Ach! dass Du den Himmel zerrissest und führest herab!
Jesaja 64,1.
Nicht wahr, wie verzweifelt, wie sehnsuchtsvoll klingt dieses Geschrei, gleichsam aus langem, tiefem, innerem Ringen herausgeboren? Und es ist das Geschrei der Besten und Edelsten des Menschengeschlechts aus allen seinen Zeitläuften. Ach, wohin wir auch schauen auf dieser Erde, überall fließen der Tränen so viel. Wohin wir lauschen, überall verborgenes Seufzen und dumpfes Stöhnen, oder auch lautes, schrilles Wehklagen. Tränen und Seufzer über vielnamiges leibliches Leid und noch mehr über Herzenszerrissenheit, über schnöde Ungerechtigkeit, über betrogene Hoffnung, ungestillte Sehnsucht; finstere Verzweiflung über eigene Schuld, und Murren und Klagen und grimmer Zorn über fremde Schuld! Und die lustige Freude sie schwindet so schnell, und alle lachenden Blumen verwelken so schnell und aller Jubel und Reigen verklinget so schnell und wird allermeist schon, ehe er verklungen ist, übertönt von der großen finsteren Totenklage, die immer wieder anhebt im Geschlechte der Menschen, gleichviel unter welchem Himmelsstrich, gleichviel in welchem Jahrhundert es lebt. Und dieses Menschengeschlecht, obgleich es aus tausend Wunden blutet, hat doch eine unendliche Sehnsucht nach Leben ohne Tod, nach Freude ohne Schmerz, nach Glück ohne Störung, nach Vollkommenheit, nach Herrlichkeit, nach Frieden. Ist denn kein Arzt da, der helfen kann? Kein Balsam um die Wunden zu heilen? „Ach, dass Du den Himmel zerrissest und führest herab!“ - fleht der Prophet. „Bleibt uns mit dem Himmel weg!“ - antworten unzählige Kinder unseres Geschlechts. „Mag er nur hübsch verschlossen bleiben; was daher kommt, stört uns in unserem Werk und in unserem Genuss. Wir wollen uns ohne den Himmel behelfen, wollen uns, die Erde zum Himmel machen.“ Aber ach, sie die so sprechen, stehen vielleicht eine Stunde nachher ratlos, trostlos, von aller Kreatur und sich selbst verlassen, da und verzweifeln. Wahrlich, man muss es dem Menschengeschlecht nachsagen, dass es sich durch so viele Jahrtausende hindurch redlich gemüht hat, sein Heil zu schaffen. Es hat ritterlich gekämpft gegen die widrigen Mächte, es hat in saurem Schweiß gearbeitet und gerungen, um Glück und Freude zu finden. Und in der Tat, Großes ist erlangt. Das Unmögliche ist möglich geworden. Kunst und Wissenschaft, Kultur und Industrie und Handel, sie haben zusammengewirkt mit treuem Fleiß, um das Leben so reich und glänzend zu machen, wie es nun vor uns liegt. Ein Geschlecht trat immer auf die Schultern des vorigen und wirklich, wir sind hoch gestiegen und wir steigen noch immerfort. Kein Tag ist der nicht neue Erkenntnisse, kein Tag der nicht neue Genüsse und Freuden schafft für das wissenslustige, genusssüchtige, freudesuchende Menschengeschlecht. Und doch fließt keine Träne weniger, wie vor Jahrtausenden, und doch ist der Herzenszerrissenheit, der Unzufriedenheit, des Murrens, Hassens, Neidens, Zürnens nicht weniger, und doch ist, - trotz aller Arbeit des Menschengeschlechts, - das furchtbare Gesetz des Todes auf keinem einzigen Punkte gebrochen, und immer wieder und überall tönt die alte Klage, dass Alles, Alles eitel sei!
Wann endlich wird das gehegte Menschengeschlecht klug werden und hinaufschauen lernen und zu Gott schreien: „Ach, dass Du den Himmel zerrissest und führest herab!“ Der Himmel ist die Heimat des wahren Friedens, des bleibenden Glückes und Lebens, er muss zerrissen werden, von seinen Gütern und Kräften muss das Menschengeschlecht empfangen; der Himmel ist die Wohnung Gottes; Gott selbst muss durch den zerrissenen Himmel herniederfahren und ein Neues schaffen. Das erkannten selbst die Weisesten unter den Heiden, das erkannten noch sicherer die gläubigen Kinder des alten Bundes. Flehend schauten sie hinauf zu dem Himmel, den unsere Sünde verschlossen hatte: „Ach, dass Du, Gott, den Himmel zerrissest und führest herab!“ Wie Gott helfen werde, das wussten sie nicht, aber dass Gott allein wahres Heil schaffen könne, das wussten sie. Wie Gott helfen werde, das wussten sie nicht, dass ihnen aber auf keinerlei andere Weise als durch innere Erneuerung, durch Rettung von der Sünde, könne geholfen werden, das wussten alle die aufrichtig waren. Und die sich also aufwärts und einwärts mit lauterem Sinne gewendet hatten, die empfingen auch das innere Zeugnis, dass sie nicht vergeblich nach oben schauen, nicht vergeblich Gottes harren würden.
Diese, die also gesinnt waren, die so ihr Herz nach Oben und nach Innen hin gekehrt haben, das waren zu jeder Zeit die rechten Adventsleute und diese sind's auch heute noch. Und wenn du, lieber Leser, Einer von diesen bist, so wird auch dir bald die Weihnachtssonne freundlich strahlen. Du wirst erkennen, dass der Himmel zerrissen ist zum Besten der Erde und dass Gott herabgefahren ist, grade wie Gottes Volk erbeten hat; ja noch mehr, du wirst sehen, dass eine Leiter gestellt ist, die von der Erde bis zum Himmel reicht, und wirst Macht und Mut empfangen hinaufzusteigen aus dem Lande des Todes und der Sünde dahin, wo die heiligen und herrlichen Wohnungen Gottes sind.
Das schreib dir in dein Herze,
Du hochbetrübtes Heer,
Bei denen Gram und Schmerze
Sich häuft je mehr und mehr:
Seid unverzagt! ihr habet
Die Hilfe vor der Tür;
Der eure Herzen labet
Und tröstet, steht allhier.
Und Gott der Herr gebot dem Menschen, und sprach: Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten; aber von dem Baum des Erkenntnisses Gutes und Böses sollst du nicht essen. Denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben.
1. Mose 2,16.17.
Eden! Eden! Paradies! - O, wie diese Klänge aus grauen Tagen der Vergangenheit unser Herz bewegen, dass man stille weinen möchte vor Sehnsucht und Heimweh. Und wer auch meint, dass diese Worte nur die Nachklänge einer schönen Sage seien, der hat doch den heißen Wunsch, dass es Geschichte sei. Und wie sollte das Menschengeschlecht, das unter dem Bann des Todes seufzt seit Jahrtausenden, das von so unnennbarem, vielgestaltigem Wahn fort und fort umfangen war, - wie sollte es zu einer solchen Erinnerung kommen? zu der Erinnerung an eine Zeit, da Gottes Hütte bei den Menschen war, da himmlische und irdische Geister wie Geschwister verkehrten, da Himmel und Erde in einer seligen Lebensharmonie verbunden waren, da kein Missklang die Schöpfung durchzitterte, kein Leib, keine Sorge das Menschenleben trübte, da auch die unvernünftige Kreatur noch nicht seufzte unter dem Bann der Eitelkeit und des Todes, - wie sollte diese selige Erinnerung in ein Menschenherz gekommen sein, wenn nicht aus einem Zustand der wirklich vorhanden war? „Niemand ist unglücklich darüber, dass er kein König ist, als ein entthronter König,“ sagt Pascal. Ja, und Niemand sehnt sich nach einem Besseren, dem das Element, darin er lebt, natürlich ist, der nicht die Anlage für ein Besseres hat. Darum, wohl denen, die stolz genug sind, sich jene Erinnerung nicht rauben zu lassen; selig aber sind nur, denen diese Erinnerung in Christo zu einer gewissen Verheißung der Zukunft geworden ist, die es wissen, dass das Paradies nicht nur hinter ihnen, sondern noch vielmehr vor ihnen liegt.
Vorläufig aber sind wir nicht im Paradies, sondern in der Welt, wo Tod und Tränen, Schweiß des Angesichtes und Herzenszerrissenheit recht eigentlich zur Tagesordnung gehören. Aber wie ist denn das Paradies in ein Sterbefeld voll Seufzen und Stöhnen verwandelt worden? Wir nennen das eine Wort „Sünde“ und haben die Antwort gegeben. Der Mensch sinkt in den Tod, weil er sich durch die Übertretung göttlichen Gebotes losreißt von dem Gotte des Lebens.
„Aber hätte Gott nichts verboten, so hätte der Mensch nicht übertreten!“ klagen Viele, und verklagen damit den Heiligen in der Höhe. O, ihr Unverständigen! wie wenig kennt ihr des Menschen Ehre und Größe? Ihr ahnt nicht, dass ihr mit euren Klagen den Menschen in die Klasse der Tiere herunterdrückt. Ein Mensch, der ohne Sünde bleibt, weil es so selbstverständlich ist, weil es ihm unmöglich ist zu sündigen, ein Mensch, der nur Gott verherrlicht, wie auch die Nachtigall singt, weil es einmal so in sie gelegt ist, der taugt nimmermehr in die Gemeinschaft Gottes, der ist nicht ein Kind Gottes; der ist so wenig heilig, frei und selig, wie ein Thier heilig, frei und selig ist. In der Versuchung erst kann der Mensch seinen Willen offenbaren; in der Versuchung erst wird sein Wille frei; in der Versuchung erst findet er sich selbst und seinen Gott. So viel nur ist der Mensch, so viel er in der Versuchung bewähret ist. Stehet alle auf, die ihr in göttlichen Wegen Erfahrung habt, und bezeuget es wie ein Mann, dass ihr im Erdulden der Versuchungen und Anfechtungen Teilhaber göttlichen Reichtums wurdet!
Die erste Versuchung aber, dahinein Gott den Menschen führt, worin besteht sie? Nicht fordert Gott, dass der Mensch etwas abgibt, was er besitzet. Nicht fordert er, dass der Mensch ein Werk tue, das mühsam und schwer ist. Nicht ein Gebot, sondern ein Verbot schafft dem Menschen die erste Versuchung. Alles soll er haben, alles genießen, was vorhanden ist. Da ist nur Eines, darauf soll er verzichten; „denn dies zu nehmen bringt dir Tod;“ spricht Gott. Der Mensch soll also nur verzichten auf etwas, was noch nicht sein Eigen ist. Freilich er kann es sich nehmen; das tut er dann aber um den Preis der Gemeinschaft mit seinem Gott, also auch um den Preis seines inneren und äußeren Glückes. Wahrlich, man könnte denken, diese Versuchung verdiene nicht den Namen, da dem Menschen ja doch nichts mangelte, was sein Herz begehrte. Nur verzichten soll er auf ein Gut, das er nie besaß.
Nur verzichten sagten wir. Ach, wir wollen dieses „nur“ streichen. Verzichten auf das, was wir nicht haben und uns doch wünschen, ist das allerschwerste. Leicht ist und der schwerste Kampf und die sauerste Arbeit, wobei wir jede Kraft Leibes und der Seele aufs Äußerste anspannen müssen, - gegen das stille aufopfernde Entsagen. Es liegt in unserer Natur, dass uns Alles das, was wir besitzen, nicht so beglückend erscheint als das, was uns versagt blieb. Ja, williger geben wir hin von dem, was in unseren Händen ist, als dass wir diese unsere Hände demütig falten und sprechen: „Ich verzichte, mein Gott, weil Du es so willst.“ Unter denen, die jetzt dieses Blatt in Händen halten, werden zarte Frauen und Jungfrauen, starke Männer und lebensmüde Greise genug sein, die das unter heißen Tränen erfahren haben, dass nichts schwerer ist als auf eine süße stolze Hoffnung zu verzichten.
Aber gerade weil im Verzichten die Seele ihre höchste Kraft beweiset, eben deswegen bleibt es keinem erspart, den Gott zur Vollendung führen will. Auf dem Wege des Verzichtens sollte der erste Adam zum vollkommenen Mannesalter geführt werden, auf dem Wege des stetigen Verzichtens und Sich-selbst-Verleugnens, bis hinein in die Todesnacht, schritt der zweite Adam wirklich zur Gottesherrlichkeit hinauf. O lasst auch uns in seinem Licht und durch seine Kraft die Wege des Verzichtens und Entsagens lieben lernen, so werden auch wir göttlicher Natur fähig und teilhaftig werden.
Wo ich's selber wollte zwingen,
Und es wagen ohne dich,
O, da sanken mir die Schwingen
Meines Mutes jämmerlich;
Aber wo ich stille hielt,
Hast du stets mein Heil erzielt.
Und das Weib schauete an, dass von dem Baum gut zu essen wäre, und lieblich anzusehen, dass es ein lustiger Baum wäre, weil er klug machte; und nahm von der Frucht und aß, und gab ihrem Manne auch davon, und er aß.
1. Mose 3,6.
Da ist's also geschehen, das Schreckliche, die Sünde. Zwischen Gottheit und Menschheit ist nun ein Abgrund ohne Grund und in des Menschen Ohr dringt das ferne Brausen der Wogen des Todes. „Nun, was ist denn so Großes geschehen? Ein Apfel ist gegessen, weiter nichts!“ höre ich sagen. Ach was, Apfel! Ob es sich um das Essen eines Apfels oder (lasst mich thörlich reden!) um den Mord eines Engels handelt, das verschlägt hier nichts. Der Mensch hat das Band der Liebe und des Vertrauens, das ihn mit Gott verbindet, freventlich zerrissen; er hat einen Schlag ins Angesicht seines Gottes und Vaters geführt, da er der Schlangenstimme glaubte, - da er glaubte, dass Gott ein Lügner sei, da er glaubte, dass der Vater aller Güte ihm sein Glück neide und kürze. (V. 4 u. 5.) Das ist die Sache.
Es lag im Menschen eine Sehnsucht, ein gewaltiges Streben weiter zu kommen, höher zu steigen, tiefer zu schauen in den Urgrund aller Dinge hinein. Gott selbst hatte diesen Zug in sein Herz gelegt. Gott selbst wollte auch den Menschen zu seinem Ziele führen auf heiligem Wege. Er sollte in der Tat Gott ähnlich, ja, seiner Herrlichkeit teilhaftig werden; seine Augen sollten mehr und mehr aufgetan werden, zu erkennen, was gut und böse sei. Nun ist der Mensch Gott gleich, in dem Einen, dass er so selbstständig wie Gott gehandelt hat; Dafür ist er ihm aber in allem Andern ungleich geworden. Nun sind seine Augen aufgetan; sie erkennen was Leben und Tod, Heiligkeit und Sünde, Freiheit und Knechtschaft sind. Aber ach! Leben, Heiligkeit und Freiheit erkennt er als verlorene, verscherzte Güter, Sünde und Tod und Knechtschaft als sein beschieden Teil. „Sie wurden gewahr dass sie nackend waren.“ Arme Kinder, die so gerne wissen wollten, wozu ein Dolch nütze sei, (den auch nur zu berühren der Vater verbot,) und die man lehrte, diesen Dolch in die eigene Brust stoßen. Ja, nun wissen sie's, was ein Dolch vermag, sie weinen, bluten und sterben.
Du aber, Leser, wundere dich nicht, wie der erste Mensch so schmählich Gott misstrauen und der Schlange glauben konnte. Tust du nicht dasselbe, so oft du mit Bewusstsein sündigst? Willst du nicht auch Heil erlangen und Unheil abwehren, dadurch dass du Gott - verachtest?
Nur ein Trost bleibt in diesem Jammer: der Mensch ist verführt und betrogen. Wir wollen hier noch nicht weiter von Schlange und Teufel reden; da ist ja viel Dunkel und Geheimnis. Aber auf den Knien wollen wir Gott danken, wenn wir erfahren, dass der Mensch, da er sündigte, ein Verführter war. Wehe ihm, dass er sich verführen ließ! Aber dennoch, Heil ihm, dass er ein Verführter war. Nicht zu seinem ursprünglichen Wesen gehörte die Sünde, nicht aus seinem Wesen ist sie entsprungen; nicht durchschaute er was er tat, da er sündigte. Er musste erst verblendet und betrogen werden. Mögen Diejenigen, die sich wunders wie aufgeklärt dünken, wenn sie spottend fragen: „Welcher gebildete Mensch glaubt heute noch einen persönlichen Teufel?“ - mögen sie sich klar machen, dass sie uns den hohen Trost nehmen, den Trost, dass wir verführte und deswegen erlösungsfähige Geschöpfe sind. Allmählig erst sinkt Eva in die Sünde hinein, als in ein fremdes Element, als eine die widerstrebt und mit sich selber kämpft, die nur zitternd sündigt, mitten in der Lust schon das Grauen über die Lust im Herzen. Wir fühlen, für solch ein Geschöpf ist Rettung möglich, wenn es sich auch selbst nicht retten kann.
Denn freilich, geschehen ist ja das Schreckliche und durch nichts ist es ungeschehen zu machen. Ach wehe, dass sie stille stand und lauschte — nein! nein! wehe, dass wir stille stehen und lauschen auf die Stimmen, die uns verwirren im Gewissen: „Sollte Gott gesagt haben?“ Unmöglich! du Engherziger, das soll Sünde sein? Natur ist's, Trieb, Notwendigkeit, dein Recht ist's, höchstens eine Schwachheit. Was du für Frömmigkeit und Wahrheit hältst, ist nichts wie grillenhafte Selbstquälerei!
Ach, dass sie geflohen wäre, die erste Menschenmutter, eilenden Fußes und mit dem Wehe auf ihren reinen Lippen. Aber sie fängt an zu verhandeln mit dem Argen, sie disputiert und spekuliert. Wo aber hättest du, der du dieses jetzt liest, je die Sünde besiegt, wo du dich mit ihr in Verhandlungen einließest? Der Versuchung gegenüber, - gleichviel ob sie in Gestalt eines unsittlichen Bildes, eines listigen Menschen, eines schlechten Buches oder wie auch immer, dir entgegentritt, ist nur heiliger Zorn und scharfe, völlige Abkehr am Platze. Alle Zartheiten, Höflichkeiten, Vermittlungen führen zum Unterliegen.
Ach, sie bleibt stehen. Sie antwortet nicht nur dem Verführer, sie leiht seiner schmeichelnden Stimme ihr Ohr und immer süßer klingt diese Stimme, und immer schärfer tönt die Stimme Gottes, immer mehr wandelt sich dem Weibe sein so holdseliges, gnadenreiches Antlitz in das Gesicht eines kalten, neidischen Tyrannen. Und sie schaut die Frucht an, die verbotene, und lieblicher und duftiger und begehrenswerter und begehrenswerter und immer, immer unentbehrlicher wird die Frucht, jeder Blutstropfen kocht und glüht, unmöglich, ganz unmöglich ist die Enthaltung, da ist's geschehen! Und die Engel verhüllen ihr Haupt. Verhülle du es auch. Die Geschichte, die wir eben mit durchlebten, ist deine Geschichte; sie war es mehr als einmal; vielleicht gestern noch.
Ach Gott und Herr,
Wie groß und schwer,
Sind mein begang'ne Sünden!
Da ist Niemand,
Der helfen kann
In dieser Welt zu finden.
Zu dir flieh ich;
Verstoß mich nicht,
Wie ich's wohl hab verdienet;
Ach Gott, zürn' nicht,
Geh nicht ins G'richt;
Dein Sohn hat mich versühnet.
Da wurden ihrer beider Augen aufgetan, und wurden gewahr, dass sie nackend waren; und flochten Feigenblätter zusammen, und machten ihnen Schürzen.
1. Mose 3,7.
Vor und nach der Sünde, welch ein Unterschied in dem Herzen des Menschen. Vorher, ehe du einer Lust fröntest, ehe du deinen Rachedurst stilltest, ehe du das Wort voll bitteren Spottes aussprachst, vorher, wie schien da die Sünde so süß; sie sollte Genuss und innere Ruhe bringen, sollte dich innerlich heben und groß machen. Und nachher? Ach da kommt der Betrug an den Tag. Eine unendliche Unruhe ergreift die Seele, Fieber durchschauert den inwendigen Menschen; er ist betrübt, er möchte ungeschehen machen, was er doch freiwillig tat.
O, ein geheimnisvolles Wesen ist dieser Mensch: zweierlei Ich wohnt in dem Einen. Darum kann er mit sich selber reden, sich selber anklagen oder trösten, sich vor sich selber schämen, an sich selbst verzweifeln oder sich selbst beruhigen, sich selbst vergöttern oder sich selbst verdammen.
So sehen wir auch hier. Ehe noch ein Richter da ist, der außer dem Menschen steht, ist doch schon ein Gericht da. Denn in dem Menschen selbst ist ein Richter. Eben dies macht offenbar, wie verschieden der Mensch von dem Tiere ist, das seinem Naturtrieb folgt und wie verschieden von dem Teufel der ihn verführte, weil Gottesfeindschaft sein Wesen ist. Der Mensch dagegen, der gesündigt hat, verachtet sich selbst, weil er gesündigt hat. Er sucht Feigenblätter, um seine Blöße zu bedecken vor ihm selbst. Ach, eigentlich handelt es sich um die Bekleidung der zitternden Seele; so tief kann er aber mit seinen Feigenblättern nicht kommen. Da begnügt er sich denn mit der Bekleidung des Leibes, - zu einem Zeugnis gegen sich selbst. Er, der so hoch hinaus wollte in der Sünde, er hat den Respekt vor sich selbst verloren nach der Sünde. Er aß von der verbotenen Frucht um „offene Augen“ zu bekommen und nun versteckt er sich vor sich selbst. Er wollte werden „gleich wie Gott“ durch die Sünde, und jetzt, da Gott naht nach der Sünde, - versteckt er sich vor Gott! Kain, der erste Menschensohn, hoffte innere Ruhe zu finden, wenn er seinen Bruder aus dem Wege schaffte, und siehe, nach dem Mord fühlt er sich unstet und flüchtig wie nie vorher.
Und du, lieber Leser? O du findest Beispiele genug in deinem Leben, wenn du suchen willst. Wie lustig malte dir deine Leidenschaft den Genuss, und wie schlaff, wie matt, wie mutlos wurdest du nach dem Genuss. Wie sehntest du dich oft, bittere Worte der Verleumdung aussprechen zu können gegen Menschen, die dir unangenehm waren, und noch war nicht der letzte Hauch über deine Lippen, da hättest du so gerne die giftigen Worte zurückgenommen. Sie sollten brennen, und sie brennen auch, aber am meisten dich selbst. Es ist immer dieselbe Geschichte: die Sünde betrügt, belügt, verwirrt, überlistet das Menschenkind!
Und doch: Heil ihm, wenn er nach der Sünde innerlich geschlagen und von Unruhe gequält ist und nicht mehr hin und her weiß. Heil ihm, wenn ihm dann der Richter naht, der göttliche Richter, vor dem er sich zitternd versteckt und dessen Gericht ihm dennoch ein inneres Bedürfnis ist; dessen Gericht allein ihm die erste Beruhigung, die erste Aussicht auf Rettung und Heilung gibt. Denn der Mensch selbst kann sich wohl verdammen, aber nicht rechtfertigen und sühnen.
So war es denn auch nicht Zorn, sondern Erbarmen, dass Gott den ersten Menschen nahte, um sie zu richten. Der Mensch hätte sich innerlich zerrieben vor Unruhe, er wäre verkommen in sich selbst, er hätte nie wieder ein klares Ziel für sein Wirken und Schaffen ins Auge fassen können, - wenn Gott jetzt geschwiegen und sich von ihm zurückgezogen hätte. Der Mensch der gesündigt hat, er heiße Kain oder Petrus, er sei ein Hindu am Ganges oder ein Evangelist am Ufer der Themse, - er sehnt sich nach dem Richter, vor dem ihm graut. Denn er fühlt es, dass erst nach dem Gericht von Vergebung und Tilgung der Sünde die Rede sein kann.
Wenn aber Einer über die Sünde nicht mehr zittert, weil sie ihm zur andern Natur geworden ist, oder wenn einer Gericht und Gnade so lange verachtet hat, dass er verzweifelt wie Judas, weil er nicht mehr an Gnade glauben kann, diesem Menschen wäre besser, dass sie nie geboren wären!
Je unruhiger du aber bist nach der Sünde, je wahrhaftiger du das Gericht über die Sünde, Sühnung der Sünde, Rettung. von der Sünde ersehnest, desto näher bist du dem Heile Gottes, desto näher ist dir das Heil.
Dies Wort bedenk', o Menschenkind!
Verzweifle nicht in deiner Sünd.
Hier findest du Trost, Heil und Gnad,
Die Gott dir zugesaget hat,
Und zwar mit einem teuren Eid;
O selig, dem die Sünd ist leid!
Da sprach Adam: Das Weib, das Du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum, und ich aß.
1. Mose 3,12.
Wie doch die Sünde jedes Gemeinschafts-Verhältnis auf Erden zerrüttet und verwirrt! Da seht gleich hier in der ersten Sünde! Der Mann sollte des Weibes Herr und Haupt sein und siehe, er unterwirft sich ihrem gottwidrigen Willen, da er sündigt. Das Weib sollte die dienende Gehilfin des Mannes sein, und sie wird - die Verführerin, die ihn ins Todeswesen hineinzieht. Da ist Alles auf den Kopf gestellt! Wie es aber geschehen konnte, dass der Mann sich so leicht und schnell von dem Weibe fortreißen ließ, hat man oft gefragt. Sie gab - nahm - er aß - gerade als ob es nicht anders hätte sein können. Nun freilich hätte es anders sein können, aber es ist in der Regel nicht anders. Eheleute ziehen sich allermeist mit einander fort, sei es zum Guten oder zum Bösen; darum ist auch für das innere Leben kaum eine Wahl und Entscheidung wichtiger, als wenn es sich um eine eheliche Verbindung handelt. Die das Wesen der Ehe kennen, werden zugeben, dass grade da, wo die Ehe den Namen verdient, wo sie auf einer tiefen Neigung und einem starken Willen der Seele beruht, dass grade in solcher Ehe der eine Teil nicht leicht sein Schicksal von dem des andern trennt. Das ist auch etwas Großartiges und Herrliches, wenn beide Eheleute in einem höheren, heiligen Geiste ihren Wandel führen. Es ist aber unheilvoll ohne Gleichen, wo sie in den heiligsten Fragen des Menschenherzens verschiedenen Sinnes sind und nun der bessere Teil sich von dem niedriger gesinnten mit fortreißen lässt, damit nur die Einheit in der Ehe gewahrt bleibe.
Wir behaupten keineswegs, dass zum Glück einer Ehe notwendig sei, dass beide Teile entschiedene Christen seien. Stünde es so, dann würde es noch weniger glückliche Ehen geben, wie es wirklich gibt. Das Weib vornehmlich muss heutzutage nach dieser Seite hin sehr bescheiden in ihren Ansprüchen sein. Wo aber in den höchsten Dingen zwischen den Eheleuten eine unausfüllbare Kluft besteht, - wo z. B. der Mann spottet über das, was seinem Weibe das Heiligste ist - wo der eine Gatte eine Menge von Verhältnissen, Handlungen, Vergnügungen höchst unschuldig findet, die der andere als Sünde verdammt, in solcher Ehe ist ein harmonisches, ersprießliches Zusammenleben unmöglich. Denn entweder wird die Einheit der Liebe durch so schwerwiegende innere Verschiedenheiten gestört werden, - oder aber die innere Einheit wird hergestellt werden auf Kosten der Wahrheit und des inneren Friedens.
Aber auch bei solchen Opfern wie hier, - da Adam Gott ins Angesicht schlägt, um seinem Weibe zu folgen, da Adam das Ewige hingibt um des Zeitlichen, die göttliche Gemeinschaft um der menschlichen willen, - wird die gesuchte Einheit dennoch nicht erlangt. Denn die Sünde trägt überall in sich die Zerrissenheit, weil sie kalt und selbstsüchtig macht. Wie sehr auch das Streben nach Einheit vorhanden ist, - sobald es darauf ankommt, wer die Schuld tragen soll, da sucht sich jeder rein zu brennen auf Kosten des Andern, so in der Ehe, so in jeder Gemeinschaft.
Fühlest du, lieber Leser, nicht den kalten bitteren Ton: „Das Weib - das Du mir zugesellet hast, gab mir und ich aß.“ Wir merken, dass hier der erste eheliche Zwist keimt. Wie so gar anders klingt diese Rede Adams, wie der freudige Gruß, mit dem er sie einst empfing! (Cap. 2, 23. 24.) Kalt wälzt er die Schuld auf das Weib; mag sie zusehen, wie sie sich herausreißt, wenn er selbst nur der Strafe entnommen wird. Ach, dieselbe Sünde, in der die Eheleute einig wurden, dieselbe Sünde hat auch den zarten Liebeshauch von dem Verhältnis der Eheleute weggewischt.
So war's, so ist's; und nichts wie die wahrhaftige Demut, da jeder sich selbst richtet, - und nichts wie der kindliche Glaube, der in Gottes Gnade ankert und sich durch die Hand Gottes erziehen lassen will, wird fortan das volle Glück des ehelichen Lebens sichern. Und nicht nur den Ehestand, sondern jede Gemeinschaft. Die Sünde verzerrt und zerreißt, wohin sie kommt, jedes menschliche Band, das zarteste und das festeste. Der erste Sohn der Menschen mordet bereits seinen Bruder; bald erfüllt Hass, Streit und Blutvergießen die weite Welt; überall tönt die Klage über treulose Liebe und kalte Selbstsucht. Der Anfang allen Streites liegt in dem „das Weib gab mir“! Das Ende aller Zerrissenheit aber ist in dem Friedefürsten, der, obgleich heilig und unschuldig, die Schuld der Unheiligen auf seine Schultern nahm.
O selig Haus, wo man dich aufgenommen,
Du wahrer Seelenfreund, Herr Jesu Christ!
Wo unter allen Gästen die da kommen,
Du der gefeiertste und liebste bist.
Wo aller Herzen dir entgegenschlagen,
Wo aller Augen freundlich auf dich sehn;
Wo aller Lippen dein Gebot erfragen,
Wo alle deines Winks gewärtig stehn.
Da sprach Gott der Herr zum Weibe: Warum hast du das getan? Das Weib sprach: Die Schlange betrog mich also, das ich aß.
1. Mose 3,13.
Dass der Mensch sich nach der Sünde über die Sünde schämte, erkannten wir als ein Zeichen, dass er nicht völlig der Sünde verfallen war. Das Schamroth in Stirn und Wangen war nicht nur das Abendroth der verlorenen Gotteskindschaft, sondern auch die freudenreiche Verheißung eines neuen Tages, da Gottes Gnade ihre unverhüllten Strahlen über das menschliche Geschlecht ausgießen kann. Was aber den Aufgang dieses Tages am meisten hemmt, ist der Trotz des Menschen, der nicht bekennen, der, obgleich er sich schämt, dennoch seine Sünde nicht Wort haben will. Hier setzte gleich im Anfang der Mensch seinem Gott, - dem Gott, der ihm helfen wollte, - Schranken entgegen; Schranken, die unübersteiglich sind, so lange der Mensch sie nicht wegnehmen will.
Die Weisheit und Arbeit Gottes zielen auf dieses Eine, den Menschen zur Erkenntnis seiner selbst, zur Scheidung von seinem bösen Ich und zum Bekenntnis seiner Schuld zu führen. Daher fragt Er den Mann und das Weib: Wo seid ihr? Warum tatet ihr, was ihr tatet? - Sie sollen sich klar werden über die Mächte, wodurch sie sich leiten ließen, über die Triebe, die sie bewegten, über die Gründe ihres Unterliegens, über den Zustand, in den sie gerieten. Nicht die Schlange fragt er: „Warum tatest du das?“ Denn in dem Satan ist nur ein Trieb. Nur diesem einen kann er folgen, denn er will nur diesen einen. Den Menschen aber fragt Gott: Warum? Er soll sein Thun und Lassen, den Weg von seinem verlorenen Glück in das gegenwärtige Unglück durchsinnen und ausforschen, er soll die Sünde erkennen als sein größtes Herzeleid, es soll ihm darüber grauen; er soll sie bekennen, sich von ihr scheiden und den Retter aus der Sünde suchen lernen. Das ungeschminkte Bekenntnis der Schuld ist das erste Zeichen, dass der Mensch wieder auf dem Wege ist, innerlich frei zu werden. Darum zielt hierauf alle Arbeit Gottes. mit den ersten Menschen, mit Kain, ihrem ersten Sohne, mit allen ihren Söhnen und Töchtern, mit dir, mit mir.
Aber ach, von Haus aus ist der Mensch keiner Sache mehr abgeneigt, als dem demütigen Bekenntnis: „Ich, ich war's, ich tat's, ich - ganz allein ich!“ Verhältnisse, Umstände, Wissenschaft, Dummheit, schlechte Menschen, Naturtriebe, Teufel, Verblendung, Temperament, - Alles muss herhalten, nur damit das liebe Ich frei bleibt. - Nichts ist abgeschmackter als die Art, wie sich die ersten Menschen entlasten wollen, und doch gab es nie auf Erden ein wahreres Bild der menschlichen Natur. Adam sagt: „Er habe sich versteckt, weil er Gottes Stimme gehört.“ (V. 10.) Aber diese Stimme war doch vorher der Klang gewesen, der ihn heranlockte, wie nichts anderes. Was hat denn die Veränderung bewirkt? Oh, darüber zu reden war nicht bequem! - Weiter: Weil er die Tatsache, dass er aß, nicht leugnen kann, so schiebt er die Schuld auf Eva, ja auf Gott selbst. „Du gabst mir das Weib, - das Weib gab mir die Frucht, - und ich —?“ „Ich,“ (so hätte er sagen sollen,) „ich hätte sie wegwerfen und unter meinen Füßen zertreten müssen. O wehe mir, dass ich aß! ich, der Mann, der Herr, das Haupt, - ja, ich bin der Sünder; erbarme dich meiner, o Vater!“ Aber nein, so meint er's nicht; er hat von der Schlange so viel Klugheit gelernt, dass er sich zu entschuldigen weiß. Seine Augen sind ja nun aufgetan. „Und ich aß!“ sagt er kalt; „ganz natürlich, wie konnte ich anders bei so bewandten Dingen?“ hören wir nachklingen. Und das Weib? Ja, sie hat's dem Manne schnell abgelauscht, wie man sich rein brennt, und schnell hat sie's begriffen, wie die Schlange Wahrheit und Lüge zu mischen: „Die Schlange betrog mich, also dass ich aß;“ das heißt: Es ging so, wie es gehen musste. Wahrlich, die hochgepriesene moderne Wissenschaft sollte sich schämen, eine so veraltete Weisheit aufzuwärmen, wenn sie immerfort beweiset, dass die Sünde ein Naturprozess sei und nach unwiderstehlichen Naturgesetzen erfolge. Den Satz hat ja bereits die erste Sünderin verfochten. - Was geht uns der Verführer an, wenn wir widerstehen konnten? Was gehen uns unsere Mitschuldigen an, wenn wir doch freiwillig tätig waren? Aber man mag nun vor dem Schwurgericht die Reden der Giftmischer und Kindesmörderinnen oder man mag auf der Kinderstube die Entschuldigungen der „unschuldigen Kleinen“, die miteinander einen Kuchenteller geplündert haben, hören, es ist überall das trotzige und verzagte Verstecken vor sich selbst, vor den Menschen, vor Gott. Die Nachfrage nach Feigenblättern ist entsetzlich groß. Und doch kann Gottes Angesicht nur hell über dir leuchten, wenn von dir gilt: „Da schlug er in sich.“
Du find'st in dir die Ruhe nicht,
Den milden Hauch aus Gottes Gnaden,
So lang von deiner Schuld Gewicht
Du willst ein Teil auf Andre laden.
Nicht wenn du das, was dich gelenkt,
Von dem, was du getan hast, trennest;
Dir ist die Schuld nur ganz geschenkt,
Wenn du zur ganzen dich bekennest.
Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe, und zwischen deinem Samen und ihrem Samen. Derselbe soll dir den Kopf zertreten; und du wirst ihn in die Ferse stechen.
1. Mose, 3,15.
Auf einem uralten Gemälde ist abgebildet, wie unsre Ureltern, mit unendlicher Traurigkeit im Angesicht, das Paradies verlassen. Hinter ihnen liegt die Herrlichkeit, vor ihnen der Acker voll Dorn und Distel. Der Himmel ist finster, von zerrissenen, sturmbewegten, unheimlichen Wolken bedeckt; aber in der fernsten Ferne strahlet mild und heilverkündend aus der Wolkennacht ein kleines Kreuz. Der das Bild gemalt hat, ist ein sinnreicher und tiefsinniger Christ gewesen. Er hat den Fluch über die Schlange, der zugleich das erste Evangelium für die gefallenen verführten Menschen war, fein gedeutet durch das kleine strahlende Kreuz. Wohl lag dies erste Evangelium wie eine geheimnisvolle hieroglyphische Sphinx vor der Pforte des zerbrochenen Gottestempels. Aber wie geheimnisvoll es auch war, so viel leuchtete doch klar daraus hervor, dass eine Zeit kommen werde, wo die Menschheit das Reich des Satans, von dem sie eben jetzt überwunden war, ihrerseits vernichten werde. Und in dieser Hoffnung allein konnte der gefallene Mensch Trost finden. Denn was er verloren hatte war ja nicht sowohl das äußere, wie das innere Paradies, der Frieden und die Beseligung des Herzens in der Gemeinschaft mit seinem Gott. Diese Gemeinschaft aber konnte nur hergestellt werden dadurch, dass die Sünde, die ihn von Gott trennte, gesühnt und getilgt wurde. Wie aber der Mensch durch eine freie Tat die Sünde in sein Wesen aufgenommen hatte, so konnte sie auch nur durch den Menschen in freiwilliger und freitätiger Weise ausgeschieden werden. Gott sagt nun: Eben dies werde geschehen! der Weibessamen werde, obgleich unter tiefen, eignen Schmerzen, der Schlange gegenüber in Feindschaft und Kampf verharren, ja endlich der Schlange den Kopf zertreten. War dies durch den Menschen geschehen, so war der ursprüngliche Fall, - da der Mensch der Stimme des Satans folgte, - gesühnt und Nichts stand dann im Wege, dass die alte selige Lebens- und Herrlichkeitsgemeinschaft zwischen Gottheit und Menschheit wieder eintrat. Das Menschengeschlecht war wieder hergestellt.
Wir sehen: Gott ist treu. Ohne Wanken hält er seine Absicht, dass die Menschen seine Kinder und Genossen seiner Herrlichkeit werden sollen, fest. Was Satan dem Menschen verhieß, was der Mensch durch die Sünde erlangen wollte, das hatte auch Gott dem Menschen bestimmt, das hat Er ihm auch jetzt noch bestimmt. Aber ein anderer, ein finsterer Weg muss nun zu dem lichten Ziele führen. Durch unendliche Schmerzen des Leibes und der Seele, durch schwere Arbeit im Schweiß des Angesichtes, durch bittere Enttäuschungen tausendfacher Art, durch Kampf und Ringen ohne Ende, durch Entsagen, Verleugnen, Verzichten auf Schritt und Tritt, durch eine Welt voll Blut und Tränen, durch Jahrtausende voll Tod und Modergeruch hindurch, geht nun der Weg. Aber das Ziel bleibt das alte; denn Gott ist treu, ob der Mensch auch untreu ist.
Aber konnte denn jemals das Menschengeschlecht durch seine Leiden die Sünde sühnen? Konnte es jemals durch seinen Kampf die Sünde und die Macht des Argen besiegen? Ach, wir können wohl die bösen Geister heraufbeschwören, aber bannen können wir sie nicht. Nur zu bald wurde es offenbar, dass auch die Kinder einer Menschenmutter Sünder waren gleich den Eltern; ja, dass sich das Böse im Menschengeschlecht lawinenartig entfaltete. Auch die Edelsten, Besten, Heiligsten mussten „Wehe“ rufen über sich selbst, mussten flehen: „Herr gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht, denn vor dir ist kein Lebendiger gerecht!“
Was war da von der Menschheit zu hoffen? Und doch hatte Gott verheißen, dass der Weibessame der Schlange den Kopf zertreten solle. Das Sinnen aller Heiligen und Gläubigen im ganzen alten Bunde zielte auf diesen Punkt. Könige und Propheten wollten schauen, ja die Engel gelüstete zu erkennen, was uns jetzt offenbar ist; mit vorgebeugtem Haupte forschten sie in den göttlichen Gnadengeheimnissen, und sie verstanden nicht, was uns in Jesu Christo hell und klar ist. Wir finden jetzt leicht, dass die erste, im Paradies gegebene Verheißung nur durch das Kreuz Christi verstanden werden kann, ja, dass sie notwendig dahin führen musste. Dass der Schlangenzertreter nicht ein gewöhnlicher Mensch, nicht ein Sünder sein, dass ein Bruder den Andern nicht erlösen, noch Gott jemand versöhnen könne, dass dieser Sündentilger ein heiliger und vollkommener Mensch sein musste, - sehen wir leicht ein. Weiter: Wie sollte aber mitten aus den Unreinen heraus ein Reiner kommen, wie anders als durch ein Wunder Gottes, durch eine neue Schöpfung, durch eine geheimnisvolle Verbindung göttlicher und menschlicher Natur? Ja, uns ist es jetzt klar, dass in dem Gott-Menschen, der auf Golgatha blutete, die erste Verheißung und jede Verheißung erfüllt ist, und dass dieser Gott-Mensch, Versöhner und Erlöser und dennoch selbst wieder ein Geheimnis ist, ist uns fast selbstverständlich. Ach, ach! allzu selbstverständlich ist uns dies Alles gar zu oft! Gleichgültig und kühl wandeln wir im vollen Sonnenschein der göttlichen Gnade, während schon ein ferner Strahl dieser Sonne die Adventsleute des Altertums entzückte. Wir wähnen das Heil zu besitzen weil wir es kennen, und spielen mit dem Licht statt des Lichtes Kinder zu werden. Wir freuen uns, dass der Schlange der Kopf zertreten ist und vergessen, dass sie in uns nach wie vor so lange Gewalt hat bis Christus Jesus wirklich in uns und über uns herrscht. O, dass wir in dieser Adventszeit uns aufraffen, den Helm des Heiles und den Schild des Glaubens ergreifen und aus der Tiefe rufen wollten:
Tritt der Schlangen Kopf entzwei,
Dass ich, aller Ängsten frei,
Dir im Glauben um und an
Ewig bleibe zugetan.