuflein, das mit ihm war, und seine Getreuen, die auch in der Ferne noch um ihn weinten und für ihn beteten; aber gewiss auch seines ganzen Volkes, auch des verirrten, undankbaren Volkes gedenkt er hier in liebreicher Fürbitte, der Herr wolle es wieder auf den rechten Weg leiten, der Herr wolle es wieder segnen. Schöner, milder könnte dieser Klagepsalm ja nicht schließen, als mit diesem edlen Wort des Gottvertrauens und der Bruderliebe; dessen wollen auch wir gedenken, wenn wir in Trübsal sind. Wie man aus einem Garten, in dem man gewandelt, sich noch ein Blümlein zum Andenken bricht, so wollen wir zum Andenken mitnehmen von diesem Psalm den letzten Vers. Wenn Menschen zumal uns wehe tun, dann wollen auch wir beten in frommem Gottvertrauen und in milder Bruderliebe: Bei dem Herrn findet man Hilfe, und deinen Segen über dein Volk. Sela! Amen.