Die Gnade unsere Herrn und Heilandes Jesu Christi und die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit uns Allen. Amen.
Test: 2. Mose 20,13.
Du sollst nicht töten.
In Christo geliebte Freunde! Wir sind mit diesem Gebot herübergekommen auf die andere Tafel des Gesetzes. Auf der ersten Tafel stand der Herr mit Seiner Person, Seinem heiligen Namen, Seinem heiligen Tag und Seinen Stellvertretern, den Eltern; hier auf der zweiten stehet der Nächste mit seinem Leben, seiner Ehe, seinem Gut, seiner Ehre und Allem, was er sonst hat. Wenn die erste Tafel fordert: „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte“, so fordert die zweite Tafel: „Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst.“
Der Herr hat ungleich in seiner Liebe mit uns geteilt; vier Gebote sind es, die auf Seiner Tafel, und sechs sind es, die auf unserer stehen. Schauen wir uns aber die Gebote gegen Ihn recht an, sucht der Herr nicht im tiefsten Grunde auch in ihnen nur unser Bestes? Wer hat mehr davon, wenn wir Ihn unseren Gott sein lassen, Er oder wir? Hat Er nicht uns zu gut Seinen heiligen Namen uns geschenkt? Oder bedarf Er, der unter den Lobgesängen der Engel wohnt, unseres Preises? Wem kommt die Wohltat des Sabbats zu gute, Ihm oder uns? Wem zu gut schenkt Er die Eltern und wem zu gut richtet Er die Ordnung im Haus und im Staat auf? Beschämt über die Güte unseres Gottes müssen wir unsere Blicke niederschlagen und mit dem Apostel rufen: „Dein Gesetz ist je heilig, gut und recht.“ Mit welcher Sorge aber nimmt er Sich des Nächsten und auch unserer an! Jede Versündigung an dem Nächsten sieht der Herr auch als eine Versündigung an Ihm an; und in diesem Sinn sind auch alle Gebote gegen den Nächsten Gebote gegen Gott. Denn vor Allen steht das Wort: „Ich bin der Herr dein Gott.“ So ernstlich der Herr es meint mit dem Halten der Gebote gegen Sich, so ernstlich meint Er es auch mit dem Halten der Gebote gegen den Nächsten. Sind nicht die Gebote der zweiten Tafel in unseres Gottes Sinne anzuschauen als uns zur Probe gegeben, um zu prüfen, ob es mit dem Halten der ersten Tafel richtig stehe? Spricht doch der heilige Apostel Johannes: „So Jemand spricht: Ich liebe Gott und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner; denn wer einen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht? Und dies Gebot haben wir von ihm, dass wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.“
Machet euch also, meine Lieben, die Rechnung selbst. Denkt euch, diese beiden Tafeln seien zwei Waagschalen, in deren einer die Liebe zu Gott liegt, in der andern die Liebe zu dem Nächsten als Gewicht, das da anzeigt, wie viel die Liebe zu Gott, die drüben liegt, wert ist. Aber ebenso legt in die eine Waagschale die liebe zum Nächsten und wäget sie ab in der andern, in der die Liebe zu Gott liegt und prüft, wie viel eure Nächstenliebe wert ist. Denn Niemand kann seinen Bruder wahrhaft lieben, der nicht Gott zuerst geliebt hat; ohne Gottes Liebe ist alle Nächstenliebe im tiefsten Grunde nichts als Selbstliebe. So sagen wir denn: So viel Liebe du zu deinem Nächsten hast, so viel Liebe hast du auch zu deinem Gott; und wiederum nur so viel Liebe du zu deinem Gott hast, ist auch deine Liebe zum Nächsten eine wahrhaftige und keine erlogene, noch geheuchelte. In diesem Verhältnis stehen die beiden Tafeln des Gesetzes zu einander.
Aber in den Geboten gegen den Nächsten hält der Herr ebenso seinen festgeordneten Gang wie in den Geboten gegen Sich. Über dem köstlichsten irdischen Gut, nämlich über dem leben des Menschen, hält Er zuerst Seine schützende Hand. Denn das Leben ist ja die Grundbedingung, unter der uns alle himmlischen und irdischen Güter zu Teil werden; es ist, wie richtig gesagt worden ist, wenn auch nicht aller Güter höchstes, dennoch „das Gefäß, in dem auch die höchsten Güter eingeschlossen sind.“ Darum schützt der Herr dieses Gut und verbietet ernstlich jegliche Verkündigung daran. Diesen Gedanken lasst uns in der jetzigen Stunde weiter nachsinnen, und das Wort des Herrn uns zurufen:
Du sollst nicht töten!
Wir betrachten für heute
Geliebte Freunde! Ein großes, hohes Gut hat uns der Herr durch unser Leben gegeben. Ist das wahr? Ich höre Manchen sagen: „ach, kein Gut hat er mir gegeben, denn mein Leben ist nur eine Last.“ Sagt nicht die Schrift: „es ist ein elend, jämmerlich und ein mühselig Ding um dieses Leben; von ungefähr sind wir geboren, von ungefähr fahren wir dahin, der Tag des Todes ist besser, als der Tag der Geburt.“ Was ists mit dem Leben? mit einem Schrei und mit Tränen kommt der Mensch zur Welt; sind diese Tränen nicht eine Weissagung auf das, was ihm in der Welt begegnen wird? Ja mit Tränen und mit einem Seufzer fährt unser Leben wieder von dannen! Gewiss, es ist ein armes Ding um unser Leben, aber es war einst nicht so, es war ein köstlich Ding um das Leben gewesen, als der Herr durch sein allmächtiges: „Es werde“ die Welt und die Menschen schuf und den lebendigen Odem ihm in seine Nase blies; es ist arm geworden. Seit sich unser Leben vom wahren Leben getrennt hat, ists ein Jammer geworden. Als Adam den Abschied nahm von seinem Gott im Paradies, da hat der Herr ihm den Schweiß auf sein Angesicht und die Disteln und Dornen auf sein Feld gegeben, da hat sein Weib die Schmerzen ins Leben mit erhalten. Seitdem ists ein Leben geworden, in das nicht nur Tränen, Leid, Geschrei und Schmerz, sondern auch der Tod hineingewoben ist. Mit dem ersten Tag unseres Lebens beginnt auch schon das Sterben; wie das angezündete Licht von dem ersten Augenblick seines Leuchtens an sich in sich selbst verzehrt. Und doch hält der Herr über dies, dem Tode verfallene Leben, über diese Eintagsblume seine schützende Hand, dass Niemand sie abhaue; er hält schützend seine beiden Hände um das flackernde Licht unseres Lebens, dass Niemand es auslösche. Ja er zieht um dieses Leben, das eine Ruine ist, die mit jedem Tag mehr verfällt, eine starke Ringmauer mit dem Gebote: „Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst nicht töten.“
So ernstlich meint es der Herr mit diesem Gebot, dass er an einer andern Stelle sagt: „Ich will eures Leibes Blut rächen, und will es an allen Tieren rächen, an einem jeglichen Menschen, als der sein Bruder ist.“ So innig stellt sich der Herr mit seinem Leben zu unserem Leben, dass er selbst als der nächste Blutsverwandte eines Menschen Mord rächen will. Was muss in diesem Leben liegen, welch hohes Gut muss uns demnach in diesem armen und müheseligen Ding, was man Leben nennt, gegeben sein, wenn Gott also sich desselben annimmt! Den Grund, warum er also tut, zeigt uns wohl das Wort, was Gott zu Noah nach der Sündflut spricht: „Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll auch durch Menschen vergossen werden, denn Gott hat den Menschen zu seinem Bild gemacht.“ Also Gott hat dem Menschen etwas gegeben, was ihm Niemand geben kann, und darum auch Niemand rauben darf, einen himmlischen göttlichen Funken. Wer seine Hand darum wider den Nächsten zum Mord erhebt, der erhebt sie gegen den, der ihm das Leben geschenkt; er erhebt sie nicht gegen einen fremden Menschen, sondern gegen Einen, der aus derselben Hand kommt wie er; er tötet einen Blutsverwandten, denn „Gott hat gemacht, dass von einem Blut aller Menschen Geschlecht auf dem Erdboden wohne.“ So tötet er denn nicht ein Tier, wenn er einen Menschen erschlägt, sondern einen Menschen, der nach Gottes Bild geschaffen, und nicht nur sein, sondern auch Gottes Verwandter ist. Nach dem Sündenfall (merken wir darauf) hat der Herr jenes Wort zu Noah gesagt. Auch der gefallene Mensch trägt eine Spur des Ebenbildes Gottes; es sind noch Gaben und Kräfte in ihm, die ihm vom Herrn anvertraut, Gaben und Kräfte die ihm verliehen sind, damit er sie entfalte und gebrauche zu seinem und des Nächsten Nutzen und Heil. Alle irdischen Gaben und Güter haben aber nur Wert für den Lebendigen; denn was nützt es dem Menschen, wenn ihm seine Ehe, sein Hab und Gut, sein guter Name beschützt wird und man ihm sein Leben nimmt?
Darum, wo das Leben des Menschen nicht mehr sicher ist, da hört alle Ordnung in der Welt auf, da wird aus dem Menschengeschlecht ein Geschlecht von reißenden Tieren. So haben auch alle heidnischen Gesetzgebungen dieses Grundgesetz: „Du sollst nicht töten“ aufgenommen, und nur der Obrigkeit als göttlicher Hüterin der Ordnung, das Recht und die Pflicht der Todesstrafe zugestanden.
Aber noch weit Höheres liegt in diesem Gut des Lebens. Der Herr hat uns nicht nur zu seinem Bild gemacht, sondern er will dies Ebenbild, nachdem es verwüstet und getrübt worden, wieder im Menschen herstellen. - In dies arme Leben, das mit dem Tod ringt, ist das wahre Leben, das den Tod überwunden hat, gekommen, nämlich unser Herr Jesus Christus, der das Leben hatte in ihm selber und der da spricht: „Ich bin die Auferstehung und das Leben, wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe.“. Um aber glauben zu können, um zu diesem ewigen Leben zu kommen, müssen wir das irdische Leben haben. Darum ist dieses irdische Leben ein so hohes Gut. Denn nun ist die Zeit unseres Lebens samt allen Mühsalen und allem Jammer die darinnen sind, dennoch eine Gnadenfrist, die jedem fürs ewige Leben gegeben ist, eine teure kurze Vorbereitungszeit auf das entscheidende gewaltige Gericht. Nun denn du, der du dir selber oder einem andern das Leben nehmen willst, weißt du, was du damit tust? Du zerstörst nicht etwa ein irdisches Glück, erfüllst nicht etwa nur eine Familie mit Entsetzen und Grausen, damit, dass der Ihrigen eines plötzlich aus ihrer Mitte gerissen wird und mit Jammer in die Grube fährt, sondern mit frevelnder Hand greifst du in Gottes Regiment. Du schneidest mit dem Mord dem Menschen den Lebensfaden ab, den Gottes Hand gesponnen, den Er allein schneiden darf, dir oder deinem Nächsten verkürzt du die teure Gnadenzeit, schlägst ihn als eine unreife Frucht, wie ein böser Bube vom Lebensbaum der Menschheit herunter. In seiner Sünden Blüte vielleicht, ohne Buße und ohne Bekehrung sendest du ihn vor seinen Richter, der ihn noch nicht vor seine Schranken geladen hat. Welch grausiger Frevel! welche gen Himmel schreiende Sünde! Nein, du sollst Niemanden das köstliche Gut des Lebens nehmen, nach Niemanden den Todesstoß führen, und wenn er dich bäte und anflehte, wie Saul seinen Fahnenträger bat, dass er ihn töte; Gottes Wille soll dir über dem Willen des Menschen stehen. Ja, um des ewigen Lebens willen, ist dies arme irdische Leben solch ein hohes Gut und darum spricht der lebendige Gott, der keinen Gefallen hat am Tod des Gottlosen, sondern dass er sich bekehre und lebe, unter Blitz und Donner in jedes Menschen Herz hinein: Ich bin der Herr dein Gott! Du sollst nicht töten!
O, dass es alle wüssten, dass Alle ein Schrecken und Grauen erfasste bei dem Gedanken eines Mordes, dann brauchten wir nicht die andere Frage beantworten:
Unser Katechismus sagt: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserem Nächsten an seinem Leib keinen Schaden noch Leid tun, ihn weder mit Gedanken noch Worten, viel weniger mit der Tat schmähen, beleidigen oder hassen.“
Zunächst ist damit, Geliebte, der grobe Totschlag und Mord verboten. Ists davon Not zu reden, geschehen denn solche Dinge unter uns? Ach, dass sich Gott erbarme über unser armes Volk! Vergeht denn unter uns eine Schwurgerichtssitzung im Vierteljahr, ohne dass nicht einer oder nicht vier und sechs Totschläge gerichtet würden? Und von was für Morden müssen wir hören? Etwa bloß im Zorn und Trunk verübt, an Feinden? Nein, sondern von Morden, ausgeführt in schauerlicher Kaltblütigkeit, in ausgesuchter Rohheit; verübt von Eltern an ihren eigenen Kindern, die sie mitleidlos morden wie erst ganz kürzlich geschah; an Verwandten und Freunden, ja an Eltern von ihren Kindern. Wir lesen Berichte aus der Heidenwelt, in denen die unnatürlichen Gräuel derselben mit grellen Farben geschildert werden; hörens an (und manche sogar ganz behaglich und selbstzufrieden), wie die Neger oder Hindus ihre alten Eltern ins Wasser oder in den Busch tragen, dass sie durch Hunger oder Durst, oder von den wilden Tieren getötet werden; wir hörens, wie Väter und Mütter ihre Kinder lebendig einscharren, oder sie ersticken nach der Geburt, oder unter die Götzenwagen legen - das hören wir alles mit Entsetzen und Grausen. Und doch geschieht das immerhin in einem Zeitraum von Jahren, unter einem Volk, das über sechshundert Millionen Seelen zählt, unter Leuten, die nichts von Christo wissen, deren Religion oft den Mord befiehlt oder rechtfertigt, deren Götter selbst grausame Mordgestalten sind. Wie wäre es, wenn man nun auch für die Heidenwelt aus der Christenheit, etwa nur von Deutschland oder Frankreich, von den vierzig Millionen Menschen in jedem Land, alle Gräuel in Mord und Totschlag, die in einem Jahr vor die Gerichte kommen, in ein Buch zusammendrucken wollte und hineinsendete? und oben daran schriebe: das sind die Leute, die die wahre seligmachende Religion haben, denen das Licht aufgegangen ist in der Finsternis, die einen liebenden barmherzigen Gott im Himmel verehren, dessen Wort und Gesetz laut ruft: du sollst nicht töten! - Mit Schmerz frage ich, was würde die Heidenwelt dazu sagen?
Was ist Schuld? „Die schlechten Gesetze,“ sagt Einer. „Die Leute werden nicht streng genug bestraft. In manchen Staaten gilt das Gesetz, dass, wo man nachweisen kann, dass ein Mord in der Hitze geschehen sei, ein solches Verbrechen mit ein paar Wochen Arbeitshaus gebüßt wird; oder wenn bewiesen wird, dass der Getötete etwa eine besonders weiche Hirnschale gehabt habe, die Strafe außerordentlich gemildert wird; daher kommt es, dass man keine Furcht mehr hat vor dem Arm der weltlichen Obrigkeit.“
Mag sein, dass in manchen Staaten die Gesetzgebung wirklich allzusäuberlich mit solchen Leuten fährt, und sich Mancher auf seinen Zorn oder wie sies heißen „Affekt,“ auf seine Tränen oder seine Lügen verlässt. Aber die wahre Schuld liegt viel tiefer; es ist keine Furcht vor dem Herrn im Himmel droben und vor seinem allmächtigen Arm mehr da, und darum auch keine Furcht vor dem weltlichen Arm. Es fehlt unserem Volk an dem Glauben an ein jüngstes Gericht und an ein ewiges Leben. Nehmt dem Menschen nur noch mehr den Glauben, dass er eine unsterbliche Seele besitze, wie auch sein Nächster; lehrt ihn, wie es jetzt in die Welt hineingedruckt wird in heillosen Büchern, dass der Mensch nichts anders sei, denn ein Tier, das sich seinen Unterhalt sucht und dann ohne Verstand von dannen fährt, und dann am Besten tut, sich nicht auf einem Kirchhof begraben zu lassen, sondern seinen Leib als Dünger auf den Acker zu legen - lehrt und predigt ihnen nur immerhin solche Grundsätze, und ihr werdet bald statt Menschen ein Geschlecht von reißenden Tieren haben, die jeden anfallen, von dem sie glauben, dass er ihnen zum Unterhalt dienen kann.
Einerlei ists aber, auf welche Art solcher Mord vollbracht wird; ob heimtückisch aus dem Hinterhalt, ob auf offener Straße, ob durch schnelles oder langsam schleichendes Gift, ob durch eigene oder fremde Hand, (wie David einst den Urias töten ließ) das Opfer fällt! Mord - ist Mord.
Und merkt wohl, gar Vieles, was vor dem weltlichen Gericht nicht als Mord gilt, ist in Gottes Augen, der die Gesinnung ansieht, dennoch Mord. Darum sagt auch der Katechismus: Wir sollen unserem Nächsten keinen Schaden noch leid tun.“ Einerlei, ob daraus der Tod folgt oder nicht; in Gottes Augen ists dennoch ein Mord. Josephs Brüder, die ihn töten wollen, und in die Grube werfen, sind dennoch Mörder; ebenso ist auch das Duell oder der Zweikampf, möge man ihn noch so sehr mit allerlei Gründen, die die vermeintliche Ehre eingibt, vor der Welt rechtfertigen, in Gottes Augen dennoch ein Mord. Möchten das Alle die bedenken, die so schnell, wenn sie ihre Ehre verletzt glauben, mit der Hand am Degen oder an der Pistole sind! Mögen sie, wenn sie glauben, dass der Vorwurf der Feigheit sie treffe, von einem Mann lernen, der wahrlich keine Feigheit kannte: das war Türenne, ein berühmter französischer Feldherr unter Ludwig dem Vierzehnten, der in unserem Lande bei Sasbach gefallen ist. Ihn hatte eines Tages einer seiner Offiziere, der sich von ihm beleidigt glaubte, auf Tod und Leben gefordert. Türenne stellte sich nicht, noch beantwortete er die Herausforderung. Darauf traf ihn jener Offizier und vergaß sich in seinem Zorn so weit, dass er seinem Feldmarschall als einem ehrlosen Feigling ins Angesicht spie. Ruhig wischte sich Türenne mit seinem Tuch den Speichel ab und sprach zu ihm: „Auf der Stelle würde ich Sie durchbohren, wenn ich diese Blutschuld so leicht von meinem Herzen wischen könnte, als diesen Speichel von meinem Angesicht.“ Beschämt sank der Offizier vor ihm auf die Knie und bat ihn um Vergebung. Türenne hob ihn auf und vergab ihm, wurde sein Freund und sein Vater. Siehe, das heißt: „Nicht töten.“
Mörderhände sinds ebenfalle, die sich wider den Höchsten erheben bei Spiel und Trunk; hier in der Stadt und draußen auf dem Lande bei den sogenannten unschuldigen Vergnügungen des Landvolks. Gottes Gnade ists, wenn nicht jeder Schlag ein Totschlag wird, aber wahr sagt unser Volk: „der Stein aus der Hand ist in Teufels Hand.“
Eine Blutschuld haben die auf dem Herzen, die einen Menschen zu Trunk und Unmäßigkeit verleiten, die der Frau den Mann und den Kindern den Vater dadurch langsam töten. Ists nicht schauerlich mitanzusehen, wie gerade solche Leute in ihrem Trunk bestärkt und dann in der Trunkenheit zum Spott und Schauspiel und zur Unterhaltung werden? Eine Blutschuld haben die auf dem Herzen, die ihren Mann oder ihr Weib, ihre Schwester oder Bruder im Elend verkümmern oder ihre armen Verwandten ohne Pflege dahinsterben lassen. Eine Blutschuld habender Priester und Levit, die den armen, unter die Mörder Gefallenen in seinem Blut liegen lassen, und der reiche Mann, dessen Hunde mit Lazarus Schwären mehr Mitleid haben als er; eine Blutschuld tragen Kinder, die ihren Eltern das Herz brechen, dass sie vor ihrer Zeit mit Jammer in die Grube fahren. Wahrlich, Gott wirds richten; Er erfüllt Sein Wort treulich, dass Er des Menschen Blut rächen will, als der Sein Bruder ist.
O furchtbares Gericht, das über jeden Mörder ergehet von Kain an, dem Vater aller Mörder; hörst du die markdurchschütternde Frage Gottes: Kain, wo ist dein Bruder Abel?“ eine Frage, die Gott jedem Mörder schauerlich nachruft; da hilft kein Entschuldigen, da hilft nicht die freche Rede: „Soll ich denn meines Bruders Hüter sein?“ Vor des Herrn Auge ist alles bloß und entdeckt. Siehst du den Kain hingehen mit dem Brandmal auf der Stirn unstet und flüchtig, ein Geächteter des Herrn, den Niemand töten, der dem verzehrenden inneren Selbstgericht seines Gewissens überlassen bleiben soll? Von seiner Tat hat das Volk eine so lebendige Überzeugung, dass sie nicht verborgen bleiben könne und sie ans Licht müsse, als eben von einer Mordtat. Die Heiden erzählen von Kranichen, die als stille Zeugen bei dem Mord eines Sängers vorüberzogen und dann in großer Versammlung des Volkes wiederkamen und mit ihrem eintönigen Sang der Mörder Gewissen weckten, dass sie ihre Untat bekennen mussten; und unser Volk redet von den Raben, die eines Einsiedlers Mord ans Licht brachten. Ja, eine Blutspur, eine verworrene Rede im Traum oder eine freche im Trunk, bringen das Geheimnis an den Tag. Draußen die fallenden Blätter im Wald wecken die innere Angst lebendiger auf; es ist als ob die ganze Kreatur, als ob die Erde sich gegen den Mörder verschworen habe und ihn nicht länger mehr leiden wolle. Ihm ists, alle ob alle Welt wisse, was er so geheim im Herzen trägt, als ob seine verstörten Züge sein Kainsmal wären, daran Jeder den Mörder erkennt.
Wunderbar ists, wie oft der Herr den geheimsten Mord ans Tageslicht bringt. Ein württembergischer Müller, welcher bis in dies Jahrhundert hinein lebte, saß eines Tages allein in seinem Zimmer. Da trat ein unbekanntes Weib herein und bot ihm Branntwein zum Verkauf an. Er wollte keinen kaufen. Sie drang wiederholt in ihn; er aber wie sie ebenso oft ab, dabei ließ er sein Auge fest auf ihr ruhen. Sie wurde unruhig und fragte weiter: „Was sieht er mich denn so an? Er braucht mich nicht so anzusehen! Ich habe nichts Böses getan!“ Der Müller hielt mit seinen Blicken fest auf ihr. Da rief sie aus: „Ich habe gewiss nichts Böses getan, schau er doch einmal weg; man meint ja, er wolle einen mit den Augen erstechen.“ Da der Müller seine Augen immerfort auf ihr ruhen ließ. brach sie in die Worte aus: „Ach, lieber Gott, lass er mich doch gehen! was will er denn von mir? Herr Jesus! Ich sehe schon, er weiß es. Ich wills ihm ja gerne gestehen! Ich habe eins gehabt!“ - „So? Eins hat sie gehabt!“ - „Ja, ein uneheliches Kind, aber mehr gewiss nicht!“ - „So, nur Eins?“ fragte der Müller und hielt sie fest mit seinem scharfen Auge. Diesem konnte sie nicht widerstehen. In der tiefsten Angst rief sie aus: „Woher weiß er denn Alles?? Ja, freilich habe ich zwei gehabt, aber sage Ers um Gottes Willen Niemanden. Ich habe den Kindern gewiss nichts zu Leide getan, gewiss nicht!“ So! Nichts zu leide getan?“ „Herr Jesus im Himmel!“ rief sie aus; „nein, ich habe eins das von erstochen! Was ist denn das für ein Mann? Gott behüte einem vor diesem Mann!“ Damit stürzte sie zum Haus hinaus und war verschwunden, ehe sich der Müller besinnen konnte, was zu tun wäre.
Und das ist doch nur ein menschliches Auge; was für eine Kraft aber wird erst des Herrn Flammenblick an jenem Tag haben? Ob eines unter euch ist, das solche Blutschuld, solch brennendes Feuer im Busen hat - ich weiß es nicht! Aber das weiß ich, dass ein Tag kommt, vielleicht noch hier, wo ihm das Bild des Gemordeten mit seinen Wunden klagend vor der Seele steht. Bei seinem Tod wirds ihm sein, als ob eine Hand da wäre, die dem Tode wehrt, ihn wegzunehmen, wo eine Angst über ihn kommt, die ihn nicht leben noch sterben lässt. Und wo dies aber nicht wäre und längst schon das Gras über dem Grab des Mörders und des Ermordeten wüchse - wahrlich es kommt eine Zeit, da wird die Erde beben, und aus den Gräbern wird der Mörder mit dem Ermordeten aufstehen, wenn er tausendmal seinen Sarg zuhalten wollte. Bor Gottes Angesicht und vor seinen aufgeschlagenen Schuldbüchern wird er erzittern und seine Schuld bekennen. Darum, wer eine solche Schuld auf sich hat, der bekenne sie; mag daraus folgen, was da will. Das Leben ist der Güter höchstes nicht, aber der Übel größtes die unbeweinte Schuld. Höher als das irdische Leben steht das ewige Leben, das ein bußfertiges Herz ergreifen darf. Naht euch zu dem, dessen Blut besser redet, denn Abels Blut, und der da spricht zu den bußfertigen Herzen: „Siehe, ich tilge deine Sünden wie einen Nebel; wenn deine Sünde gleich blutrot wäre, so soll sie dennoch schneeweiß werden!“
Wo ihr euch aber nicht solche Blutschuld vorzuwerfen hättet, könnt ihr damit schon diesem Gebot frei ins Angesicht schauen? Wer wagt es, zu sagen, dass er hierin ohne Sünde sei? Wer will den Stein auf die Mörder werfen? Gibts denn nur einen Mord mit dem Stahl und dem Gift? Geht denn das „Du sollst nicht töten“ nur die Hand an? Du hast ein Schwert, das ist, ach so scharf und zweischneidig, das verstehst du so gewandt und so grausam zu führen; das verwundet bis in die tiefste Seele hinein. Kennst du dieses Schwert? das ist deine Zunge. „Verstehst du, wie ein treuer Zeuge sagt, die saubere Kunst, durch Schimpf oder Scheltwort oder Spott und Vorwurf den Nächsten so zu treffen, dass ihm das Lachen vergeht,“ dass ihm das Blut ins Gesicht schießt und die Tränen in die Augen treten, dass er in Jahr und Tag noch das Wort nicht vergisst, das ihm durch und durch gefahren; da brauchst du ja kein Schwert, ihn zu verwunden. - Und verstehst du die Kunst, mit freundlicher, honigsüßer Rede ihn zu Dingen zu bewegen, die ihm Zeitlebens zu Jammer und Herzeleid ausschlagen müssen, so brauchst du keinen süß eingehenden Gifttrank, der ihm hintennach zum Tod wird, und kannst doch ein Mörder werden. Sage mein Christ, bist du dir darinnen nichts bewusst? Von deiner Zunge weg geht dies Gebot fragend auf dein Gesicht und deine Gebärde; ehe Kain seinen Bruder Abel erschlug, heißt es von ihm, „es ergrimmte Kain sehr und seine Gebärden verstellten sich.“ So sagt Hiob: „der mir gram ist, beißt die Zähne über mich, und mein Widersacher funkelt mit den Augen auf mich.“ Wie wenn ein Wetter grollend aufzieht, sich zuerst der Himmel verfinstert und fernes Wetterleuchten kommt, und dann der zündende Blitz und Donnerschlag aus der Wolke herausfährt, so verfinstert sich auch, ehe du deinem Nächsten ein Leid zufügen willst, der Himmel deines Angesichtes. Die zusammengezogenen Falten und Augenbrauen, das sind die dunkeln Wolken, die funkelnden Augen schleudern die wetterleuchtenden Blitze, bis endlich der zündende Schlag, seis mit dem Wort oder mit der Hand herausfährt; denn die Gebärden sind des Herzens Fenster, durch die man schaut, wie es drinnen aussieht. Dort lasst uns noch hinunter steigen; dort ist die rechte Mördergrube, die geheime Werkstätte und Rüstkammer, wo die Waffen für die Gebärden, für die Zunge und für die Hand geschmiedet werden.
Der Heiland nennt den Teufel einen Mörder von Anfang an: nachdem er unsere ersten Eltern innerlich getötet, ist die erste schauerliche Sünde, der Brudermord Kains; und unter den „argen Gedanken, die aus dem Herzen kommen,“ wird wiederum zuerst der Mord genannt. Darum sagt Luther wohl recht: „Der Herr erkennt unser Herz und Natur aus der Maßen wohl und gedenkt also: Sie sind allzumal Mörder und Totschläger und ist Keiner, der nicht habe einen Bluthund im Busen, darum muss ich sie gleich wilden Tieren versperren, verriegeln, mit eisernem Gitter vergittern und mit starken Mauern umschließen, dass sie sich nicht untereinander würgen und großen Schaden tun. Da lerne nun erkennen, was die Welt für ein Kind ist.“
Und weißt du, wie diese Tiere heißen? Sie heißen Zorn, Hass und Neid, Schadenfreude und Rachlust. Sie sind in Gottes Augen ebenso strafbar und schuldig als der Mord. Denn eben aus ihnen kommt der Mord. Die Giftwurzel trägt die Giftblüte und die Giftfrucht. Was nützt es dich, die Giftblüte abzuhauen, wenn du die Giftwurzel im Herzen stecken lässest. Der Hass und der Zorn sind solche Giftwurzeln; sie sind glimmende Kohlen, die still unter der Asche liegen, und der Wind, auf den sie warten, ist die Gelegenheit. Wie nährt doch Mancher einen solchen Hass und Zorn gegen seinen Nächsten jahrelang in seinem Herzen, wie verpflanzt er ihn wissentlich und vermacht ihn gleichsam im Testament seinen Kindern und Kindeskindern! Der Zorn, sagt Luther, ist ein wildes Tier wenn mans die Kette zerreißen lässt, muss man auf großes Unglück gefasst sein. Darum ruft der Herr: „Lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen,“ und sein heiliger Apostel: „Wer seinen Bruder hasst, der ist ein Totschläger, und ihr wisst, dass ein Totschläger nicht hat das ewige Leben bei ihm bleibend!“ Gnade und Erbarmung ist es, wenn der Herr nicht jeden Funken zum Feuer werden lässt, wenn nicht jeder Todesgedanke wider den Nächsten ein Totschlag wird. Darum kniete einst der selige Doktor Boerhave, als neben ihm ein Mörder zur Richtstatt geführt wurde, überwältigt von der Barmherzigkeit Gottes nieder und rief: „Solch ein Mensch wäre ich auch geworden, wenn mich nicht Gottes Gnade behalten hätte.“
Neben dem Zorn und Hass steht auch der Neid als Anfang des Totschlags. Aus dem Neid heraus, dass Abele Opfer besser war denn seines, kam Kains Mord. Lässt du den Neid in dir groß werden, so hast du nicht weit zum Mord. Wenn du aus Missgunst deinem Nächsten eine Krankheit oder den Tod auf den Hals wünscht, was bist du anders denn als ein Mörder? So du dich freust über deines Nächsten Fall, oder gar noch herfällst über ihn und mit hinunter stoßen hilfst, ihm vollende noch alle Ehre nimmst, hast du auch nicht weit zum Mord; wenn die Rachegedanken in dir auf- und niederwogen; mit dir aufstehen und mit dir schlafen geben; wenn dir die Gedanken kommen, „wie du mir, so ich dir,“ und: „Wiedervergelten ist auch kein Unrecht,“ da hüte dich! Gedenke, dass der Herr spricht: „die Rache ist mein, Ich will vergelten;“ wo du aber das nicht bedenkst, da werden mit einem Mal die Rachegedanken zu Rachetaten werden, die dich in tiefes Elend stürzen. Überhaupt, meine Teuren, steht es mit der Sünde nicht so, dass man etwa sagen könnte, „bis hierher will ich gehen und weiter nicht“, dass man etwa meint, die bösen Gedanken wider den Nächsten schadeten nichts, wenn sie nur nicht zu bösen Taten würden, sondern es steht also, dass wer Sünde tut, nach dem Wort der Schrift „der Sünde Knecht wird.“ Wer seinen Zorn nicht durch Christi Kraft tötet, hat zuletzt nicht mehr den Zorn, sondern der Zorn hat ihn. Wie man auch ganz richtig sagt: „Er ist seiner nicht mehr Herr gewesen,“ „der Zorn hat ihn übermannt;“ und so stehts mit dem Hass, dem Neid und der Rache auch. Fassen wir nun zusammen, was der Herr mit diesem Gebot uns sagt, wird jemand vor ihm bestehen? Oder wird es uns nicht gehen, wie jenem Neger, der einen Missionar eines Tages mit vielen andern diese zehn Gebote Gottes erklären hörte, und am folgenden Tag dem Verkündiger des Evangeliums gestand: „Ihr spracht von den zehn Geboten. Ihr begannt mit dem ersten und ich sprach zu mir selbst: ich bin schuldig; beim zweiten: ich bin schuldig; ebenso beim dritten und vierten. Da spracht Ihr vom fünften: du sollst nicht töten; ich sagte: da bin ich nicht schuldig, ich habe nie einen Menschen getötet. Aber Ihr spracht: ich denke es leben hier Viele, welche sagen: wir sind dessen nicht schuldig. Hasstet ihr denn nie einen Menschen? Wünschtet ihr nie, dass dieser oder jener Mann diese oder jene Frau gestorben wäre? Herr, Ihr spracht viel darüber, und ich kann es Euch nicht mit Worten sagen, was ich dabei fühlte. Ich griff in mein Herz und sagte: ich bin es, von dem er hier redet. Mein Herz fing an zu schlagen, ich hätte schreien mögen; Herr, es war mir, als hätte ich zehn Menschen vor dem Frühstück getötet. Ich hatte nie gedacht, dass ich so schlecht sei.“ O, dass uns Allen so das Gebot des Herrn zu Herzen ginge: du sollst nicht töten!
Des geistlichen Mordes, da man den Andern auf falsche Wege führt und seine Seele tötet, lasset mich beim sechsten Gebote gedenken.
Nur eine Versündigung lasset mich noch anführen, die nicht am fremden, sondern am eigenen Leben geschieht; ich meine den Selbstmord. Der Herr schaue darein, wie furchtbar er sich mehrt, auch in unserem Land und namentlich in den Städten. Dort sinkt Einer in stillen Wahnsinn oder in Trübsinn; in einer schweren Stunde nimmt er sich das Leben. Hier lasst uns beten für ihre und für unsere Seele, dass er uns vor solchem Jammer bewahre. Wahr ists, was Jemand gesagt hat, dass man nach jedem Gang in ein Irrenhaus gleich darauf in die Kirche gehen sollte, um Gott zu loben, dass Er uns vor solchem Jammer bewahrt hat. Aber dort sieht ein Mensch ein kleines Leid heran kommen, das wie ein Berg sich um seine Seele lagert; er sieht keinen Ausweg mehr; er hat den Glauben verloren, der Berge versetzen kann, und so geht er hin und nimmt sich sein Leben. Dort nimmt sich einer aus falscher Ehre sein Leben, weil er den Fall seines Hauses nicht überleben will. Und die Welt steht dabei und kanns nicht genug loben und preisen, wie edel das gehandelt sei! Wie tief ist das sittliche Urteil des Volkes gesunken! Dort tritt ein Sohn vor Vater und Mutter, begehrt die Einwilligung zu seiner Ehe, die Beide nicht geben wollen noch können; im Trotz wendet er sich weg und siehe, des Nachts kommt er vor das Bett von Vater und Mutter; zitternd, mit dem Tod im Herzen, bittet er sie um Vergebung ach, er möchte noch leben, aber er kann nicht mehr; tot sinkt er zu ihren Füßen nieder, er hat im Trotz ein Gift genommen, das seinem Leben ein schnelles Ende macht.
Dort hat ein Mensch in der Schande gelebt, sein Vergehen ist offenbar geworden, nun will er die Schmach nicht überleben, in den Fluten des Rheins hat er sich sein kühles Grab gegraben. Mitleidiger mit ihm und den Seinigen, spülen ihn die Wogen ans Land, dass er doch eine stille Kammer zu seiner Ruhe habe. Dort ist ein Anderer seines Lebens überdrüssig geworden; er hat den Freudenkelch dieser Welt bis auf den letzten Tropfen geleert und nun ist ihm alles schal und ekel. Das Leben widert ihn an und so nimmt er es sich denn auch. Wer kann anders, alle mit Schauern die Worte so mancher Menschen anhören: „Ich nehme mir noch das Leben“ „ich tue mir noch den Tod an!“ O, wenn Eines unter euch ist, das der Herr in diese Kirche geschickt hat, das mit solchen finsteren Gedanken umbergeht, sich das Leben nehmen zu wollen - euch frage ich im Namen meines Gottes, im Namen des Gottes, der euch euer Leben geschenkt und es einst von euch fordern wird: - Wohin wolltet ihr, ihr armen Seelen? Ihr wollt heraus aus der Nacht eurer Leiden und eurer Sünden, und wohin? Mit Judas Ischarioth in die ewige Nacht der Verdammnis. Ihr wollt aus der Armut und wohin? In die ewige Armut hinein. Wollt ihr dem lebendigen Gott entrinnen? Ihr lauft ihm ja ungerufen in seine Hände. „Schrecklich aber ist es in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.“ Wollt ihr euch etwa mit Gottes Erbarmen und Nachsicht trösten? Nur der kann sich dessen getrösten, der seinen Willen tut. Sein Wille aber lautet: „Du sollst nicht töten.“
Du brauchst aber nicht die Mordwaffe gegen dich zu wenden, um ein Selbstmörder zu werden. So du hineingehst in den Sündenschlamm, durch Trunkenheit und Unzucht deinen Leib verdirbst; durch wilde Leidenschaften, durch Zorn und Habgier, durch Geiz und Ehrgeiz, durch gottloses Sorgen und Grämen dir dein Leben verkürzt, so bist du in Gottes Augen ein Selbstmörder. „Wer ihm aber selbst Schaden tut, den nennet man billig einen Erzbösewicht,“ und wer seinen Leib, den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben.“
Lasst mich schließen. So steht denn dieses Gebot vor uns in seinem majestätisch furchtbaren Ernst. Nur eine Frage noch, meine Teuren.
Bist du ein Mörder? so hat einst ein seliger Zeuge der Wahrheit in Paris in die Kirche hineingerufen und stille und stumm wurde es in der Gemeinde. Und in diese Stille hinein ist er hervorgetreten mit dem Bekenntnis eines Mordes und eines Totschlages, den er selbst begangen: „Ich habe meinen Herrn gekreuzigt!“ so rief er weinend in die Gemeinde hinein. Ja, das ist der Mord, den wir Alle auf der Seele haben, von dem Paul Gerhard singt:
Ich, ich und meine Sünden,
Die sich wie Körnlein finden,
Des Sandes an dem Meer;
Die haben dir erreget,
Das Elend das dich schläget,
Und deiner Martern großes Heer.
Sein Kreuz auf Golgatha ist ein unumstößliches Zeugnis wider uns, dass wir ein Totengeschlecht - und wie stark es auch klingen mag - ein Mordgeschlecht sind; denn unsere Mordgedanken, unser Hass und unser Zorn haben Ihn ans Kreuz gebracht. Aber sein Todesbild ist zugleich auch das Liebeszeugnis Gottes für uns, der seinen einigen Sohn in den Tod gegeben, damit wir durch seinen Tod leben sollten. „Du sollst nicht töten,“ hat der Herr einst der Welt unter Blitz und Donner zugerufen und siehe, sie hat den einzigen Gerechten, den Sohn, der in sein Eigentum kam, ans Kreuz geheftet und seine Seite durchbohrt; aber hier gilt im tiefsten, großartigsten Sinne das Wort Josephs: „Ihr gedachtet es böse zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.“ Aus seinen Wunden kommt die Heilung und aus seinem Tod das Leben. So kommet denn, ihr Toten, und nehmt das ewige Leben und kauft die teure Gnadenzeit eures Lebens aus; nehmt in dem Leben, das vom Kreuzesstamm fließt, „auch die Liebe zu den Brüdern, die das Zeugnis ist, dass ihr aus dem Tod in das Leben gekommen seid.“ Dann sind wir kein Totengeschlecht mehr, dem man zurufen muss: „Du sollst nicht töten,“ sondern ein Lebensgeschlecht, das zu Bruder und Schwester und auch zum bittersten Feind mit jauchzendem Munde spricht: Halleluja! das Leben ist erschienen! ich lebe und du sollst auch leben! Amen.