Christoffel, Raget - Die Waldenser und ihre Brüder – 7. Beccaria schließt sich der auswandernden Gemeinde an und wird in Zürich ihr Katechet und Armenpfleger.

So lasst uns hinausgehen und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir.
(Heb. 13,13.14)

Die evangelische Gemeinde von Locarno hatte inzwischen zwei Abgeordnete aus ihrer Mitte nach Zürich gesandt, welche dort vor der Ratsversammlung erklärten, dass an die achtzig Hausväter unter ihnen samt ihren Familien entschlossen seien, zur Wahrung des Kleinodes ihres evangelischen Glaubens auszuwandern. Am liebsten würden sie sowohl um des Erwerbes als der Sprache willen auf bündnerischem Gebiete, sei es im Misoccotale oder sei es im Veltlin, sich niederlassen. Daher bitten sie den Rat von Zürich, dass derselbe sich bei dem gerade in Chur versammelten Bundestage für sie verwenden wolle, damit ihnen solches gestattet würde. Der zürcherische Rat war nicht allein gleich bereit, dieser Bitte zu willfahren, sondern erklärte den Abgeordneten zu Händen der evangelischen Glaubensgenossen von Locarno, „dass auch Stadt und Landschaft Zürich ihnen offen stehen, wenn ihnen damit gedient sei.“ Demnach begleiteten sofort zwei angesehene Ratsgesandten die locarnischen Abgeordneten nach Chur, wo der versammelte Bundestag auf Verwendung der Erstern mündlich und schriftlich erklärte: „Eingedenk der vielfältigen Treue, so uns von unsern lieben Eids- und Bundesgenossen von Zürich erwiesen worden, sind wir erbötig, ihnen in ihren Nöten Leib und Gut zuzusehen. Wir sind auch willig, ihnen zu Ehren die verwiesenen Locarner anzunehmen an allen Orten und Enden, dass sie mögen unterkommen. Wir wollen sie auch annehmen als die Unsern doch mit dem Beding, dass sie Niemanden verletzen und ärgern und dass sie sich in Bezug auf Religion mit denjenigen von Zürich gleichhalten.“ Mit diesem Bescheide reisten die locarnischen Abgeordneten nach ihrer Heimat zurück, wo ihre Glaubensbrüder durch denselben sich sehr erfreut und gestärkt fühlten. Allein so wohlgemeint der Beschluss des graubündnerischen Bundestages war, so ließ sich derselbe bei der Selbstherrlichkeit der einzelnen Bünde und Gemeinden1) nur mit der Einwilligung derselben durchführen. Nun gehörte das Tal Misocco zum oberen oder grauen Bunde, in welchem die päpstlich gesinnte Partei die überwiegende Mehrheit bildete, als daher die Gesandten der katholischen Kantone von jenem Beschluss des graubündnerischen Bundestages Kunde erhielten, wandten sie sich auf Betreiben des päpstlichen Legaten Riverta im Geheimen an die Häupter des oberen Bundes mit dem Gesuche, denselben zu hintertreiben oder zu vereiteln. Sofort ließen dann diese hinter dem Rücken des Bundestages von Chur aus ein Verbot an die Bewohner von Misocco und Roveredo ergehen, die vertriebenen Locarner in Haus und Hof aufzunehmen und ihnen Unterhalt zu gewähren. Als daher Abgeordnete der Evangelischen von Locarno im Vertrauen auf den Beschluss des graubündnerischen Bundestages sich in Misocco und Roveredo nach Wohnungen für die Auswanderer umsehen wollten, mussten sie, in Folge des dort verbreiteten Verbotes der Häupter des oberen Bundes, wieder unverrichteter Sache zurückkehren. Die Bestürzung der evangelischen Locarner über das ihnen so unerwartete Benehmen war um so größer, da einerseits der ihnen festgesetzte Termin zur Auswanderung heranrückte und anderseits ihnen auch andere Wege zur Betätigung ihres Vorhabens versperrt wurden. Auf Betreiben des päpstlichen Legaten hatte nämlich damals der spanische Statthalter in Mailand ein Mandat folgenden Inhaltes erlassen: „Da aus dem Umgange und den Reden dieser Leute für die Untertanen hiesiger Herrschaft leicht falsche, verpestete Lehre erwachsen könnte, wird verordnet, allen Personen, wes Standes oder Ranges sie seien, die von den Herrn Eidgenossen wegen Ketzerei und falscher Religion verwiesen worden, ist bei Lebensstrafe geboten, binnen drei Tagen nach Bekanntmachung dieses Rufes sich aus der Herrschaft Mailand zu entfernen. In die nämliche Strafe verfallen die Angehörigen der Herrschaft, welche sie beherbergen, mit ihnen verkehren oder ihnen Hilfe oder Vorschub leisten.“ In ihrer Bedrängnis wandten sich die Evangelischen von Locarno durch Abgeordnete aus ihrer Mitte an Bullinger und an den Rat von Zürich mit dem Wunsche, sobald die Jahreszeit es erlaube, zu ihnen zu kommen und als eine Gemeinde zusammen bleiben zu dürfen, um sich gegenseitig besser unterstützen und um einen ihrer Sprache kundigen Verkündiger des Evangeliums erhalten zu können. Inzwischen möge Zürich sich bei Graubünden verwenden, dass ihnen bis zum Eintritte der wärmeren Jahreszeit in Roveredo und Misocco zu verweilen gestattet würde. Der Rat von Zürich gewährte ihnen diese Bitte und die Bewohner von Misocco und Roveredo gestatteten auf Verwenden angesehener Mitbürger den evangelischen Auswanderern, vorübergehend bei ihnen zu wohnen. So schlug denn die Stunde, in der die glaubenstreuen Locarner für immer der teuren Heimat Lebewohl sagen mussten. Von zweihundert und vier Personen, welche sich im Januar öffentlich zur evangelischen Lehre bekannt hatten, ergriffen am 3. März drei und neunzig den Wanderstab. Mutig und heiteren Sinnes, im Bewusstsein, dass Gott mit ihnen sei, zogen sie aus, gestärkt durch die Fürbitte ihrer evangelischen Glaubensbrüder, welche ihre Glaubenstreue bewunderten. „Jetzt,“ schrieb Bullinger am gleichen Tage an Calvin, „jetzt sind die Locarner auf der Wanderschaft begriffen, betet für sie.“ „Das soll Euch zum Troste und zur Freude gereichen,“ schrieb Besozzo aus Chiovenna, „dass Euer Benehmen in ganz Italien großes Aufsehen erregt, und die Auserwählten im hohen Grade erbaut hat; weil noch kein ähnlicher Fall in unserer Zeit sich zugetragen.“ Auch in Deutschland fand die von den evangelischen Locarnern bewiesene Glaubenstreue bei den protestantischen Fürsten, wie bei ihren Untertanen gerechte Anerkennung. Beim Auszuge schieden sich mehrere Ehegatten, indem der eine Teil zurückblieb, während der andere auswanderte. Einige blieben zurück und übten die katholischen Gebräuche, während sie ihren Glauben im Herzen behielten. Der zürcherische Landvogt schrieb an seine Oberen darüber: „Liebe Herren, ich spüre täglich noch mehr Christen, die sich still halten und die auch mit der Zeit hinweg wollen. - Ich glaube auch fest, dass es nicht möglich sei, dass der christliche Glaube zu Locarno gar ausgereutet werde. Aber der allmächtige Gott wird es vielleicht zu Gutem schicken.“

Inzwischen genoss Beccaria die Freude die von ihm gepflanzte evangelische Gemeinde von Locarno wiederum mit dem Worte des Lebens frei und ungehindert speisen und stärken zu können. Die alten Bande christlicher Liebe und Gemeinschaft zwischen diesem treuen Seelsorger und seiner ersten Gemeinde befestigten sich aufs Neue.

Anfangs Mai brachen die Ausgewanderten von Roveredo auf über den St. Bernhardinberg nach Zürich. Wohl mochten sie noch auf den Höhen des Verges einen wehmütigen Blick nach dem heißgeliebten Italien gerichtet und für den Schutz des Evangeliums daselbst gebetet haben, denn ihre Seelen waren von jenem sehnlichen Wunsche bewegt, dem der gelehrte Peter Martyr in einem Schreiben an Bullinger (3. Juli 1555) in folgender Weise Ausdruck verlieh: „Ich bitte Dich, bete auch Du für mein unglückliches Italien, denn so lange es nicht zu Christo bekehrt ist, wird es das Ende seines Elendes nicht sehen!“ Wunderbar von Gott beschützt waren die armen Flüchtlinge auf der mühevollen und gefährlichen Wanderung über das noch mit tiefem Schnee bedeckte Gebirge. Fröhlich und heiter, wie zu einem Feste, zogen sie daher und freuten sich, dass sie gewürdigt seien, zur Ehre Christi etwas zu leiden. In sieben Tagen legten. sie alle, Männer, Frauen und Kinder, die einen zu Fuß oder zu Pferde, die andern zu Wagen und zu Schiffe, den Weg bis Zürich zurück, so glücklich verlief diese Reise, dass sie auch an ihrem Gepäcke nicht die geringste Einbuße erlitten. Den 12. Mai und die folgenden Tage trafen in Zürich hundert und sechzehn Seelen ein, Einzelne folgten, vom Gewissen dazu getrieben, noch später nach. Auch Beccaria ward durch seine Liebe zu seiner ersten Gemeinde bewogen, derselben nach Zürich nachzufolgen und ihr dort mit der ihm von Gott verliehenen Gabe zu dienen. Hier wurden diese glaubenstreuen Fremdlinge freundlich und liebreich aufgenommen und mit Obdach, mit Hausgeräten und Betten, sowie mit Korn und Wein aufs Freigebigste von ihren Glaubensbrüdern versehen. Es herrschte damals grade große Teuerung, so dass der Rat den Beschluss fasste, jeder Haushaltung von Bürgern und Landleuten einen Mütt Korn aus den obrigkeitlichen Vorräten verabfolgen zu lassen. Dieser Wohltat wurden auch die Locarner teilhaftig. Ebenso beschloss der Rat, den Geistlichen, welchen sich die evangelischen Ankömmlinge im Einverständnis mit Bullinger wählten, wie ihre Stadtpfarrer aus den öffentlichen Kassen zu besolden. Zu dieser Stelle schlug nun der Antistes der zürcherischen Kirche, nach genommener Rücksprache mit den Vornehmsten den evangelischen Locarner, den Beccaria vor, als denjenigen, den sie vor allen Andern zu haben wünschten. Sowohl die locarnische Gemeinde als der Rat von Zürich genehmigten diesen Vorschlag, denn Beccaria sei „der rechte Anfänger der evangelischen Lehre und Wahrheit in Locarno,“ der schon längst um des göttlichen Wortes willen Feindschaft und Verbannung ausgestanden. Doch sollte er noch zuvor geprüft werden, seiner Lehre und sonstigen Tauglichkeit halben, auch, wie die übrigen Kirchendiener angeloben, sich genau an die Glaubenslehren und Gebräuche der zürcherischen Kirchen zu halten, im öffentlichen Vortrage wie im Privatgespräch. Behausung und Besoldung des Pfarrers sollte die Obrigkeit übernehmen, der Gottesdienst bei St. Peter gehalten, störender Zulauf neugieriger Gaffer durch offenen Kirchenruf untersagt, die Ungehorsamen durch verordnete Stadtknechte zur Ruhe gewiesen werden. Beccaria dankte tief gerührt für das ihm geschenkte Zutrauen, erklärte aber bescheiden, dass er denn doch den an ihn ergangenen Ruf ablehnen müsse, denn „in diesem Handel befinde er sich dermaßen schwach unberichtet und ungeübt, dass er solches Amt nicht annehmen, auch nichts Anderes finden könne, denn dass es weder für ihn noch für die Kirche gut wäre. Er wolle den Platz einem lassen, der mit mehr Frucht vorstehe; was er diesem oder auf andere Weise dienen könne, wolle er gerne tun.“ Demnach wurde Bernhardino Occhino von Siena, vormals General des Kapuzinerordens und der gefeiertste Kanzelredner Italiens zum Prediger der evangelischen Gemeinde der ausgewanderten Locarner in Zürich berufen, der diesem Ruf auch Folge leistete. Dagegen wurde Beccaria zu einem der Ältesten und Vorsteher der Gemeinde gewählt und übernahm die Verwaltung der Armenanstalt, sowie die wöchentliche Kinderlehre zu halten. Da er arm war und für diese seine kirchliche Verrichtung nur eine sehr geringe Besoldung bezog, suchte er sich durch Privatunterricht sein Auskommen zu verdienen. Stets auch hatte er einige Knaben von Locarno, von Misocco oder aus geflüchteten italienischen Familien in der Kost. Unter den Letzteren befand sich auch der Sohn jener edlen spanischen Gräfin Isabella Manrica, die einst zu Neapel des Valdez Schülerin gewesen. Sie hatte aus Liebe für die evangelische Wahrheit, die sie kennen und lieben gelernt, ihre glänzende Lebensstellung mit dem Los einer Verbannten vertauscht. Jedoch bedauerte sie keinen Augenblick diesen Tausch, indem sie sich glücklich fühlte nun um Christi willen Schmach zu leiden. Auch Beccaria erfreute sich nun eines sicheren und friedlichen Daseins im Vollgenusse der Glaubens- und Gewissensfreiheit unter liebenden Freunden und evangelischen Glaubensbrüdern. Daher fühlte er sich glücklich, obgleich seine Armut so groß war, dass er zu Zeiten außerordentliche Unterstützung aus den Mitteln der Gemeinde anzunehmen genötigt war.

1)
Der Freistaat Graubünden bestand aus drei selbstherrlichen Bünden, dem „oberen oder grauen Bunde,“ dem „Gotteshausbunde“ und dem „Zehn Gerichtenbunde.“ Diese Bünde selbst bestanden aus einer größeren Anzahl selbstherrlicher Gemeinden, von welcher in allen wichtigen Fragen die Entscheidung abhing.