Wir stehen im Anbruch der Passionszeit, an deren Schwelle es vor acht Tagen im Evangelium hieß: „Siehe, wir gehen hinauf gen Jerusalem“, und in deren Verlauf der Ruf aus dem Munde des leidenden Heilandes an uns ergeht: „Komm und folge mir nach!“ Wir sind alle aufgefordert zu stiller Betrachtung der heiligen Passion und zur Nachfolge in den Fußtapfen des Lammes Gottes.
Es wollen nicht Alle mitgehen gen Jerusalem; das Leben erscheint ihnen wie ein lustiger Karneval und eine fröhliche Fastnacht vor dem Aschermittwoch des Todes oder wie ein großer Maskenball, worin sie sich anders geben, als sie sind, und die Sprache dazu missbrauchen, ihre Gedanken zu verbergen. Aber das Leben ist doch zu ernst und das Sterben zu gewiss und die Ewigkeit zu lang, als dass wir zum bloßen Vergnügen auf der Welt wären. Nein, wir haben es alle nötig, die Leidenswege unseres Meisters zu studieren, und uns in dieser genusssüchtigen Zeit immer daran zu erinnern: eines Jüngers Weg geht nur durch Leiden zur Herrlichkeit. Doch ist dies nur die eine Seite der Sache; die andere und Hauptsache ist die, dass wir aufgefordert werden, uns in die Passion zu versenken, in die tiefsten Tiefen der Liebe Gottes, und anbetend einzukehren in das Allerheiligste der Weltgeschichte.
Es gibt eine alte deutsche Sage, die wir alle von Jugend auf kennen und welche in sinniger Weise von Christi Passion und dem Geheimnis unserer Erlösung redet. Es ist die Sage vom Dornröschen. Von einer Königstochter war bei ihrer Geburt geweissagt worden, dass sie durch den Stich einer Spindel sterben würde, weshalb alle Spindeln aus dem Schlosse entfernt wurden. Aber als die Prinzessin heranblühte, stieg sie eines Tages die Treppe eines alten Turmes hinauf und fand eine alte Frau, welche an einer Spindel den Faden spann. Neugierig und des Verbots vergessend nahm die Königstochter die Spindel in die Hand, verlegte sich und fiel in Schlaf, und mit ihr das ganze Schloss mit all seinen Bewohnern. Jahrhunderte lag es da wie eine Ruine, im Innern regungslos, auswendig rings von Dorngestrüpp umzogen. Da begab es sich, dass ein Königssohn aus weiter, weiter Ferne kam, voll edlen, ritterlichen Sinnes, und rang sich durch die Dornen hindurch mit seinem guten Schwert, und seine Kleider zerrissen, und sein Blut floss von den spitzen Zacken, bis er endlich die schlafende Prinzessin fand. Er drückte ihr einen Kuss auf die Lippen, und sie erwachte zu neuem Leben, und mit ihr alle Bewohner des Schlosses. Der Königssohn aber führte sie heim als seine gerettete Braut.
Soweit die Sage und nun die Auslegung: die Königstochter ist die menschliche Seele, nach Gottes Ebenbild geschaffen, mit Gaben schön geziert und zu königlicher Herrschaft über die Kreatur berufen, aber durch die Übertretung des Gebots ist sie dem Todesschlafe verfallen und mit ihr die ganze Welt auf dem Acker voll Dornen und Disteln. Als die Zeit erfüllt war, kam Christus, der Sohn Gottes, der König des Himmelreichs, und rang sich durch die Dornen der Passion und des Todes hindurch, um die Seelen der Menschen zu erlösen und zu gewinnen. Und wer nun das Evangelium von Christi Leiden und Sterben für uns hört und glaubt, dem ist's wie ein Kuss von den Lippen der göttlichen Liebe, wenn er die Stimme seines dorngekrönten Retters vernimmt: „Ich habe dich je und je geliebt und dich zu mir gezogen aus lauter Güte.“ Wer diese Liebe Christi, des Gekreuzigten, an seinem Herzen erfahren, der erwacht zu neuem Leben, und in ihm regen und bewegen sich alle Kräfte in seliger Freude. Er hat seinen König, seinen Retter, den ewigen Bräutigam gefunden und bekennt: „Ich bin dein, du bist mein, Niemand soll uns scheiden.“
Siehe, diese Wirkung soll die Betrachtung der Passion für uns haben, dass wir den Überschwang göttlicher Liebe darin erkennen, dass unser Herz in heiliger Gegenliebe zu Christo entzündet werde, dass es lebendig werde im ganzen Schlosse mit der Losung: „Ich und mein Haus wir wollen dem Herrn dienen.“ Gott segne uns allen diese Passionszeit zu solch seliger Erfahrung. Dazu lasst uns denn heute betrachten, was geschrieben steht:
Joh. 12, 1-8.
Sechs Tage vor den Ostern kam Jesus gen Bethanien, da Lazarus war, der Verstorbene, welchen Jesus auferweckt hatte von den Toten. Daselbst machten sie ihm ein Abendmahl, und Martha diente, Lazarus aber war deren einer, die mit ihm zu Tische saßen. Da nahm Maria ein Pfund Salbe von ungefälschter köstlicher Narde, und salbte die Füße Jesu, und trocknete mit ihrem Haar seine Füße; das Haus aber ward voll vom Geruch der Salbe. Da sprach seiner Jünger einer, Judas, Simonis Sohn, Ischariotes, der ihn hernach verriet: „Warum ist diese Salbe nicht verkauft um dreihundert Groschen, und den Armen gegeben?“ Das sagte er aber nicht, dass er nach den Armen fragte, sondern er war ein Dieb, und hatte den Beutel, und trug, was gegeben ward. Da sprach Jesus: „Lasst sie mit Frieden, Solches hat sie behalten zum Tage meines Begräbnisses. Denn Arme habt ihr allezeit bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit.“
Es ist ein euch allen wohlbekannter Text, diese Salbung Marias in Bethanien, und doch, wie alle Texte, für Christen immer wieder neu. Sind wir doch keine Athenienser, welche begierig waren, allezeit etwas Neues zu sagen oder zu hören, und ist doch ein rechter Schriftgelehrter und Prediger der, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorbringt; das Alte immer frisch und neu, das Neue immer als das Alte, das Ewige. Unser Text hat aber noch einen besonderen Empfehlungsbrief vom Herrn selbst. Denn der Herr hat ihn selbst zu einer großen stehenden Perikope für alle Zeiten gemacht durch die Worte: „Wahrlich, ich sage euch: Wo dies Evangelium gepredigt wird in aller Welt, da wird man auch sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.“ Wahrlich, der Herr selbst hat die Salbung Marias gemacht zu einem Text für die ganze Welt.
So lasst uns denn sehen:
Maria von Bethanien am Eingang der Passion:
und zwar
Du aber, o Herr, lass unsere Seelen stille werden vor Dir, mache Du unsere Herzen zu einem stillen Bethanien, da Du einkehrst und wir zu Deinen Füßen sitzen; da Du uns das Brot brichst, und wir unsere Narde opfern. Lass dies Haus voll werden von dem Dufte Deines Namens und lass uns hinabgehen in unser Haus, Dir daselbst die Füße zu waschen in dienender Liebe unter einander. Amen.
Maria von Bethanien, die innige, sinnige Jüngerin ist es, deren Bild uns an der Pforte der Passion so leuchtend entgegentritt. Der Herr ist zum letzten Mal in Bethanien eingekehrt, und sein Reden wie sein ganzes Tun deutet auf Abschied. Marias Auge hat auf dem ernsten Antlitz des Meisters geruht, ihr Ohr an seinen holdseligen Lippen gehangen, aber dann ist sie aufgestanden und hinausgegangen, das Herz ist ihr zu voll geworden, sie sucht und sucht wie sie ihm antworten könnte, aber jedes Wort dünkt ihr zu arm, jedes Zeichen zu gering, sie sucht eine Tat, aber eine Tat, welche sprechen könnte, die ihr Herz auszusprechen vermöchte, eine Tat, welche die Glut ihrer Hingebung in edelster Weise zu dolmetschen verstände, sie sucht; aber nichts ist ihr genug, nichts ist ihr kostbar genug für Ihn. Maria wollte opfern, Maria wollte verschwenden, sie wollte im Opfer sich selbst hingeben. Da findet sie ein Glas mit köstlicher Narde, vielleicht ihr kostbarstes Besitztum. Freudig greift sie zu, sie tritt herein und zerbricht das Glas und salbt seine Füße und trocknet sie mit ihrem Haar. Blick auf Maria von Bethanien und du siehst eine Priesterin, in der Hand das Opfer der Narde, im Herzen die Opferflammen der Liebe, auf dem Haupte das Diadem der trocknenden Locken, kniend zu den Füßen des einzig Herrlichen zu Bethanien in Lazari Hause, das zu einem Tempel geworden, duftend vom süßen Geruch des Opfers. Und der Herr erkennt das Opfer an, wenn er spricht: Sie hat ein gutes Werk an mir getan.“ Denn das ist der Adel ihres Werkes, dass Christi Bild dadurch verherrlicht wird, dass es in Liebe zu ihm getan ist.
Aber wo lernt man solch Opfern und Hingeben? und Hingeben? Da, wo es Maria gelernt. Sie hat einst so still zu den Füßen Jesu gesessen und gelauscht auf das Eine, was not ist; sie ließ sich durch Marthas tadelnde Rede nicht hinwegdrängen von dem schönsten Platz, den sie auf Erden kannte, und hatte ihr gutes Marienteil in anbetender Ruhe vor ihrem Herrn erwählt, das nicht sollte von ihr genommen werden. Aus dem sinnenden Hören aufs Wort ist sie zum Glauben an den einzig Einen gekommen, und aus dem Glauben ist diese Liebe entsprossen, die nun ihr ganzes Wesen erfüllt und verklärt hat.
Meine Lieben, das ist auch für uns der Weg, auf welchem wir zu solcher Liebe kommen. Hier im Gotteshaus ist Bethanien, wo Jesus einkehrt, wo wir dürfen zu seinen Füßen sitzen, stille werden und seine Stimme vernehmen. Sag an, hast du Ihn auch mit dir reden hören in seinem Gesetz, dass Er dich überführte von deiner Armut und Blöße, deiner Sünde und Schuld? Bist du vor Ihm schamrot worden, und hast an deine Brust geschlagen mit dem Zöllnerruf: „Gott sei mir Sünder gnädig“? Oder ist dir dies peinlich und unangenehm, wenn du in deinem Gewissen von Ihm gestraft wirst? Ach siehe, Er kann dein Heiland nicht sein, wenn du nicht der Kranke bist, kann dein Erlöser nicht heißen, wenn du nicht der Sünder sein willst, und deine Seele wird nicht Priesterin werden, wie Maria, sie habe denn an Ihm den Hohenpriester gefunden, und du lernst nicht Ihm Alles opfern, wie Maria, du habest denn zuvor erkannt und geglaubt, dass Er Alles für dich geopfert hat.
Willst du das aber lernen, so komm herein in die heilige Passion und lass dir die Augen öffnen für das Geheimnis des Leidens und Sterbens Christi in dem Worte: für euch, für dich. In Gethsemane, auf Gabbatha und Golgatha, da ist noch mehr zu schauen und zu hören, als in Bethanien, und nichts predigt gewaltiger von unserer Sünde und von Christi Liebe als gerade die Passion. Davon predigt der Prophet: „Fürwahr, Er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen;“ davon zeugt Johannes der Täufer: Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt,“ davon verkündigt der Apostel: „An Christo haben wir die Erlösung durch sein Blut, nämlich die Vergebung der Sünden;“ „Christus ist Ein Mal eingegangen in das Heilige und hat eine ewige Erlösung erfunden;“ davon singen die Passionslieder:
Nun Herr, was du erduldet,
Ist Alles meine Last,
Ich hab es selbst verschuldet,
Was du getragen hast.
Schau her, hier steh ich Armer,
Der Zorn verdienet hat;
Gib mir, o mein Erbarmer,
Den Anblick deiner Gnad!
Ich, ich und meine Sünden,
Die sich wie Körnlein finden
Des Sandes an dem Meer,
Die haben dir erreget
Das Elend, das dich schläget,
Und das betrübte Marterheer.
Wer das auf Golgatha lernt und sagen kann zu den Füßen des Kreuzesstammes:
Ach, wie ist mir doch so wohl,
Wenn ich knien und liegen soll
An dem Kreuze, da du stirbest
Und um meine Seele wirbest,
der betet an die Macht der Liebe, die sich in Jesu offenbart, und tut nach dem alten Liede:
Merk, Seele, dir das große Wort,
Wenn Jesus winkt, so geh,
Wenn Er dich ruft, so eile fort,
Wenn Jesus hält, so steh.
Ist Jesus in der Seele still,
So nimm auch du nichts vor,
Wenn er dich aber brauchen will,
So steig in Kraft empor;
der weiß mit Salomo: „Alles hat seine Zeit“, Anbeten hat seine Zeit, Opfern hat seine Zeit. Siehe, dieselbe Maria, die so still gesessen und sich darüber von Martha konnte schelten lassen, sie hat, als die Zeit da war, mehr getan, mehr geopfert als Martha mit allem geschäftigen Aufwarten. Meine Lieben, wir sind doch alle von Natur geborene Egoisten, wie soll diese Selbstsucht in uns gebrochen, überwunden, geheilt werden, wie soll es zu wahrer Liebe in uns kommen, als wenn wir überwältigt werden von der Liebe Gottes und Christi zu uns und sagen lernen: „Lasst uns Ihn lieben; denn Er hat uns zuerst geliebt.“ Ja, wenn wir hingerissen werden von der Liebe sonder Gleichen, die den Himmel zerrissen und zu uns herniedergestiegen ist in die Krippe und ans Kreuz, dann lernen wir sagen mit den Emmaus-Jüngern: „Brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete und uns die Schrift öffnete?“ oder mit Paulus: „Die Liebe Christi dringt uns also; in dem allen überwinden wir weit um deswillen, der uns geliebt hat,“ da lernt man opfern und sich hingeben. Nur wenn unsere Seele immer wieder zurückkehrt auf den Marienplatz zu Jesu Füßen in Bethanien, immer wieder niederkniet auf Golgatha zu den Füßen. des Kreuzes, nur dann wird die Seele eine Priesterin der Liebe, und ihre Werke werden Opfer der Liebe.
Aber wohin mit der Narde? Wo sind die Füße meines Herrn, dass ich sie salben kann? Der Herr gibt selber die Antwort auf die Frage in unserm Text: „Arme habt ihr allezeit, aber mich habt ihr nicht allezeit.“ Und an einem andern Ort spricht der Herr: „Was ihr getan habt Einem unter diesen meinen Brüdern, das habt ihr mir getan,“ und Johannes wiederholt denselben Gedanken, wenn er sagt: „Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht?“
Meine Lieben, hat es vorhin geheißen: dem Herrn zum Opfer, so heißt es nun: den Brüdern zum Dienst. Christum haben wir nicht mehr in leiblicher Gestalt, wie Maria ihn damals hatte, aber Arme haben wir allezeit, Solche, die unserer Liebe bedürfen. O, sieh dich nur um auf dem Platz, auf welchen dich Gott in dieser Welt gestellt hat - kennst du sie nicht, die vielen Hände, die dich um Liebe bitten? Bleib einmal in der Nähe: da ist dein Mann, deine Frau, da ist Braut oder Bräutigam, da ist Vater und Mutter, da ist Bruder und Schwester, da sind alleinstehende Verwandte, Einsamgebliebene und Einsamgewordene, da ist die Herrschaft und die Dienstboten, da sind die Untergebenen und sie alle strecken die Hände aus und bitten um Liebe. Freilich sollst du nicht stehen bleiben bei dem engen Kreis, es warten auf dich auch noch andere Arme: Notleidende und Kranke, Angefochtene und Betrübte und sie alle gehören zu den staubbedeckten Füßen Jesu, dahin unsere Salbe gehört. Eine Christengemeinde, wo sie rechter Art ist, sollte sein ein Bethanien, zu deutsch ein Haus der Not, darin es an Lazarusleuten nicht fehlt, die aus geistlichem Tod zu geistlichem Leben gekommen sind, darin Marthahände in Treue dienen und Marienseelen in Liebe opfern, und worin der Herr immer wieder einkehrt, auch in Gestalt jener Armen und Kranken. Die Liebe ist erfinderisch und findet viele Weisen, dem Herrn zu opfern. Unsere Väter haben einst ihre herrlichen Dome gebaut, wo Kreuz und Rose als Sinnbild von Christus und der Kirche, von Christus und der Seele, den ganzen Bau durchdrang, im Grundriss und Aufriss, vom Portal bis hoch hinauf zum Turmesknauf. Geschlecht um Geschlecht hat seine beste Kraft daran gesetzt, und hin und her im ganzen Land zeugen die Meisterwerke von dem Opfersinn, der einst unser Volk beseelte, Christo zu dienen. Es hat platte Menschen gegeben, welche sprachen: „Was soll dieser Unrat? Dieses Geld hätte mögen den Armen gegeben werden“ aber bis heute sind jene Dome gewaltige Predigten von dem Gekreuzigten und Auferstandenen und Zeugnisse des himmelan sich schwingenden Glaubens; sie sind auch an ihrem Teil köstliche Narde zu Christi Füßen geopfert. Und unsere Väter haben ihre innigen Kirchenlieder gedichtet und gesungen, und für Orgel und Saitenspiel und Chorgesang lebte in ihnen das Wort: „Alles, was Odem hat, lobe den Herrn.“ Sie taten es, weil sie es nicht lassen konnten, den Mund übergehen zu lassen, wes ihr Herz voll war, weil sie mit Lied und Ton den ehren wollten, der für sie in den Tod gegangen und sie erlöst mit seinem Blut. Unser Gesangbuch mit seinen Liedern und Chorälen, mit seinem vielhundertstimmigen Lobpreis des dreieinigen Gottes, ist auch eine ausgeschüttete Salbe, von deren köstlichem Duft das Haus Gottes voll geworden ist. In unsern Tagen erhebt sich das Werk der Heidenmission wie ein großartiger Dom über die fünf Weltteile und sammelt lebendige Steine zum Bau des Hauses Gottes aus allen Völkern. Die kleinen Leute, welche vor nunmehr hundert Jahren das Werk anhoben in brennender Liebe zu Christo und zu den Seelen der Brüder, sie ahnten nicht, zu welchem Riesenwerk der kleine Anfang wachsen würde, aber sie opferten in Einfalt und im Drang ihres Herzens. Es hat auch da nicht an Leuten gefehlt, welche sprachen: „Was soll dieser Unrat? Dieses Geld hätte mögen den Armen im Lande gegeben werden, statt es unter die fernen Heiden zu verwenden. und zu verschwenden.“ Aber der Herr sagt auch von der Heidenmission: Sie hat ein gutes Werk an mir getan und hat mein Evangelium hinausgetragen in alle Lande. So ist auch die Heidenmission wie ein Dom, darin es duftet von der ausgeschütteten Salbe des Namens Jesu und wo auch vom Fundament bis zum Turm Kreuz und Rose sich durchdringen: das Kreuz in der Predigt von Christi Passion und Auferstehung, die Rose in der opfernden Liebe der Seinen zu seinem Dienst und in der Fußwaschung an denen, die im Schatten des Todes sitzen. Auch die innere Mission, welche den Gruß des Evangeliums und die Handreichung der Liebe denen bringt, welche der Dienst der Kirche nicht erreicht, sie hat ihr Bild und Vorbild an Maria von Bethanien, die nicht predigt und lehrt und doch unter unserm Volk durch ihre Tat der Liebe von Christo zeugt. Von der Narde, auf die Füße des Leibes Christi gegossen, von dem süßen Geruch dienender Liebe soll das ganze Haus der innern Mission duften, die Diakonissenhäuser und die Herbergen zur Heimat, die Vereinshäuser und die Rettungsanstalten - von ihnen allen soll es heißen: „Das Haus ward voll vom Geruch der köstlichen Salbe.“ Meine Lieben, diesen Blick müssen wir lernen, in den notleidenden Brüdern die staubbedeckten Füße unsers Herrn Christus zu sehen, mit welchen er unter uns wandelt, jene Hochachtung, in welcher Johannes der Täufer sich zu den Füßen seines Herrn herabbeugt und sich nicht wert achtet, ihm die Schuhriemen aufzulösen, jenen göttlichen Blick, wie ihn der Herr lehrt: „Ich bin krank gewesen und ihr seid zu mir gekommen, ich bin ein Gast gewesen und ihr habt mich beherberget.“ Ich hörte einmal erzählen von einem Christen, der zu einem zum Tode kranken Menschen kam und hörte, dass er sterben müsse an der Wunde, da der Eiter nicht entfernt werden könnte, ohne den Kranken zu verlegen. Da beugte sich jener Christ über den Kranken und leckte mit seiner Zunge die Wunde rein. Als man ihn frug, wie er es habe über sich gewinnen können, zu tun, wogegen doch die ganze menschliche Natur sich sträubt, erwiderte er: „Dort liegt mein kranker Herr Christus, dem habe ich's getan, weil er Alles für mich getan.“ Siehe, das ist der göttliche Blick auf den leidenden Nächsten, der Einen die Fußwaschung lehrt.
Meine Lieben, Lasst uns von Maria lernen die heilige Fußwaschung des Dienens unter einander in der Liebe, die aus Christo quillt.
Aber noch ist ein Zug aus unserm Text zurück und vielleicht der tiefste von allen. Denn Maria ist nicht nur Priesterin mit ihrem Opfer, nicht nur Dienerin mit ihrer Fußwaschung, sie ist auch Prophetin und ihre Tat eine gewaltige Predigt für alle Jahrhunderte.
Maria weiß nicht, was sie tut, als sie das Nardenglas zerbricht, sie weiß nur in heiliger Einfalt, dass sie lieben, dass sie opfern will, ihr Herz und ihr Alles ihrem Herrn. Wir sahen vorhin: sie suchte eine Tat, aber eine Tat, die sprechen könnte. Und wahrlich, diese Tat hat gesprochen. Der Herr hat sie ausgelegt, hat ihr Stimme und Wort verliehen, indem er zu Judas, der den Beutel trug und ein Dieb war, sprach: „Lasst sie mit Frieden; Solches hat sie behalten zum Tage meines Begräbnisses.“ Meine Lieben, die Liebe ist immer genialer als die kühle, berechnende Überlegung. Der reflektierende Judas murrt: „Was soll dieser Unrat?“ Aber der Herr weist in der genialen Tat der Liebe die Weissagung seines Begräbnisses auf. Die Liebe in ihrer heiligen Einfalt ist durch die Salbung zur Prophetin geworden, ja mehr: zu einem Text für die ganze Welt. Meine Lieben, wahre Liebe ist immer Prophetin und ist immer Text, auch wo sie keine Worte macht. Vaterliebe, Mutterliebe, bräutliche und eheliche Liebe, Bruderliebe, Samariterliebe, sind sie nicht allzumal vorbildliche Propheten der göttlichen Liebe und Texte, davon die ganze Schrift voll ist? Wahre Liebe trägt ja darin das Abbild göttlicher Liebe, dass auch von ihr gilt: „Was ich tue, das weißt du jetzt nicht, du wirst es aber hernach erfahren.“ Jede wahre Liebestat, aus ursprünglichem Drang geboren und in selbstloser Hingebung vollzogen, hat einen tieferen Sinn und eine reichere Bedeutung, als der Täter selbst sich bewusst ist und als der Augenblick erkennen lässt. Denn jede wahre Liebestat ist ein Abbild der Liebe Christi und ein Vorbild für die Liebe der Andern.
Wir aber, meine Lieben, wollen unsere Herzen entzünden lassen von der Liebe zu Dem, der uns zuvor geliebt, wollen uns schämen, wo diese Liebe matt und schwach geworden, wollen sie anfachen lassen durch die Versenkung in die Passion Dessen, der gekommen ist, ein Feuer anzuzünden auf Erden. Er mache unsere Herzen zu brennenden Feuern, unsere Häuser zu wärmenden Herden, unsere Gemeinden zu flammenden goldenen Leuchtern. Er mache uns zu Priestern, deren Opfer in heiliger Liebe aufflammt, zu seinen Dienern, deren Fußwaschung Ihn nachahmt, und zu Propheten, deren Tun und Wandel von Ihm, dem Hochgelobten, zeugt. Amen.