Die Gnade unseres Herrn und Heilands Jesu Christi und die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns Allen. Amen.
Ev. Matthäus 6, 12.
Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern. Amen.
Der vorige Sonntag, teure Christen, stellte uns an den gedeckten Tisch mit seiner vierten Bitte: Unser täglich Brot gib uns heute! Der heutige Sonntag führt uns ins stille Beichtkämmerlein mit seiner fünften Bitte: „Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern.“
Wollten wir nur ums tägliche Brot bitten? und nicht auch um tägliche Vergebung? Lebt denn der Mensch vom Brot allein und nicht auch vom Wort der Gnade seines Gottes? Hat der Mensch nur einen Leib, der ihn ans Irdische bindet, hat er nicht auch eine Seele, die ihn zum Himmel zieht? Steht er nur mit den Füßen auf der Erde, hebt er nicht auch sein Haupt empor zu den Wolken? Freund, trägst du nicht unter dem Brusttuch ein Herz? ein Herz, das zu pochen anfängt bei jedem Unrecht, das du tust; bei jeder Sünde, die du begehst, bei jeder Schuld, die du darauf lädst, ein Herz, das nicht eher zu klopfen aufhört, als bis es die Gewissheit erlangt: Meine Sünden sind mir vergeben?
Wohlan denn, wer nicht nur gute Tage sehen will, sondern auch selige Tage, wer nicht nur äußerlich leben will, sondern auch innerlich, wer nicht nur seinen Leib vorm Verhungern, sondern auch seine Seele vorm Verschmachten bewahren will, der komme jetzt und falte seine Hände und spreche:
„Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern.“
Du siehst: Die fünfte Bitte ist eine Doppelbitte, sie sagt dir:
Ihr kennt das Bild, das eures Heilands Hand euch gemalt. Zwei Menschen stehen in des Tempels Hallen. Der Eine, hoch das Haupt, stolz die Miene, selbstgerecht die Sprache: „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute!“ Und Gott der Herr lässt ihn stehen, den Selbstgerechten, der da meint, der Buße nicht zu bedürfen. Und der Andere, in stillem Winkel, das Haupt gebeugt, den Blick gesenkt, an die Brust sich schlagend mit dem Beichtwort: „Gott sei mir Sünder gnädig!“ Und Gott der Herr hebt ihn auf und entlässt ihn gerechtfertigt in sein Haus.
Zwei Menschen! Welcher von beiden bist du? Vielleicht der Erste? Sagst du auch: „Ich brauche die fünfte Bitte nicht! Was Sünde! Was Schuld! Was vergeben! Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie solche Leute!“
O Menschenkind, das du so sprichst, du magst deine Schuld wegleugnen, du magst deine Sünden verdecken, dein Gewissen übertäuben, magst im Gewühl der Menschen, im Strudel der Vergnügen, im Getriebe der Arbeit deine Schuld vergessen aber in der Stille, in der Einsamkeit, auch dann? Wenn du in schweigender Nacht einsam standest auf stillgewordenem Schiff, über dir den glänzenden Sternenhimmel, unter dir die wogende See, hast du sie nicht heraufsteigen sehen die Sünden deines Lebens? Sahst du ihn nicht vor dir liegen, deinen alten Kinderkatechismus, und mit Flammenschrift war's darin geschrieben, zehnmal: Du sollst! Du sollst! Und tausendfach, viel tausendfach klang's dagegen: Nicht gehalten! Nicht gehalten! Sahst du sie nicht heraufsteigen all die Gestalten, so wohlbekannt? Deinen Vater, deine Mutter, die dich zu einem frommen Menschen erziehen wollten, und wenn sie in dein Herz schauen könnten, das Herz würde ihnen vielleicht brechen! Heraufsteigen dein Ehegemahl, dem du Treue gelobt bis in den Tod, ist das Jawort nicht gebrochen, der Trauring nicht befleckt? Heraufsteigen deine Kinder, deren unsterbliche Seelen deiner Hand anvertraut - gabst du ihnen nicht Steine statt Brot, Gift statt Wasser? Heraufsteigen das große Heer deiner Nächsten, die deiner Liebe, deines Rates, deiner Hilfe bedurften, und du gingest herzlos vorüber! - Heraufsteigen Ihn selbst, den dreimal heiligen und dreimal gerechten Gott, mit Seinem Flammenauge, das ins tiefste Herz schaut, mit Seiner Allmachtshand, der Niemand entrinnt, mit Seinem unerbittlichen Richterspruch: Ihr sollt heilig sein, denn Ich bin heilig! - Und vor Ihm standest du, von der Fußsohle bis aufs Haupt nichts Gesundes an dir, dein Leib kein Tempel des Heiligen Geistes, deine Zunge voll tödlichen Giftes, dein Auge ein Schalk, deine Hand befleckt, dein Fuß gestrauchelt. Christ, wenn du nicht einen Stein, wenn du ein Herz in der Brust hast, sankst du nicht in die Knie: Vater unser, der du bist im Himmel, vergib uns unsere Schuld! Vergib! Vergib!
Und wo finden wir Vergebung? wo allein?
Es war vor einer Reihe von Jahren. Ein Schiff in der Südsee geriet in Brand. Entsetzen ergriff die Mannschaft und die Passagiere, Alle stürzten zu den Rettungsbooten - nur Einer blieb auf seinem Posten: der Steuermann. Während ein Rettungsboot nach dem anderen abstieß zur nahen Insel, während die Flammen schon über seinem Haupte zusammenschlugen er wich nicht, er lenkte das brennende Schiff der Insel zu. Alle Passagiere waren gerettet, das Rettungsboot flog zurück, um auch den Steuermann zu holen, da fand man ihn auf seinem Posten tot, beide Arme waren ihm abgebrannt. Auf der nahen Insel begrub man ihn, auf seinem Grabe errichtete man ein kostbares Marmorkreuz, daran stehen noch heute die Worte: „Er starb für uns!“ 1)
Ich denke an ein anderes Kreuz, kein kostbares Marmorkreuz, nein, das Fluchholz des Kreuzes auf Golgatha, daran hängt der große Steuermann, der das Schiff der Welt durch die Wogen der Sünde, durch die Flammen des Todes hindurchgerettet. Er ist dabei gestorben, aber die Mannschaft ist gerettet, und darum stehen auch an diesem Kreuze die Worte: „Er starb für uns.“
Christ, sehnst du dich nach Vergebung der Sünden: „Er starb für dich!“ Brennt es dir im Herzen: Vergib mir meine Schuld! flüchte dich unter Christi Kreuz! Seine Wunden, Seine Schmerzen, Seine Leiden, Sein Sterben; Alles ruft es dir zu: Wenn deine Sünde gleich blutrot wäre, so soll sie doch schneeweiß werden.
Da, nur da lass dir vergeben! Und dann die andere Mahnung der fünften Bitte: Vergib selbst! Wie wir vergeben unseren Schuldigern.“
Das Licht, das entzündet ist, muss leuchten - es kann nicht anders. Der Christ, der von seinem Herrn Vergebung empfangen, muss wieder vergeben - er kann nicht anders. O, wollten wir, die wir es sonntäglich im dritten Artikel bekennen: Ich glaube an die Vergebung der Sünden - nicht wiederum herzlich vergeben denen, die sich an uns versündigen, die uns gekränkt, beleidigt, die uns Unrecht getan?
Vergib! Vergib! so mahnt dein Herr und Heiland. Kannst du zählen die Sünden, die Er dir vergeben? Kannst du wägen die Schuld, die Er dir erlassen? Sind es nur zehntausend Pfund? und du wolltest die hundert Groschen, die paar Kränkungen und Beleidigungen durch deinen Nächsten nicht erlassen? Vergib! Vergib! so mahnt die kurze flüchtige Lebenszeit. O du weißt nicht, wie lange du noch mit deinem Nächsten auf dem Wege bist, weißt nicht, wie bald du an Gräbern stehst und weilst und kannst die Hand nicht mehr reichen zur Versöhnung und das Wort nicht mehr sprechen, das die Herzen wieder verbindet.
Vergib! Vergib! so mahnt die lange Ewigkeit. Ja, willst du einst selbst Gnade, Erbarmen finden vor dem Flammenauge des Weltenrichters - du kannst es nicht, wenn du deinem Bruder gegenüber das Wort Gnade, Vergebung nicht gekannt, wenn du dein Herz in Groll und Feindschaft ihm verschlossen hast. Wohlan denn, Er, der vom Kreuze her der ganzen Welt, dir und mir Vergebung anbietet, Er, der am Kreuze selbst seinen Feinden vergeben und für sie Vergebung erfleht: Vater, vergib' ihnen! - Er, der an der heiligsten Stätte unsere Bitte erfüllt und geheiligt hat, Er falte uns selbst die Hände, öffne uns selbst die Herzen, dass wir aufrichtig und bußfertig allzeit beten: Vater unser, der du bist im Himmel, vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern. Amen.
Treuer barmherziger Gott, der du nicht willst den Tod des Sünders, sondern dass der Sünder sich bekehre und lebe, wir bitten dich, vergib uns Allen alle unsere Schuld, decke in Gnaden zu alle unsere Sünden, die Sünden, die wir wissen, die Sünden, die wir nicht wissen, gedenke nicht der Sünden unserer Jugend! Herr, so du willst Sünde zurechnen, Herr, wer wird bestehen! Aber bei dir ist Vergebung und Gnade, immer und ewiglich. Amen.