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Dräseke, Johann Heinrich Bernhard - Vor dem Pfingstfeste.

Versammelte Christen!

Auf einen Bibelspruch, der euch, schon als kleinen Kindern, geläufig war, lasst mich diesmal eure Gedanken richten, das Wort Pauli: „dass Christum lieb haben viel besser ist denn alles Wissen.“

Einfacher, das werdet ihr gestehen, kann nichts sein, als dieser Gedanke. Dennoch durchdringen ihn vielleicht nur Wenige. Viele pflegen ihn gänzlich zu missdeuten.

Die den Gedanken offenbar missverstehen, meinen: der Apostel erkläre damit eine Geringachtung gegen das Wissen überhaupt. Sie legen in seine Worte den Sinn: es komme bei dem Christen auf Erkenntnis gar nicht an, sondern lediglich auf die Liebe zum Herrn. Diese aber bedenken nicht, dass gerade Paulus ein „Wachsen in der Erkenntnis Gottes“, (Kol. 1,11.) ja, ein „Erfüllt werden damit in allerlei geistlicher Weisheit und Verstand“ (V. 9.) ausdrücklich zur Pflicht macht; dass er die Christen ermahnt, „stark zu werden durch Gottes Geist an dem inwendigen Menschen“, (V. 16.) wovon er das Wissen doch keineswegs kann ausnehmen wollen; und, was am meisten auffällt, dass er die Überzeugung: „Christum lieb haben, sei viel besser, denn alles Wissen,“ in den Gemütern nur zu wecken wünscht, damit sie durch dieselbe „erfüllt werden mit allerlei Gottesfülle.“

Die den Gedanken nicht durchdringen, ihm also nicht auf den Grund kommen, sondern nur halb ihn fassen, solche glauben: der Apostel setze bloß die Vorzüge des Herzens über die Vorzüge des Verstandes; seine Absicht sei, zu lehren, wie Frömmigkeit mehr gelte, als Klugheit, gute Gesinnung mehr, als große Einsicht, evangelischer Lebenswandel mehr, als sachkundiges Reden über Christum und Christentum. Diese deuten seine Worte nicht geradezu falsch. Aber in die Tiefe reichen sie nicht hinab.

Möchte es mir gelingen, Teuerste, euch diese aufzuschließen! Möchte ich euch genügend dartun können, warum, bei allem Werte, den das Wissen hat, und den es behalten muss, „Christum lieb haben“ doch unvergleichbar viel höher stehe, und warum uns die Hauptsache fehle, wenn uns dieses fehlt! Möchte besonders an eurem Herzen diese Betrachtung gesegnet sein, o ihr, die ihr erst vor kurzem, durch das Gelübde einer treuen Liebe, mit dem Erlöser der Welt euch feierlich verbunden habt!

Wirke denn in uns Allen, Du Heiligster! Dir öffnen wir unsere Seelen. Wirke, was vor Dir gefällig ist, durch Dein Wort; und lass uns, für Leben und Tod, in der Liebe die Deinigen sein. Amen.

Eph. 3,19.
Auch erkennt, dass Christum lieb haben viel besser ist, denn alles Wissen, damit ihr erfüllt werdet mit allerlei Gottesfülle.

Von einem „Alles wissen“ ist bei Menschen nicht die Rede, meine Zuhörer, auch nicht in diesen Worten. In der Ursprache behaupten sie lediglich: dass die Liebe zu Christo besser sei, als das Wissen.

Damit wir nun in diese Behauptung eingehen, müssen wir uns vor allen Dingen über die Liebe zu Christo, zwar nur mit Wenigem, aber genau und bestimmt, gegen einander verständigen.

Lasst mich denn, im Sinne des Apostels, von der Liebe zu Christo dreierlei voranschicken; nämlich: wovon sie ausgehe; worin sie ruhe; und wonach sie trachte.

  1. Wem das Eitle die Seele füllt, so, dass es der Hauptgegenstand ist seiner Gedanken, Bestrebungen und Freuden: der ist für die Liebe zu Christo noch nicht reif. Fühlen, dass dieser Hauptgegenstand ein anderer sein müsse, und ihn jenseits alles Sichtbaren und Irdischen suchen: das ist der wahre Ursprung der Liebe zu Christo. Hört Paulum bezeugen: „Glaube an den Herrn, Jesum Christum, so wirst du und dein Haus selig;“ (Ap.-Gesch. 16,31) das ist es, und darin liegt es. - Wir haben Christum gar nicht eher, bevor wir nicht ihn für den Quell unsers Friedens halten. Leuchtet uns das ein, es gehe nicht, und könne nicht gehen, ohne ihn: dann haben wir ihn gefunden. Und dann ist ihm folgen unausbleiblich. Absichtlich kann der Mensch sein eigenes Wehe nicht wollen. Er will sein Glück. Nur muss er wissen, wo er's zu suchen habe. Seinem Schatz wendet sich dann von selber das Herz zu. Fragt ihr also, wovon die Liebe zu Christo ausgehe? So ist die Antwort: von der Gewissheit: In Christo ist Heil; mein Heil; ich hab' es; in ihm hab' ich's, und nirgend anders.
  2. Wer das Heil fand, Teuerste, den Schlüssel zu des Lebens großem Geheimnis, den Leitfaden durch des Lebens labyrinthische Krümmungen, den Eingang in des Lebens höchste Güter: den entzückt der himmlische Fund. Er kennt für ihn keinen Preis. Er weiß nicht, was er ihm vorziehen, oder auch nur vergleichen möchte. Er räumt ihm unbedenklich und unwidersprechlich den Oberplatz in seinem Herzen ein. Darin besteht das eigentümliche Wesen der Liebe zu Christo. Hört Paulum bezeugen: Was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden geachtet. Denn ich achte es Alles für Schaden gegen die überschwängliche Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn.“ (Phil. 3,7.8.) Das ist es, und darin liegt es. Wir haben Christum gar nicht eher, bevor wir nicht ihn für das Kleinod aller Kleinode halten. Nur, wenn wir in diesem Maße seinen Wert würdigen, und uns verpflichtet fühlen, ihn, nicht etwa auch, und nebenher, sondern über alles zu lieben, in dem, und wie den, dessen sichtbarer Abglanz er war: dann lieben wir ihn wahrhaftig, und dürfen weder erröten, noch zittern, vor seinem Urteil: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt, denn mich, der ist mein nicht wert.“ Fragt ihr also, worin die Liebe zu Christo ruhe? So ist die Antwort: In dem Gefühle: Er ist das Höchste, was ich auf Erden und im Himmel besitzen kann. „Christus ist mein Leben, und Sterben, weil es zu ihm führt, ist mein Gewinn.“
  3. Wer solches Besitzes froh ist, Teuerste: der lässt ihn sich, einesteils, nicht wieder nehmen; es ist ja unmöglich, dass man wegwerfe, oder schlecht bewache, worin man sein Bestes und Liebstes hat; der fühlt, andernteils, dass in dies unvollkommene Leben nur die Anfänge solcher Herrlichkeit treten können, und zwar aus dem Grunde nur die Anfänge, weil sie selber so unausdenklich ist. Darum übt er sich denn in Allem, was sie fördern und mehren, und flieht Alles, was sie hindern und mindern kann. Auf diese Weise offenbart sich das ewige Streben der Liebe zu Christo. Hört Paulum bezeugen: „Was will uns scheiden von der Liebe Christi? Wir überwinden in Allem um des willen, der uns geliebt hat.“ Ja, wir warten sein. „Wir achten uns nicht, dass wir es schon ergriffen hätten; wir jagen ihm nach, ob wir es ergreifen möchten, das Kleinod, nachdem wir von Christo Jesu ergriffen sind.“ Das ist es, und darin liegt es. Wir haben Christum gar nicht eher, bevor wir nicht ihn und seine Gemeinschaft für das eigentliche Ziel unserer Tätigkeit halten. Wenn er uns das ist: dann treibt uns nur ein Geist, der seinige. Dann regiert uns nur ein Wille, der seinige. Dann beschäftigt uns in allen unsern Lebenswerken nur ein Werk, das seinige. Und was gegen ihn gleichgültig macht, was von ihm abwendet, was mit ihm zerfallen heißt: das ist ein Gräuel in unsern Augen. Fragt ihr also, wonach die Liebe zu Christo trachte? So ist die Antwort: Sie spricht: Ich will, ohne Wandel will ich, ich will bis ans Ende in seiner Gemeinschaft bleiben, und um in ihr zu bleiben, nach seinem Gebot tun.

In Christo alles Heil finden; den Fund über Alles schätzen; diese Schätzung durch Alles betätigen: das ist die Liebe zu ihm, die unser Text empfiehlt.

Wie leicht wird hiermit der Beweis werden, dass diese Liebe besser ist, als das Wissen!

Er gründet sich auf die doppelte Wahrheit:

  1. Christum lieb haben, ist des Wissens Krone;
  2. Christum lieb haben, ist des Wissens Quelle.

Beide Sätze fordern eine sorgsame Erwägung. Ich will sie daher trennen, und heute nur den ersten, den zweiten, so mir Gott hilft, am Pfingstfest, ins Licht sehen.

Christum lieb haben ist besser, denn das Wissen; denn es ist des Wissens Krone.

Das möge uns nun deutlich werden, andächtige Zuhörer.

I.

Das Wissen des Menschen ist ein doppeltes. Es ist erstlich ein Wissen um das Eigene. Es ist zweitens ein Wissen um das Fremde.

a. Der Mensch, welcher nicht um das Eigene weiß, das heißt, um sich selber, weiß nichts. Der aber weiß nicht um sich selbst, der nur weiß, wie er äußerlich gestaltet ist, und was er äußerlich hat, kann, bedarf. Ein Solcher erkennt nur die Oberfläche seines Daseins, sieht nur mit den Augen, schaut nur in einen Spiegel. Das eigentliche Ich ist der verborgene Mensch des Herzens. Da, in der Tiefe, sollen wir unser Wesen ergründen. Dies vermögen wir nur, wenn das Licht Gottes in die Tiefe hinabfällt. Das heißt: Unser höheres Selbst finden wir nicht eher, als bis wir Gott gefunden und in ihm unsern Zusammenhang mit der übersinnlichen Welt entdeckt haben. Im hellen Schein dieses Zusammenhanges wird uns klar, was all' unser Treiben und Vornehmen, unser Schalten und Walten, unser Herrschen sogar und Regieren auf Erden, uns nicht nachzuweisen vermag: wer wir sind und wofür wir leben, und wie Großem wir entgegengehen. Darum gehört das Wissen um dies Alles zu dem Wissen um uns selbst, und wir wissen um uns selbst nur, wiefern wir wissen um Gott und Göttliches. Darum aber auch ist das Wissen um uns selbst, um das im strengsten Verstande Eigene, wie es das Nötigste ist, dessen wir bedürftig sind, so das höchste, dessen wir fähig sind.

b. Wir sollen indes gleichermaßen um das Fremde wissen. Fremdes nennen wir, was nicht zu unserem Eigenen gehört; was also außer uns liegt, und außer unserem Zusammenhange mit Gott. Wir nennen dies das Fremde, oder die Welt, weil es, getrennt von unserem wahren Ich, demselben gegenübersteht. Dadurch, dass wir es in dieser Geschiedenheit von uns erblicken, würdigen wir es keineswegs herab. Wir nehmen es nur, wie es ist. Wir verstehen auch diese Geschiedenheit durchaus nicht so, als wollten, oder als könnten wir von dem Fremden uns lossagen. Beides findet nicht statt. Das Fremde berührt uns so mannigfach, so stark, so unaufhörlich, schließt sich so dicht an unsere erhabensten Zwecke, wird in so vielem Betracht für dieselben wohltätig oder doch brauchbar, dass wir gar nicht im Stande sind, es zu verkennen, sobald wir uns selbst erkannt haben. So gewiss es nur ein höchstes Wissen gibt für den Menschen, das Wissen um das eigene, um sein besseres Selbst, um Gott und Göttliches: so gewiss soll auch auf das Fremde, die Außendinge, die Welt und Weltliches, sein Wissen sich hinwenden, und dieses vielseitige Wissen dem höchsten Wissen eine angemessene Unterlage werden.

II.

Wollen wir nun den Satz erweisen: Christum lieb haben sei besser, denn das Wissen; denn es sei des Wissens Krone: so müssen wir zeigen können, dass es nicht nur des höchsten Wissens, sondern auch des vielseitigsten Wissens Krone sei.

Dies haben wir jetzt darzutun:

A. Zuerst also: Christum lieb haben, ist die Krone des höchsten Wissens.

Merkt auf folgende drei Sätze, die dies klar machen. Christum lieb haben, ist des höchsten Wissens

  1. Auffallendes Zeichen,
  2. Schönste Frucht,
  3. Erhabenster Zweck.

a. Christum lieb haben, ist vor allen Dingen des höchsten Wissens auffallendstes Zeichen.

Wisst ihr um euch selbst, meine Brüder, also um Gott und Göttliches: so wisst ihr zugleich, dass euer Wissen Stückwerk ist. Ihr sehnt euch mithin darnach, dass das Vollkommene komme, und wiefern es schon hier eintreten kann, schon hier eintrete. Nun gibt es aber bei Keinem befriedigendere Aufschlüsse über das Höchste, als bei Christo. „Niemand hat Gott je gesehen; der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoße sitzt, der hat ihn uns verkündigt.“ (Joh. 1,18.) „In ihm wohnte die Fülle der Gottheit leibhaftig.“ (Kol. 2,9.) Er ist gemacht von Gott den Menschen zur Weisheit.“ (1. Kor. 1,30.) „Es kommt Niemand zum Vater, denn durch ihn.“ (Joh. 14,6.) Wer daher unter uns Christum nicht lieb hätte: der gebe offenbar den Beweis, er wisse um sein höheres Selbst noch nicht; er stehe noch nicht unter des Geistes Einfluss; er sei noch nicht eingetreten in das Reich der Gnade. Wie ihr einzig an der Richtung, welche sie nimmt, und welche sie unter allen Umständen beibehält, die Magnetnadel erkennt und einzig an dem Triebe, womit er in sich saugt den Saft der Erde und die Ströme des Himmels und die Strahlen der Sonne und den Tau der Nächte, den lebendigen Baum: so erkennt ihr nur daran, das höchste Wissen habe bei euch begonnen, wenn ihr dürstet nach der Gemeinschaft Jesu und ewiglich zu ihm euch wendet und zum steigenden Licht seiner Offenbarungen.

b. Christum lieb haben, ist sodann des höchsten Wissens schönste Frucht.

Wisst ihr um euch selbst, meine Brüder, also um Gott und Göttliches: so wisst ihr zugleich, dass dieses Wissen, wie es aus Leben geboren ist, wieder Leben erzeuge. Es gibt keine von Gott über uns ausgegossene Erkenntnis, ohne einen zu Gottes Bilde sich verklärenden Wandel. Wo Klarheit im Geist ist, da ist Reinheit im Herzen; himmlischer Sinn, frommer Wille, sittliches Wirken. „Darin wird mein Vater geehrt, dass ihr viel Frucht bringt.“ (Joh. 15,8.) Allein, die schönste Frucht: welche ist sie? Es ist nicht eine einzelne Tugend; es ist das, woraus Alles sich entwickelt, „was wahrhaft, was ehrbar, was gerecht, was keusch, was lieblich ist, was wohllautet, was etwa eine Tugend und etwa ein Lob ist“: die Liebe. Und hier wieder ist es nicht die Liebe zu ihm, der das Haupt ist. Freilich, auch Christus ist eine Person, ist als Person ein Einzelwesen. Es ist der, welcher einst auf Erden gewandelt, gelehrt, gearbeitet, geholfen, geduldet, sich geopfert hat für die verlorene Menschheit am Stamme des Kreuzes, um bald zu entsteigen der scheinbaren Schmach und emporgehoben zu werden zur Rechten der Majestät in der Höhe: Der ist es, dem wir unsere Liebe weihen. Aber was lieben wir in ihm? Es sind seine Gesinnungen. Es sind seine Zwecke. Es ist sein Werk und sein Verdienst und sein Geist.

„Du, mein Jesus, sollst es sein,
Du, auf den mein Auge blicket.
Du bist mein und ich bin Dein,
Immer ganz und unverrücket.
Was Du liebst, will ich auch lieben:
Was Dich kränkt, soll mich betrüben.

Heißt es also bei euch und ist Alles dahin an euch gerichtet, dahin: dann sorgt nicht. Aus Christusliebe erwächst Tugendliebe und Menschenliebe, Volksliebe und Vaterlandsliebe, Gattenliebe und Geschwisterliebe, Freundesliebe und Feindesliebe. Alles, was ihr für die mancherlei Beziehungen und Kreise des Lebens brauchet, Großes und Schönes, Starkes und Zartes, Ernstes und Mildes, Weltbekämpfendes und Herzgewinnendes: Alles! es wird reif an der Liebe zum Herrn. Eine schönere Frucht, als diese Liebe, kann das höchste Wissen nicht tragen.

c. Christum lieb haben, ist endlich des höchsten Wissens erhabenster Zweck.

Wisst ihr um euch selbst, meine Brüder, also um Gott und Göttliches: so wisst ihr zugleich, dass dieses Wissen, im Lebensstrahl reif geworden, wiederum ein Kern, ein Keim, ein Stamm, ein blühender Baum des Lebens werden soll. Das höchste Wissen entquillt nur dem Leben, damit aus ihm wieder hervorströme schöneres Leben. Ein Wissen, vor welchem die Tat errötet, verachtet ihr. Versteht euch aber recht. Ihr wollt nicht die Tat, wiefern sie etwas Äußeres ist. Ihr schätzt an der Tat hauptsächlich und eigentlich das Innere, den Geist. Und welchen Geist verlangt ihr wahrzunehmen, wo die Tat von euch hochgehalten werden soll? Ihr findet keinen Geist ehrwürdig, als den Geist der Liebe, deren Gegenstand droben ist; es gilt gleich, ob ihr den Vater ihn nennt oder den Sohn. Und wenn ich mit Menschen- und Engelzungen redete, bezeugt ihr, und hätte der Liebe nicht: so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich weissagen könnte und wüsste alle Geheimnisse und hätte alle Erkenntnis und allen Glauben, also, dass ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht: so wäre ich nichts.“ (1. Kor. 13,1.2.) Liebe, und zwar die Liebe, die nicht abgeleitetes Bächlein, sondern die volle, heilige Mutterquelle ist; die Liebe, aus welcher alle Liebe stammt und in welcher alle Liebe sich reinigt, adelt, verewigt, die Christusliebe: sie ist des göttlichen Lebens Vollenderin, wie sie die Gebärerin ist. Fasst das Wunder! doch nein! das könnt ihr nicht; aber betet es an: Sie ist das A und das O, der Anfang und das Ende, die Wurzel und der Wipfel. Sie ist das Erste und Natürlichste, was der Geist Gottes in uns wirken muss, um weiter auf uns wirken zu können, und das Höchste zugleich und Herrlichste, was er durch alle Ewigkeiten in uns zu wirken und aus uns zu entwickeln vermag. Sie ist dabei für Keinen von uns, auch nicht für den Niedrigsten, Schwächsten, Einfältigsten zu hoch; und doch ist sie die Blüte aller Erscheinungen, aller Leistungen, aller Bestrebungen, aller Gesinnungen, das Köstlichste, wo hinauf wir ringen; wir können sagen: der Zweck aller Zwecke, das Ziel aller Ziele ist sie.

Christum lieb haben also, - es ist das auffallendste Zeichen, es ist die schönste Frucht, es ist der erhabenste Zweck des höchsten Wissens: darum kann es nicht anders, als des höchsten Wissens Krone heißen.

B. Bemerket nunmehr, wie Christum lieb haben die Krone des vielseitigsten Wissens sei.

Auch hier bedürfen drei Sätze eurer Prüfung. Ohne Christum lieb haben nämlich ist bei vielseitigem Wissen

  1. Kein wahrer Zusammenhang,
  2. Keine himmlische Richtung,
  3. Kein segnender Einfluss.

a. Es gibt bei vielseitigem Wissen zuvörderst keinen wahren Zusammenhang ohne Christum lieb haben.

Wie es nur einen Mittelpunkt der Welt gibt, Teuerste, den, in welchem alle Dinge leben, weben und sind: so gibt es auch nur einen Mittelpunkt alles Wissens von der Welt, aller Wissenschaft: Gott. Ohne Gott, ich meine: ohne Gott zu haben; und da nur in Christo Gott sich haben lässt, ohne Gott zu haben in Christo, können wir zur Wissenschaft, das heißt zu einem gründlichen, geordneten, in sich selbst ganzem Wissen nicht gelangen. Habt noch so viel Kenntnisse: stehen sie nicht mit einander in Verbindung; vermögt ihr das gegenseitige Verhältnis der Erscheinungen im Gebiete des Wissens nicht anzugeben: so wird in euren Begriffen, in euren Urteilen, in euren Einsichten und Ansichten immer eine große Verwirrung und ein auffallender Mangel an Haltbarkeit herrschen. Was habt ihr mithin nicht zu versäumen, da nur durch Zurückführung auf einen alles verbindenden Mittelpunkt in Zerstreutes und Verschiedenartiges Einheit und Ganzheit gebracht werden kann? Was habt ihr unter Allem, worüber ihr Belehrung suchet, und wovon ihr Kunde erlangtet, obenan, oder vielmehr in die Mitte zu stellen? Das Wissen von Gott, die Religion; die eine, die alle früheren und späteren entbehrlich macht: das Evangelium; und weil ihr des evangelischen Wesens und Lebens Beweis nur in der Liebe habt, in der Liebe zu eurem Herrn und Meister, diese. Sie gehört in die Mitte, in den Brennpunkt, dass sie stehe wie die Sonne eurer Welt und wie die Sonne eurer Welt wirke. Hat sie diesen ihr gebührenden Platz: dann strömt sie, nach Sonnenart, Licht und Wärme in Alles, was ohne sie weder Zweck, noch Sinn hat: dann bringt sie Gemeinschaft und Haltung in Alles, was ohne sie umherirren würde in zertrennten Kreisen und Bahnen. Mit ihr kommt Licht, mit dem Lichte kommt Einheit, mit der Einheit kommt Zusammenhang in euer ganzes Begreifen und Erkennen: auch darum ist sie, die Liebe, „das Band der Vollkommenheit“.

b. Es gibt bei vielseitigem Wissen überdies keine himmlische Richtung ohne Christum lieb haben.

Wohl kann der Mensch Mancherlei wissen und in Mancherlei bewandert sein, ohne dies. Aber, es gilt dann Alles nur der Erde, und ihren Zwecken ist es untertan. Für die Zeit und ihre flüchtigen Güter arbeitet die Hand, sinnt der Geist, glüht das Herz. Dem Staube frönt der Ackerwirt, der sein Feld baut, der Bürger, der seine Hantierung treibt, der Künstler, der seine Werke zur Schau stellt, der Staatsmann, der das Gemeinwesen verwaltet. Alles will leben, das heißt, in diesem Sinn Brot und Vergnügen haben; nichts weiter. Wo ist da die Richtung auf den Herrn? Sie ist nicht da. Wo ist das Herz voll Christusliebe? Ihr fragt vergebens. Dergleichen hält Niemand für nötig. Die Weltmenschen belächeln es wohl gar als Aberwitz und Überspannung, wenn man davon nur redet. Und doch soll Alles bei dem Christen diese himmlische Richtung haben. Es soll ihm Alles auf Erden nur Mittel, Bereitung sein zu dem, was die Ewigkeit ihm auftragen und enthüllen wird. Sogar essen und trinken soll und will der Christ nur zu Gottes Ehre. Kann er das, frag' ich euch, ohne Christum lieb zu haben? Wird ihm sein Können und Verstehen, sein Geschickt- und Erfahrensein, sein Witz und Scharfsinn, seine Gelehrsamkeit und Staatskunst, wird ihm dies und dergleichen als Stufe in eine höhere Ordnung der Dinge erscheinen; wird es christliches Gepräge haben; wird himmlisches Wesen daraus hervoratmen; wird die neue Kreatur daran zu spüren sein, wenn du seine Seele nicht erfüllest, heilige Liebe zu Jesu Christo?

c. Es gibt bei vielseitigem Wissen zuletzt auch keinen segnenden Einfluss ohne Christum lieb haben.

Viel wissen, heißt noch nicht viel nützen, meine Brüder. Es hat Mancher bei vielem Wissen und gerade durch vieles Wissen viel geschadet. Nicht selten sind die berufensten Vielwisser dem wahren Heil der Gesellschaft am allerverderblichsten gewesen. Man möchte sogar an das Staatsruder und auf einen Thron, wenn man die Wahl hätte, lieber einen Monarchen wünschen, der gar nichts wüsste und gänzlichen Mangel hätte an aller Geistesbildung, als einen, der viel wüsste, und dabei ein verkehrtes, ein dem himmlischen Wesen entgegengerichtetes Gemüt hätte. Habt Christum lieb: recht von ganzer Seele lieb: und Alles ist anders. Ihr werdet nie mit eurer Klugheit Missbrauch treiben, wie ein Kind mit dem Messer. Ihr werdet nie das Wahre und Heilige aus dem Leben hinweg vernünfteln wollen. Ihr werdet nie durch ein überwiegendes Maß von Geistesschärfe oder Geistestiefe gemeinen und unwürdigen Zwecken Vorschub zu leisten begehren. Euch gilt eines. Und dies Eine in Allem, weil es euch über Alles gilt: Christum lieb haben. Darum mögt ihr nichts mehr und nie weniger, als: Gott dienen und Menschen nützen. Immer steht bei euch Etwas noch über dem Gelehrten, dem Kaufmann, dem Künstler, dem Hauswirt, nämlich der Christ; und der Verstand geht all euer Leben lang in die Schule bei dem frommen Herzen. Je mehr ihr, bei dieser Eigentümlichkeit eurer inneren Verfassung, wisst: desto besser fährt bei eurem Wissen die Welt; denn, desto reichere Mittel habt ihr zur Beförderung der Zwecke des Himmels und zur Vermehrung der Wohlfahrt eurer Mitgeschöpfe. Euer Wissen ist keine Geißel, die ihr schwingt; es ist ein Friedenszweig, den ihr vor euch her tragt, oder ein Hirtenstab, mit welchem ihr die Welt weidet; gleichviel, ob die Welt, die ihr zu weiden habt, ein Staatenbund, oder eine einzelne Stadt, ob sie ein Palast, oder eine Hütte, oder nicht einmal eine Hütte, sondern ein dermaßen unbedeutender Geschäftskreis ist, dass er, auch in der Hütte, kaum bemerkbar wird.

Teuerste!

Wie glücklich seid ihr durch eure Liebe zu Christo! Und wie Glückliche werdet ihr machen, wenn sie euch leitet!

Eltern und Kinder, Jünglinge und Jungfrauen! Wie herrlich seid ihr durch eure Liebe zu Christo! Und wie viel herrlicher noch werdet ihr einst sein, wenn sie euch bis in den Tod nicht verlässt!

Darf man euch Bildung absprechen; oder darf man eurem Verstande misstrauen; oder darf man euren Witz fürchten; oder darf man vor dem Übergewicht eures Geistes zittern, wenn ihr Christi Geist habt? gehet hin und verkündigt die Gemeinschaft dessen, bei dem euer Herz ist. Geht hin und zeugt mit dem Apostel: Christum lieb haben, sei besser, denn alles Wissen; denn es sei des höchsten und vielseitigsten Wissens Krone. Geht hin und „haltet was ihr habt, auf dass euch Niemand eure Krone nehme.“ Amen.