Inhaltsverzeichnis

Frommel, Max - Am Sonntage Estomihi.

1. Korinther 13.

Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich weissagen könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, also dass ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib brennen und hätte der Liebe nicht, so wäre mir es nichts nütze. Die Liebe ist langmütig und freundlich; die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht; sie stellt sich nicht ungebärdig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie trachtet nicht nach Schaden. Sie freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freuet sich aber der Wahrheit. Sie verträgt Alles, sie glaubt Alles, sie hofft Alles, sie duldet Alles. Die Liebe hört nimmer auf, so doch die Weissagungen aufhören werden und die Sprachen aufhören werden und das Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind und hatte kindische Anschläge da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindisch war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich es stückweise, dann aber werde ich es erkennen, gleichwie ich erkannt bin. Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei aber die Liebe ist die größte unter ihnen.

Man hat Paulus den Apostel des Glaubens genannt, Johannes den Apostel der Liebe, Petrus den Apostel der Hoffnung. Ich meine mit Unrecht, sofern das auseinandergerissen wird, was Gott untrennbar zusammengefügt hat. Was wäre ein Glaube ohne Liebe oder eine Liebe, die nicht aus dem Glauben stammte, oder vollends eine Hoffnung, die nicht auf Glauben und Liebe sich gründete? Dazu kommt, dass Petrus in den Evangelien geradezu als der Chorführer des Glaubens und in seinen Briefen als der von Bruderliebe brennende Mitälteste auftritt, Johannes aber sowohl in seinem Evangelium als in seinen Briefen den Glauben an Jesum Christum als unumgängliche Bedingung zur Seligkeit nicht weniger scharf betont als Paulus und in seinem Buche der Offenbarung als der Prophet der Hoffnung den ersten Rang einnimmt. Bei dem Apostel Paulus aber die Macht der Liebe verkennen, die ihn beseelt, durchglüht, verzehrt, hieße angesichts unserer Epistel geradezu eine Torheit begehen. Ist sie doch ein Hochgesang auf die Größe der Liebe, wie es kaum einen zweiten gibt. Er malt sie uns vor Augen in ihrer ganzen Höhe, Breite, Länge und Tiefe; in ihrer Höhe, womit sie alle anderen Gaben überragt und ihnen erst den rechten Wert und Adel verleiht; in ihrer Breite, womit sie alle Lebensbeziehungen umspannt; in ihrer Länge, womit sie in Ewigkeit bleibt, wenn Sprachen und Weissagungen und Erkenntnis aufhören, und in ihrer Tiefe, womit sie quillt aus Gott, der die Liebe selber ist. Das ist die Größe der Liebe im Großen; es verlohnt sich aber euch, einmal die Größe der Liebe im Kleinen zu betrachten. Darum lasst mich heute nur einen einzigen Spruch Herausgreifen aus unserer reichen Epistel, um an ihm Eine hochbedeutsame Seite der Liebe aufzuzeigen. Ich wähle dazu den Vers: „Die Liebe glaubt Alles.“

Ein unscheinbares Wort unter den andern herrlichen Worten und doch von so großer Tragweite und so unentbehrlich im täglichen Wandel und Verkehr. Ja, gerade auch in diesem schlichten Gewande erscheint die Liebe als eine hehre Macht und Gestalt, welche segnend über die Erde schreitet und das Entzweite eins macht und das Einsgewordene festerhält. Wir betrachten

die Größe der Liebe im Kleinen,

Du aber, der Du die Liebe selber bist, entzünde in unseren Herzen Deine göttliche Liebe, auf dass auch wir hingehen und die Brüder lieben. Gib uns Liebe, die nicht müde wird, aus der Fülle Deiner Liebe, die nimmer aufhört. Amen.

I.

Misstrauen ist eine dunkle, furchtbare Macht unter den Menschen, wie ein schleichendes Gift, das die edelsten Bande zerstört, ein Scheidewasser, das ätzend und zersetzend den Frieden einer Gemeinschaft auflöst; Misstrauen ist eine Scheidewand, welche still und verborgen im Herzen gegen den Nächsten aufgerichtet wird, so dass kein freundlicher Gruß, kein herzliches Wort, keine helfende Hand mehr herüber und hinüber gewechselt wird. Dabei können die Menschen äußerlich noch scheinbar friedlich neben einander hergehen, aber innerlich ist die tiefe Kluft da, welche die eigentliche Gemeinschaft hindert und aufhebt. Es ist auch kaum ein menschlich-sittliches Verhältnis, in welches diese dunkle Macht des Misstrauens sich nicht einschleichen könnte, wenn der Mensch nicht wacht und es mit der größeren Macht der Liebe überwindet.

Welche furchtbaren Leiden und unerträglichen Zustände treten ein, wenn zwischen Eheleuten das Misstrauen beginnt, wenn der eine Teil vom andern fürchtet, dass er ihm die volle Wahrheit vorenthält, wenn Eins dem Andern unedle Beweggründe für sein Handeln unterschiebt, wenn vollends gar die Eifersucht ausbricht und das Eheleben, das ein Himmel der Liebe sein sollte, zu einer Hölle auf Erden wird. Nicht geringer ist die sittliche Verheerung, wenn ein Kind an seinem Vater oder Mutter irre wird oder die Achtung vor ihnen verliert, wenn da, wo das vollste, innigste Vertrauen walten sollte, das Misstrauen an den Wurzeln der kindlichen Liebe frisst; oder wenn umgekehrt die Eltern in die Wahrhaftigkeit ihrer Kinder Zweifel sehen müssen, sich von ihnen hintergangen oder betrogen sehen, wenn sie mit tiefem Schmerz erkennen, dass ihre Kinder Andern mehr Vertrauen schenken als ihnen und den Mut nicht gewinnen, ein klares, offenes, rückhaltloses Verhältnis herzustellen. Wenn in einem Hause etwas gestohlen ist, und die Umstände drängen darauf, anzunehmen, es kann nur ein Hausgenosse gewesen sein - wie treten da unter Geschwistern oder Dienstboten plötzlich in einem Augenblick Stimmungen und Lagen ein, als ob alle Bande bisheriger Treue sich gelöst hätten. Welch ein Schaden entsteht, wenn es dem Klatsch oder den Sektierern gelingt, den Gliedern der Gemeinde Misstrauen gegen ihren Hirten einzuflößen, oder wenn es der stets geschäftigen Kritik gelingt, den Schülern gegenüber den Lehrern oder den Untergebenen gegenüber den Vorgesetzten das Vertrauen zu entziehen oder den Kollegen gegen den Kollegen zu heben. Ja, bis in den wirtschaftlichen und geselligen Verkehr hinab ist es um das Misstrauen eine furchtbare Macht. Ein Kaufmann, der um seinen Kredit gebracht wird - und Kredit heißt Vertrauen - ist ein ruinierter Mann, und wer in der Gesellschaft verdächtigt wird, wird wie ein Aussätziger gemieden. Weil aber das Misstrauen eine so furchtbare Macht ist, so spielt es in dem Parteigetriebe eine große Rolle und wird gebraucht als schlechtes Mittel zum scheinbar guten Zweck. Gehört es doch zu der Sünde der Parteisucht, sei es auf kirchlichem oder politischem Gebiete, den Gegner sittlich schlecht zu machen, um dadurch das Misstrauen zu erwecken und die Kluft aufzurichten. Es ist noch nie eine Revolution zu Stande gekommen, ohne dass vorher das Misstrauen gegen die Regierung gründlich und bitter erregt worden wäre.

Aber auch unter Solchen, die zu einem besonneneren Urteil befähigt wären, gilt es als sittlich erlaubt, sich an der Persönlichkeit des Andern zu vergreifen, sobald er zu einer andern Partei gehört. Ich nenne dies eine öffentliche Sünde unsers öffentlichen Lebens. Sachlich sollen und müssen wir streiten, um die von uns als richtig erkannten Grundsätze durchzusetzen; fachlich müssen wir auch urteilen und müssen schwarz schwarz und schlecht schlecht heißen; sachlich müssen wir sogar vorsichtig prüfen und uns nicht blenden lassen; aber wir müssen die Sache von den Personen zu unterscheiden wissen und sollen nicht die Personen anfeinden, um dadurch die Sache zu beherrschen, und sollen uns nie erlauben, über die innere Stellung eines Menschen zu Gericht zu sitzen, sondern das Misstrauen gegen die Persönlichkeit auch dann nicht dulden, wenn uns Vieles an ihrem Tun und Lassen unklar und unrichtig erscheint.

Aber die Leidenschaft, der Hass, die Rechthaberei ist zu groß. Man behauptet: „ich sehe ganz klar die Menschen und die Dinge,“ und vergisst, dass man eine Brille auf der Nase hat. Freilich, wer eine grüne Brille trägt, der sieht Alles grün und behauptet steif und fest: es ist grün; denn ich sehe es so. Und wer die Brille des Misstrauens trägt, der sieht natürlich alle Menschen und Dinge im misstrauischen Lichte, in kritischer Karikatur, und behauptet doch: so ist es; denn ich sehe es so. Zu diesen gehört das Geschlecht der sogenannten „Menschenkenner“, die mit überlegenem Lächeln zuerst immer alles Schlechte von einem Menschen denken; sie prahlen damit, sie haben ihre Erfahrungen gemacht, und ihre ganze Weisheit besteht in dem wohlfeilen Misstrauen gegen Alle, welches von ihrer eigenen lieblosen Gesinnung herkommt. Aber das würde schließlich die Auflösung aller Gemeinschaft, der Krieg Aller gegen Alle sein, wenn es nicht eine Macht gäbe, welche im Stande wäre, das Misstrauen zu überwinden und diese Macht ist die Liebe. Sie treibt das Misstrauen aus.

Wie geschieht das? Die Liebe, von welcher Paulus redet, ist ja nicht jede beliebige Hingebung, sondern ist die Liebe, die aus Christo geboren ist, die in dem bußfertigen Glauben an die Liebe Gottes zu uns in Christo wurzelt; sie ist der Gegensatz zur Selbstsucht, zum Egoismus, ja, sie besteht nur bei einem beständigen Kampf und Misstrauen gegen das eigene sündliche Ich. Dadurch wird aber schon jenem bösen Misstrauen gegen die Anderen die Axt an die Wurzel gelegt. Je strenger Jemand gegen sich selbst ist, desto barmherziger wird er gegen Andere. Wer den Blick getan in die eigene tiefe Sündhaftigkeit und in die Verkehrtheit der eigenen Vernunft und Kraft in geistlichen Dingen; wer an sich selbst erfahren hat, wie schwer es ist, sich selbst zu erkennen und zu verstehen, ja, wie es ohne Gottes Licht und Geist ganz unmöglich ist der verzagt daran, ein richtiges Urteil über den Nächsten zu haben, denn er weiß: Es ist nur Einer, der das vermag, nämlich der allwissende Gott, der Herzenskündiger. So lange nun dieser allwissende, heilige Gott den Nächsten trägt und duldet, so lange darf und soll ich ihn auch tragen und dulden, und es kann für den Nächsten nur Ein richtiges Urteil über den Nächsten geben, nämlich das Urteil der Liebe, dass er ihn ansieht als Einen, den Gott geliebt hat. Ein Christ sagt sich: wie sollte ich meiner kurzsichtigen Beobachtung zutrauen zu begreifen, wie Gedanken, Worte und Taten in einem Anderen zusammenhängen; wie sollte mir der richtige Ansatz gelingen, wie viel da auf die Abstammung von seinen Eltern, auf Erziehung und Temperament, auf Lebensführung und Vorbilder ankommt. Ein Christ wird zwar auch aus Liebe den Nächsten gleichsam studieren, Eltern, Erzieher und Seelsorger werden fürsorglich auf die Art und Natur ihrer Pflegebefohlenen achten, aber Sie werden immer wieder zu dem Schluss kommen, wenn sie Christen sind: jedes Urteil ist unrichtig, wenn es nicht aus der Liebe stammt und zu erneuter Liebesanstrengung führt. So ist es die Buße, das Misstrauen gegen sich selbst, was dem Misstrauen gegen Andere den Todesstoß versetzt.

Dazu kommt aber der helle Blick in die umgebende sündige Welt mit ihren Versuchungen, mit ihrer ansteckenden Krankheit, mit ihren Gefahren für den Charakter. Ich wiederhole auch hier, dass der Christ sich nicht wird täuschen lassen über die Verwerflichkeit der Sünde; auch nicht durch die Liebe kann er sich dahin bringen lassen, schwarz weiß und weiß schwarz zu heißen aber er wird im Bewusstsein um die Sünde als Weltmacht dem Einzelnen nicht allein zurechnen, was die Gemeinschaft gesündigt hat, sei's die Gemeinschaft der Familie, aus der er herkommt, oder das Volk, zu dem er gehört; er wird auch bei den Tiefgefallenen und bei den ihm höchst unsympathischen Menschen doch den Blick auf ihre unsterblichen, teuer erkauften Seelen richten, weil er sie zu unterscheiden weiß von dem, was die Macht der Sünde und der Welt an ihnen verdorben hat.

Endlich weiß der Christ, dass Satan nicht feiert, Misstrauen unter die Menschen zu säen; denn Misstrauen ist der Anfang zum Hass, und Hass ist geistlicher Mord, und Satan ist der Mörder von Anfang. Hat er doch seinen Namen daher. Diabolos auf griechisch, Teufel zu deutsch heißt er, als Einer, der dazwischen wirft. Er ist's, der den Sündenfall zu Stande gebracht, als er Misstrauen gegen Gott dazwischenwarf mit der Frage: Sollte Gott gesagt haben? Er ist's, der noch fort und fort den Zweifel in die Seele wirft, Zweifel gegen Gott und Misstrauen unter einander.

So überwindet die Liebe das Misstrauen gegen die Brüder durch die Buße, nämlich durch das Misstrauen gegen sich selbst und sein eigenes unvollkommenes Urteil, durch das Bewusstsein um die Macht der Sünde in der Welt und durch den Blick auf den Feind und Gegensatz der Liebe, den Satan.

II.

Wenn aber der Apostel sagt: „Die Liebe glaubt Alles,“ so will er nicht nur die Größe der Liebe zeigen in der Überwindung des Misstrauens, sondern auch in der Herstellung und Erhaltung des Vertrauens unter einander. Denn auf dem Vertrauen beruht schließlich alle echt menschliche Gemeinschaft.

Wie lieblich ist es, wenn im Leben der Familie, an der Stätte, welche von Gott als die Liebesgemeinschaft auf Erden gewollt und geordnet ist, die ganze Luft, die da weht, jenes herzliche Vertrauen ist zwischen den Ehegatten, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Geschwistern, zwischen Herrschaften und Dienstboten, wie es aus gegenseitigem Treuehalten erwächst und von Jahr zu Jahr sich mehrt und stärkt, also dass oft ein Blick, ein Wort genügt, um Missverständnis zu verhüten; wo die Herzen auf einander bauen und trauen können auch in den Tagen des Sturmes oder in den Nächten des Leides. Vertrauen in diesem Sinn ist ja im Grunde nichts Anderes als die Frucht erfahrener, dauernder Liebe, auf Grund deren man auch für die Zukunft solcher Liebe sich getrösten darf. - Wie schön ist's, wenn Schüler zu ihrem Lehrer aufblicken mit Vertrauen auf seine Führung und mit der Hingabe an seine Persönlichkeit. Und edle Freundschaft ruht sie nicht auf dem tiefen Grunde des Vertrauens?

Anders liegt freilich die Sache denen gegenüber, die uns nicht befreundet sind, die uns vielleicht gleichgültig oder gar feindlich gegenüberstehen. Auch von ihnen sagt Paulus: Die Liebe glaubt Alles - nämlich alles Gute von dem Nächsten. Während die Buße der Pessimismus oder die schlechte Meinung in Beziehung auf uns selber ist, so meint Paulus hier einen Optimismus oder gute Meinung in Beziehung auf den Nächsten. Er will, dass wir am Nächsten Alles mit der Brille der Liebe ansehen. Denn nur Liebe ist im Stande, solch Vertrauen zu fassen und zu bewahren, selbst wenn der Schein und der Verstand dagegen spricht. Liebe lässt sich sogar auch einmal überlisten, Liebe kann auch einmal irren, wo die Schlauheit und viel gerühmte Klugheit sich weislich vorsieht. Liebe muss wachsen wie ein Eichbaum, der auch einmal was vertragen kann in Sturm und Wetter und nicht gleich verletzt seine Blätter einzieht wie das Blümlein „Rühr mich nicht an“!

Aber wie geschieht das? Wo nehme ich die Kraft her zu solcher Liebe, die nicht müde wird? Antwort: Allein aus dem Glauben an die Liebe Gottes zu uns in Christo. Meine Lieben, solch Vertrauen, solches Tun der Liebe, die Alles glaubt, Alles hofft, Alles trägt und Alles duldet, ist ganz unmöglich, ohne dass wir uns unter einander täglich und reichlich vergeben. Denn die Sünde, die Selbstsucht in ihrer verschiedenen Gestalt ist es, die immer wieder eine Scheidewand zwischen Mensch und Mensch aufrichten will, und Vergebung allein ist es, die diese Scheidewand immer wieder niederreißt.

Dieses Vergeben-können und Vergessen-wollen aber fließt allein aus dem Bewusstsein, dass Gott uns täglich und reichlich unsere Sünde um Christi willen vergeben muss, wenn wir vor Ihm leben sollen. Siehe, das ist nun das Große, Hehre, das überwältigende, dass der große Gott trotz unserer vielfachen Sünde und Beleidigungen seiner Majestät doch immer wieder mit uns anhebt. Wahrlich, von dieser Liebe Gottes zu uns heißt es in erster Linie: Gott in seiner Liebe glaubt Alles, hofft Alles, trägt Alles, duldet Alles in unaussprechlicher Geduld und Barmherzigkeit, so oft wir kommen und um Vergebung bitten. Diese Dinge hängen so innig zusammen wie die zwei Teile der fünften Bitte im Vaterunser: „Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern“. Ja, vergeben und immer wieder vergeben, das ist die Wurzel alles Vertrauens zwischen Gott und Menschen, zwischen Mensch und Mensch. Darum als Petrus fragt, wie oft er dem Bruder vergeben solle, ob's genug sei sieben Mal, so antwortet der Herr: Nicht sieben Mal, sondern siebzigmal sieben Mal. Und ich fasse nun dies herrliche Wort im Glauben und sage: So darf ich auch zu meinem Gott das Vertrauen fassen, dass er mir auch vergeben will nicht sieben Mal, sondern siebzig mal sieben Mal, da er mich heißt, dem Bruder also tun. „Denn der Jünger ist nicht über seinen Meister; sondern wenn er ist wie sein Meister, so ist er vollkommen.“ Ist also Gottes Vergebung mir gewiss, so ist mein Vertrauen zu Gott, dem barmherzigen Vater, da; und ist nur meine Vergebung dem Nächsten gewiss, so ist das Vertrauen zwischen uns schon wieder da, und die Liebe hat den Raum gewonnen. Siehe, so ist es allein der Glaube an die Liebe Gottes in Christo, welcher macht, dass nun die Liebe Alles glauben kann in Betreff des Nächsten. Darum ist die christliche Liebe nicht blind, wie die Leute meinen o nein, sie sieht die Sünden sehr wohl und verurteilt sie; sondern die Liebe ist hellsehend, sie sieht durch alle Spalten hindurch die Persönlichkeit des Andern, auch des gefallenen Bruders, im Lichte Gottes als eine durch Christum erlöste, zur Seligkeit berufene Seele, und als solche ist sie ihm edel und teuer.

Wenn wir so überblicken, wie Paulus uns in dem kleinen Spruch: „Die Liebe glaubt Alles“ die Größe der Liebe im Kleinen gezeigt hat, so muss uns das mit Bewunderung erfüllen für die Sprache der heiligen Schrift. Nimm ein Gleichnis und Gegenbild an der Schöpfung. Da schauen wir einerseits die Wunder Gottes im Großen, die Sternenwelt droben am Himmel, wie sie ihre majestätischen Pfade zieht, oder den wunderbaren Haushalt in der Tiefe des Meeres, die untergegangenen Gebilde im Innern der Erde oder die Größe der einsamen Alpenwelt. Aber andererseits staunen wir auch über die Wunder Gottes in der Schöpfung im Kleinen, wenn wir das Vergrößerungsglas zur Hand nehmen und eine neue Welt der Farben, Formen und Gesetze vor unsern Blicken sich auftut. Ähnlich ist es mit der heiligen Schrift. Da sehen wir die großen Taten Gottes in der Schöpfung, Erlösung, Heiligung und Vollendung, wir sehen die göttliche Erziehung des Menschengeschlechts durch die Jahrhunderte, wir sehen die wunderbare Gestalt des Gottes- und Menschensohnes und sein Werk, wir sehen die wunderbaren Anfänge der Geschichte der Kirche und die wunderbare Weissagung von ihrem endlichen Siege. Aber neben dieser Größe im Großen geht in der heiligen Schrift eine stille Größe im Kleinen, wie sie uns in einzelnen Zügen der Geschichte, in einzelnen Vorbildern des Alten Testaments, in einzelnen Sprüchen. aus dem Munde Christi, in einzelnen Zügen seiner Zeugen entgegentritt. So ist unser heutiges kurzes Textwort ein solcher Zug der heiligen Liebe, in welchem uns die Größe der Liebe im Kleinen neben den großen Zügen erscheint. Lasst uns den kleinen Spruch beherzigen, dass wir daran die anderen Züge verstehen lernen, Züge wie die: die Liebe lässt sich nicht erbittern, die Liebe suchet nicht das Ihre, sondern das, was des Andern ist, Züge, deren Auslegung wiederum eine ganze Predigt erfordern würde.

Summa: Liebe ist Leben, wahre Christenliebe ist Leben aus Gott, und davon gilt das tiefsinnige deutsche Sprichwort im wahren Sinne: leben und leben lassen; nämlich in der Liebe leben täglich und reichlich aus dem Glauben, der die Liebe Gottes zu uns ergreift und empfängt, und dann leben lassen täglich und reichlich die Brüder um uns her in der Liebe, die sich mitteilt und aufopfert. Ich schließe, womit der Apostel unseren Abschnitt schließt, mit dem eindringlichen Worte: „Strebt nach der Liebe.“ Amen.