Dräseke, Johann Heinrich Bernhard - Ein schönes Abendgebet.

Über Matth. 23, 37.

Einen guten, heiligen Morgen wünscht euch allen, Geliebte, meine Seele. Amen.

Das Lied, welches wir soeben gesungen haben, trägt, besonders in seiner Urgestalt, - so, wie es vor länger als anderthalbhundert Jahren der gemütvolle Paul Gerhard in die Welt ließ, das Gepräge von der Frömmigkeit unserer Alten in vorzüglichem Grade an sich. Ganz, wie diese, atmet es einen dreifachen Geist; Einfachheit, Kräftigkeit, Fröhlichkeit.1)

Die Religion nämlich war bei unsern Alten nicht Prachtanzug für den Sonn- und Feiertagsschmuck allein; sondern Hauskleid für den täglichen Gebrauch. Niemand konnte ihrer entbehren; und auch ohne Zierrat war sie Jedem recht. Sie sollte nicht glänzen und gleißen. Sie sollte nur gut passen und warm sitzen und völlig taugen für das Alltagsbedürfnis. Außer dieser Einfachheit hatte die Religion damals eine unverkennbare Kräftigkeit. Sie war, wie unsre derben, biederen Vorfahren selbst, voll Saft und Trieb, immer grün und frisch, und siechte nicht in müßigen Gefühlen, sondern drang in alle Äste, Zweige und Reiser des Lebens befruchtend ein. Wo und wie hätte, unter solchen Umständen, irgend eine menschliche Angelegenheit den Einflüssen der Religion sich entziehen können! Dessen ungeachtet verdüsterte sie unsre Alten nicht und gab ihnen kein mürrisch-grämelndes Ansehen. Vielmehr machte Kindlichkeit, und was von dieser unzertrennlich ist, Fröhlichkeit, den Charakter ihrer religiösen Stimmung aus. Glauben war ihnen so natürlich, als atmen. Sie glaubten gern: darum glaubten sie leicht, wie die Kinder. Und mit eben so viel Freudigkeit, als Ehrfurcht traten sie in das Heiligtum des Evangeliums.

Dieser dreifache Geist, meine ich, haucht, wie in allen Kirchenliedern der früheren Zeit, so in unserem Morgenliede.

Aber niemals und nirgends habe ich ihn zarter und doch gewaltiger, gewaltiger und doch zarter gefunden, als in einem unvergesslichen Verslein, mit welchem mich, als ich noch Kind war, meine selige Mutter gewöhnlich zur Ruhe brachte, und das mir auf meinem Krankenbette gar nicht aus dem Sinn kommen wollte. Es hieß also:

„Breit' aus die Flügel beide,
Jesu! meine Freude!
Und nimm Dein Küchlein ein.
Will Satan mich verschlingen:
So lass die Engel singen:
„Dies Kind soll unverletzet sein!“„

Geliebteste! ich fühl' es, ich kann nichts Besseres tun; ich kann, zumal in dieser Woche, in der Nähe des himmlischen Kinderfestes, nichts Angemesseneres und Christlicheres tun, als euch einschauen lassen in dieses Versleins Reichtum und Herrlichkeit. Als ich es lernte und fromm der betenden Mutter nachsprach: da fasste ichs noch nicht. Mich vergnügte der liebliche Klang, der Sinn war mir verborgen. Jetzt aber, jetzt kenne ich ihn und habe ihn und fühle mich in dem Besitze selig. Darum muss ich meine Seligkeit mit euch teilen.

Nehmt, was ich darbiete, fromme Hörer.

Und möge Gott diese Augenblicke, das flehe ich zu ihm; beitragen lassen, dass wir seinen Sohn lieber gewinnen, und die Liebe, mit der wir geliebt worden sind, ahnen, und den Reichtum, der uns zugedacht ist, erkennen, und den Wunderglanz inne werden, der von unserem angegebenen Haupte ausgeht. Matth. 23, 37.

Jerusalem! Jerusalem! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel! Und ihr habt nicht gewollt.

In den mitgeteilten Worten, meine Zuhörer, haben wir vielleicht das allerrührendste Bild vor uns, dessen der Heiland sich jemals bedient hat, um die Zärtlichkeit zu bezeichnen, mit welcher er seinem Volke ergeben war.

Ohne Erinnern bemerkt ihr zugleich, dass es dasselbe Bild ist, in dessen Anschauen die fromme, zutrauensvolle Seele versinkt, wenn sie betet: Breit' aus die Flügel beide, O Jesu usw. Lasst uns nun aus der Fülle dieses kleinen und doch so reichen Gebetleins schöpfen.

In Bildern, Christen, entfaltet sich uns das Unbeschreibliche. So entfaltet sich uns die unbeschreibliche Liebe Jesu.

Er nennt sich das Brot des Lebens: da sehen wir seine Liebe, wie sie uns nährt; oder den Weinstock: da vergegenwärtigen wir uns ihre Erquickungen; oder den Hirten: da bietet sich uns ihre leitende Hand dar; oder den Fels, auf dem fest unser Haus stehe, wenn der Platzregen fällt und die Winde brausen und die Gewässer kommen: da fühlen wir ihre heilige, über allen Wechsel erhabene Zuverlässigkeit.

In dem Bilde nun, das uns heute mit himmlischer Anmut zulächelt, erblicken wir die Liebe, wie sie sich vergisst, um wohlzutun, zu pflegen und zu schützen. Mit einer Mutter vergleicht sich Jesus. Ein höheres Urbild der Liebe, als ein Mutterherz, hat die Natur nicht. Um aber jede Verirrung auszuschließen, welcher die Natur in der Menschenwelt wohl unterworfen ist, wählt Jesus ein Tier. „Wie oft, ruft er, habe ich eure Kinder sammeln wollen, wie eine Henne die Küchlein sammelt unter ihre Flügel!“ Seht! Sie denkt nicht an sich, die treue Henne. Nur für die Kleinen hat sie das schirmende Gefieder. Diese herbeirufen und bedecken und hegen und wärmen und schützen und verteidigen: das will, das muss sie. Und ist eines, welches der ausgedehnte Flügel nicht fasst: o wie strecken sich dann die äußersten Federn zitternd hervor, um für alle hinzureichen!

Und sie wird verstanden, diese Liebe; sie wird genossen und erwidert.

Der Bund des Herrn ist einer frommen Seele nicht gleichgültig, noch weniger lästig und drückend; er ist ihr höchstes Gut. Ob sie denken mag an das, was der Herr ihr verheißt, oder an das, was er von ihr fordert: sie ruft: O Jesu, meine Freude!, Und dass sie glauben soll, ohne zu zweifeln, und vertrauen, ohne zu wanken, und gehorchen, ohne zu klügeln, und wohltun, ohne zu rechnen, und verzeihen, ohne zu grollen, und dulden, ohne zu murren, und einbüßen, ohne zu trauern, und sterben, ohne zu zagen: das dünkt ihr nimmer übertrieben, oder hart. Es ist ja sein Gebot, sein Beispiel und seines Bundes einzige Bedingung. Herr! wenn ich dich nur habe, denkt sie; wenn ich dich, Herr, nur finde: dann leuchtet mir die Nacht, wie heller Tag, und Finsternis ist, wie das Licht.

Aber freilich; bei ihm muss sie sein. Ohne ihn wird ihr bange; und heimlich Grauen fällt in ihre Brust.

„Breit' aus die Flügel!“ bittet sie.

Wie leicht verletzt ist auch das zarte Küchlein! Wie oft gefährdet! Und wie viel bedroht!

Dem Küchlein gleichen wir. Ach! Wie bald kann der Schmelz der Unschuld von unserm Dasein abgestreift, wie bald der keimende Glaube erstickt, wie bald der junge Entschluss gebrochen, wie bald die innere Ruhe zerstört werden! Wie ist die Sinnlichkeit so schlau, der Reiz so groß, die Leidenschaft so stark, die Welt so vielgestaltig, das Unrecht so geschmückt, das Beispiel so ermunternd, der günstige Anlass so verführerisch, der Feinde Zahl so furchtbar, so gerüstet, das Herz so schwach und doch so dreist! Reicht unsre Kraft da hin zu unserer Rettung?

Seht! Sie kehren um, die zerstreuten Küchlein, sobald sie ihnen fehlt, die treue Hüterin. Sie wissen, denn sie hören die wohlbekannte Stimme, wo sie ist; und den Weg dahin wissen sie auch.

Auch bei uns kann das heilige Gefühl von der Nähe Jesu, das uns hier so ruhig und so selig macht, sich verlieren im Gewühl des Lebens und für Augenblicke wie entflohen sein. Aber die fromme Seele ruft ihn zurück, den Schutzengel, ohne welchen sie nichts vermag. „Bist du gleich von mir gewichen, stellst du dich doch wieder ein!“ das erfährt sie nach solchen Augenblicken. Nie ist es ihr klarer und nie gewisser, was ihr die Gemeinschaft des Herrn ist und wie unentbehrlich und wie teuer, als wenn sie ihn irgend einmal nicht hatte, oder doch nicht ganz hatte. Und darum kehrt sie nur zärtlicher zurück. Darum eilt sie, fester das Band zu knüpfen. Darum ruft sie: Breit' aus die Flügel beide, ihr ist an einem nicht genug, breit' aus die Flügel beide! Überschüttet wünscht sie zu werden mit dem ganzen Reichtum seiner Liebe. Umgürten will sie sich mit allen seinen Waffen. Besitzen möchte sie den ungeteilten Vorrat seiner Kraft und seines Lichts und seines Trostes und seines Friedens, um alles, alles zu vermögen, und zu ertragen, und zu überstehen, was seine Gemeinschaft erheischt.

Denn, dass ihr diese über Alles geht: das verrät sie in jedem Worte, die erlöste Seele. Fühlt mit ihr, wenn sie fleht: Und nimm dein Küchlein ein! Welch eine Zärtlichkeit! Welch ein Verlangen! Welch eine fromme, demütige Inbrunst!

Sein Küchlein nennt sie sich. Das Bild des Küchleins umfasst viel mehr, als jenes auch bekannte, auch reiche, auch gar vertraute Bild vom Schäflein. Die Schäflein weidet nur der Hirt. Die Küchlein sind geboren von der Henne. Was sind wir anders? Sind wir nicht durch den Herrn in das neue Leben eingetreten und in Christo Jesu geschaffen? Hat nicht die Liebe des Heilandes uns abermals mit Ängsten geboren? Darf nicht die Zärtlichkeit des Gekreuzigten von dem Menschengeschlecht sagen, wie eine Mutter, die der Geburtsschmerz tötet, von ihrem Kinde: Mir hast du Arbeit gemacht? Der dankbare Christ empfindet dies Teuerste. Darum weiß er nicht, wohin er in den Stunden der Anfechtung eilender und getroster fliehen sollte, als unter die Flügel der Liebe, die ihm das Heil des Lebens errungen hat. Er ist das Kind, das jede Frage, jede Schwierigkeit, jedwede Unruhe, jegliche Gefahr zu seiner Mutter treibt, weil nirgends es sich so geborgen fühlt, als da. Und, wie das Kind, hat auch der Christ, so oft es Abend wird, so oft sich Schatten um ihn lagern, so oft seinem Geiste das Licht ausgehen und Müdigkeit sein Herz überfallen will, er hat kein heißeres Begehren, als: Breit' aus die Flügel beide, o Jesu, meine Freude! Und nimm dein Küchlein ein.

Versteht mich recht, Geliebte. Ich rede nicht zunächst, noch weniger allein, von dem Einbruch der Nacht, die nur den Erdkreis bedecken kann.

Wahr ist's, auch diese schon ist keines Menschen Freund. Sie gibt dem Argen, der das Licht scheut, freien Spielraum. Sie hüllt den Frevel ein. Sie hintergeht die Sinne. Sie regt die Phantasie und lähmt die Denkkraft und wiegt die Pflicht in Schlaf und rückt die Welt aus unsern Augen weg. So wird der Mensch in ihren Schatten reif zu Handlungen, davor der Tag erschrickt. Und wohl, wenn ihr gewohnt seid, mit Furcht und Zittern eure Seligkeit zu schaffen, wohl werdet ihr die Nacht nicht angemessener glauben begrüßen zu können, als mit einem kräftigen Nachtgebete, das in allerlei Worten, Weisen und Wendungen wechseln mag, dessen wesentlicher Geist und Inhalt jedoch ewig nichts anders sein kann, als jenes kindliche: Breit' aus die Flügel beide, o Jesu, meine Freude! Und nimm dein Küchlein ein.

Die Nacht aber, die uns die nächtliche Weile eigentlich grauenhaft macht, und an die wir vorher zuallernächst dachten, bricht nicht ein, wenn am äußeren Himmel die Sonne sinkt, sondern, wenn am inneren Himmel eine Glaubens-Finsternis entsteht, und das Feuer der Liebe erlischt, und der Stern der Hoffnung verschwindet, und der Sünde verderbens-schwangerer Pestdampf das Herz umdüstert. Diese Nacht, ihr begreifet es, sie kann am hellen Tage sein. Sie kann euch überfallen plötzlich, wie ein Dieb und ein Mörder. Sie kann in euer Herz sinken, wie der Tau, leis und langsam, und ihr zählt gleichsam die Tropfen, und seht ihn werden den traurigen Zustand, und wie ein Licht nach dem andern verglimmt, und der Fuß nicht mehr weiß, wo er hingeht. Sicher seid ihr niemals. Zwar seid ihr in Christo Kinder des Lichts und Kinder des Tages; die Nacht ist vergangen, der Tag ist herbeigekommen. Aber zu wandeln, als am Tage, was dabei die Hauptsache ist, das ist schwer. Und nur hinanbeten und hinanringen mit heiligem Fleiße können wir uns zu der Klarheit des Einen und Reinen, bei welchem allein kein Wechsel des Lichtes ist und der Finsternis.

Wohlan, Geliebteste! Sintemal ihr den zum Vater anruft, der euch erwählt hat und heilig ist; so führt euren Wandel, so lange ihr hier wallet, mit Furcht (1. Petr. 1, 15. 17). Dünkt euch nicht, zu stehen. Seid nüchtern und wacht; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher, wie ein brüllender Löwe, und sucht, welchen er verschlinge (1. Petr. 6, 8).

Oder, ist vielleicht solche Furcht nicht in der Liebe?

Sie ist es; und sie ist davon unzertrennlich. Vor Gott kann Niemand zittern, wer ihn liebt. Doch vor dem Geiste der Finsternis zittert die Liebe frommer Herzen um so gewisser, je wahrer sie ist. Denn, wo Gott nicht ist, da ist Satans Reich.

Nun wissen wir freilich, dass, so lange wir Gottes sind, der Satan keine Macht an uns habe. Aber, dass Augenblicke kommen könnten in unserem Leben, wo wir nicht Gottes wären, nicht ganz, nicht rein, nicht treu; dass Umstände eintreten könnten in unserem Leben, wo wir sie fahren ließen, die Vaterhand, und fahren ließen die heilige Scheu und die kindliche Ergebung und den freudigen Glauben und die Gemeinschaft des Evangeliums: so, dass wir dann, weil doch einer Macht der Mensch untertan sein muss in seiner Ohnmacht, verfielen in die Hand des Argen: das, das ist es, wovor uns in diesem Leibe des Todes die Seele zittert. Und wer, der seine Sündhaftigkeit, seine Unzuverlässigkeit, seine Gebrechlichkeit kennt, ich frage euch auf euer Herz, Mitgenossen des Staubes; wer von uns wäre über dieses Zittern erhaben?

Es gibt, es gibt unter der Höhe eine Tiefe, und hinter dem Licht einen Schatten, und außer dem Himmel eine Hölle, und fern von der Seligkeit eine Verdammnis; und irgendwohin, es sei nach der einen, oder der andern Seite, zielt es, neigt es, drängt es, eilt es mit uns. Darum, Christen, darum gibt es auch neben der zarten, heiligen Gottesliebe ein eben so zartes und heiliges Grauen vor dem Geiste, der uns verderben will.

Unendlich viel haben wir gleichwohl damit schon gewonnen, wenn wir wissen und nie außer acht lassen, dass der Geist der Finsternis nichts anders wollen kann, als Untergang und ewigen Tod bereiten. In diesem Sinn und nur in diesem Sinn gedenkt sein die fromme Seele, wenn sie betend erwägt: Will Satan mich verschlingen. .

Zwar gebärdet sich der Lügengeist nicht also. Er übergleist die Wildheit des nach Raube brüllenden Löwen mit freundlich täuschenden, mit Liebe gaukelnden, mit schlau anlockenden Gestalten. Er kennt das schwache Herz und die bequeme Stunde und den gelegenen Ort und die wirksamsten Mittel und jede Kunst des Angriffs und wen er überfallen, wen überlisten muss.

Dies alles aber weiß die fromme Seele. Und darum wacht sie und betet und widersteht fest im Glauben, und traut dem, der sie berufen hat: Er werde sie unterstützen im Kampf durch seine himmlischen Mächte. So gerüstet hält sie den Blick aus in die furchtbar klaffenden Abgründe, an welchen sie oft vorüberschwebt; sie hält ihn aus, ohne die Fassung zu verlieren. Sie verhehlt es sich nicht, wie schmal der Pfad ist, den sie wandelt, und wie steil die Höhe, die sie anklimmt, und wie eng die Pforte, in welche sie eingehen möchte: dennoch, dennoch! Obwohl ihr bang ist, kann sie nicht verzagen. Denn sie sieht über der Tiefe den Himmel offen. Sie erblickt die Augen, die ihr aufmunternd zuwinken. Sie berührt die Hände, die sich hilfreich nach ihr ausstrecken. Sie hört die Siegeslieder, die ihr Glück, nachdem sie bewährt erfunden sein wird, verkündigen. Und das gerettete, das beruhigte, das seines Triumphes gewisse Herz fühlt: Ich bin nicht allein; der Vater ist bei mir!

Dies ist der Zustand, auf welchen die Schlussworte deuten: Will Satan mich verschlingen: so lass die Engel singen: Dies Kind soll unverletzet sein!

Wie rührend einfältig und wie himmlisch zart!

Die schützende Henne würde mit all' ihrer Liebe, und mit aller Kraft, welche die begeisterte Liebe einflößt und die nahe Gefahr verdoppelt, doch nichts vermögen gegen das angreifende Raubtier, wenn nicht eine Macht, vor welcher dieses weichen muss, sich um sie sammelte. Sie steht unter heiliger Hut. So würde die Kirche, diese sorgliche Mutter, uns, ihre Kinder, nicht schirmen können, Geliebte, gegen das Verderben, das im finstern schleicht und am Mittage trotzt, gegen den Unglauben, der die Seelen vergiftet, und gegen die Gottentfremdung, die Knaben zum Selbstmorde treibt, und gegen den Sektenhass, der mit Zungen und Dolchen tötet, und hier Familien trennt, dort ganze Provinzen entvölkert: wenn nicht er, er, der da gesagt hat: Auf einen Felsen will ich meine Gemeine bauen und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen, wenn er nicht seine Engel aussendete zum Dienste Aller, die ererben sollen die Seligkeit.

Sie umgeben uns, Geliebte, des Herrn Engel. Lasst uns sie nicht verscheuchen. Sie lassen ihr dreimal heilig in unser Herz klingen, um die unheiligen Regungen daraus hinweg zu bannen. Lasst uns sie hören, auf dass sie nicht verstummen. Den Engelton erträgt der Satan nicht; und wo die Himmel jauchzen, schweigt die Hölle. Kommt, lasst es uns gewinnen, dies Gefühl unserer Unverwundbarkeit und Unbesiegbarkeit und Unerreichbarkeit, wenn wir am Vaterherzen Gottes liegen; es ist der glänzendste Lohn, den auf Erden der Glaube erlangen, es ist die heiterste Sonnenhöhe, bis zu welcher auf Erden die Freudigkeit einer frommen Seele erhoben werden kann.

O sei denn mit uns, Herr und Meister, und verlass uns nicht.

Breit' aus die Flügel beide,
Jesu, unsre Freude!
Nimm Deine Küchlein ein.
Will Satan uns verschlingen:
So lass die Engel singen:
Die Schar soll unverletzet sein.

Berufen sind wir, Christen, zu dieser Schar zu gehören. Möchten wir dennoch uns von ihr ausschließen?

An Jene, unter welchen er wandelte, der zärtliche Helfer, war der Ruf auch ergangen. Er war erschollen im Tempel zu Jerusalem und in des Landes Wüsten. Die auffallendsten Zeichen und die segenreichsten Wunder hatten ihn begleitet. Auf Machttaten hatte er sich gestützt und in Tränen hatte er sich gespiegelt. Mit des Donners Gewalt hatte er sich angekündigt und in der Liebe süßeste Laute war er gelegt. „O wie oft habe ich eure Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein sammelt unter ihre Flügel! Aber, ihr habt nicht gewollt.“

Schreckliche Anklage! Ihr habt nicht gewollt. Das Heil ist dargeboten; aber keine Hand war geöffnet, es zu empfangen.

Warum war keine Hand geöffnet? - Ihre Augen sahen nicht, und ihre Ohren hörten nicht, und ihre Herzen hatten sich verstockt. Sie dürsteten nach Rettung und Frieden. Aber die Rettung von Grund aus, und den Frieden geheiligter Herzen, und das wahrhafte, das gewisse, das ewige und durch nichts zu verkümmernde Hochleben unsterblicher und nach Gott geschaffener Menschen, kannten sie nicht und wollten sie nicht erkennen. Der Fürst dieser Welt verblendete sie, dass sie einen Heiland begehrten und doch nicht sahen die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater voller Gnad' und Wahrheit.

Wollen wir nicht unsere Augen öffnen, Geliebte, zu dieser unserer Zeit, und zu Herzen nehmen die neuesten Offenbarungen Gottes? Wollen wir uns nicht klar machen und immer klarer des Lebens tiefes, göttliches Geheimnis? Wollen wir nicht unterscheiden lernen, was an unserem Sein und Zufall, und was der Ewigkeit gehört? Wollen wir bloß eilen unser Haus zu bestellen auf Erden, und nicht eilen unsre Seele zu retten für des Himmels ewige Hütten?

Freilich! Wer weiß es nicht? Auch solches Fragen schon verdrießt die Welt. Sie mag in keinen Spiegel schauen, der ihr bezeugt, dass ihre Lust vergeht. Immer nur das Heilige im Auge haben, und dies in allem nur, und ewig dies: Das nennt sie Einseitigkeit und Frömmelei. Von einem Geist der Finsternis vollends, gegen den sie zu kämpfen habe, weiß sie gar nicht, und verwirft dergleichen Ansichten und Rücksichten als finster und mönchisch und als traurigen Rest eines längst verschollenen Aberglaubens.

Lasst uns jedoch die Wahrheit nicht verkennen, Teuerste. Lasst uns Gott lieben lernen, lieben von ganzem Herzen und von ganzer Seele und von ganzem Gemüte und aus allen Kräften: im Lichte dieser Liebe werden wir dann gewahr werden den Schatten neben uns. Wir werden fühlen, was früher man nicht fühlt, und was sich auch nicht anvernünfteln lässt: es gebe ein ungöttlich Wesen. Wir werden dies Wesen nicht verkörpern, nicht in Gestalten kleiden, nicht bildeln und schwarzkünsteln, am wenigsten mit Knechtesfurcht davor erzittern; denn wir dienen dem Gotte, welcher der Engel, die gesündigt haben, nicht verschont hat, sondern mit Ketten der Finsternis sie zur Hölle verstoßen und übergeben, dass sie zum Gericht behalten werden (2. Petr. 2, 4). Aber hassen werden wir das Hassenswürdige mit glühendem, mit heiligem Hasse und bekämpfen und abwehren und von uns treiben mit allen Waffen, die uns der Herr verliehen; auch mit den Waffen des Gebets.

Das sei denn heute unser Vorsatz!

Wir können nicht zurücktreten in die alte Zeit; so wie wir nicht wieder umkehren können in der Mutter Leib und abermals geboren werden. Auch musste die Einfalt der Vorfahren, wie fern sie auf damaliger Beschränkung ruhte, von uns weichen, als vielseitiger, nach dem Willen des Gottes, der die Zeiten regiert, die Menschheit gebildet ward. Aber, was mit einander bestehen kann, das Beste und Herrlichste aus den verschiedensten Zeiten, das lasst uns nicht trennen, Christen, weil Gott es zusammengefügt hat. Köstlich hat dies Paulus in die Worte gefasst: „Liebe Brüder! Werdet nicht Kinder an dem Verständnis. Nur an der Bosheit seid Kinder; am Verständnis aber seid vollkommen!“ (1. Kor. 14, 20.)

So lasst es sein; und mit diesem, recht verstandenen Kindersinn, der von dem zarten Alter der Milch zu dem kräftigen Alter der stärkeren Speise dankbar übergeht, und Vielseitigkeit mit Einfalt, und Einfalt mit Vielseitigkeit verbindet, Lasst uns begrüßen die himmlische Blütenzeit. Der Herr wird uns nahe sein. Er wird uns mit seinen Fittichen decken. Und ob wir betend an unser Tagwerk gehn, um zu arbeiten, oder betend in unser Kämmerlein treten, um zu ruhen, oder betend in die schöne Natur, um einzustimmen in das allgemeine Loblied: es wird uns selig machen, zu wissen, dass unser Staat, dass unsere Gemeine, dass unser Haus, dass unsere Kinder, dass alles, was wir teures besitzen, nah' und ferne, unter seinem Schutze steht; und unsere Zuversicht wird sein unter seinen Flügeln. Amen. Amen.

1)
Es war das bekannte Lied: Wach auf mein Herz und singe rc.