Wir haben allenthalben Trübsal, aber wir ängstigen uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um.
(2. Kor. 4, 8. 9.)
Der Ermunterung und Stärkung von Seite des treuen Beccaria bedurften die evangelischen Locarner um so mehr, da für sie eine schwere Zeit heranbrach. Zwar hatten von Johanni 1550 an die reformirten Kantone Basel, Schaffhausen und Zürich die Landvogtstelle daselbst für sechs Jahre zu besetzen. So durfte sich auch die evangelische Gemeinde in Locarno der Hoffnung hingeben, während dieser Zeit ungehindert und unbelästigt ihres Glaubens leben zu können. Daher erteilte der große Rat von Zürich seinen Gesandten auf die gegen Ende des Jahres 1549 zu Baden angesetzte Tagsatzung die Weisung: „Es würde ihnen gefallen, dass man dem Schulmeister Beccaria und seinen Religionsverwandten insgeheim rate, sich zu leiden und still zu halten, bis ein neuer Landvogt komme, unter welchem, sowie unter seinen Nachfolgern sie mehr Schirm und Freiheit für ihr christliches Fürnehmen genießen dürften.“ Aber dies wussten die päpstlich gesinnten Kantone auch und beeilten sich daher ihre Gegenmaßregeln zu treffen. Noch im Spätjahre 1549 erteilten sie dem Landvogt Wirz den Befehl: „Da fortwährend Etliche zu Locarno dem neuen Glauben anhangen, was den sieben Orten zum Nachteile gereichen könnte, so solle er auf solche Unruhige und Abtrünnige merken, sie festnehmen lassen und bestrafen. Um sich dabei vor Gewalttaten zu sichern, solle er sich insgeheim mit vertrauten Ehrenleuten umgeben, die ihn zu beschützen bereit stehen.“ Dieser Weisung gemäß schritt nun der Landvogt allenthalben gegen die Evangelischen ein und verfügte in ganz willkürlicher Weise Geldstrafen, Gefängnis und Verbannung über Alle, die sich irgend eine Abweichung von den katholischen Kirchengebräuchen und Geboten erlaubten. Da nun auf der andern Seite die reformirten Kantone sich ihrer bedrängten Glaubensverwandten annahmen, so wurde die Spannung zwischen den beiden Religionsparteien immer größer. Den Sondertagsatzungen der katholischen Stände gegenüber hielten auch die Evangelischen solche, um die Wahrung der Interessen ihrer Religionsverwandten zu besprechen und den Schutz derselben zu beraten. So steigerte sich die Spannung zwischen den Parteien in dem Grade, dass ein Bürgerkrieg auszubrechen drohte. Die Gesandten der katholischen Kantone beschlossen, „dass jeder Ort bei den Seinigen Vorkehrungen treffen solle, damit Jedermann mit Harnisch und Gewehren versehen sei und wenn es not tue zum Kriege gerüstet.“ Diese Rüstungen wurden namentlich in Uri und Bellinzonea mit großem Geräusche vorgenommen. Auf der andern Seite versicherte sich namentlich auch Zürich der Zustimmung der Bürgerschaft von Stadt und Land, wenn es sich um den Schutz des evangelischen Glaubens mit Waffengewalt handeln sollte. Die Bürgerschaft in der Stadt erklärte in ihren Versammlungen auf den Zünften sich bereit, wo sie Jemand von der Religion drängen wollte, Leib und Gut daran zu setzen. Auf dem Lande gab man den Abordnungen der Regierung die Erklärung: „Wir bitten untertänigst, soviel möglich, Krieg zu vermeiden, und auf Frieden und Einigkeit zu sehen. Würde aber Jemand unsere Herrn wider Recht, Bünde und alle Billigkeit beleidigen und uns vom heiligen Worte Gottes zu treiben sich unterstehen, da wollen wir, als fromme, biedere Leute, Leib und Gut treu und ehrlich zu ihnen setzen und als die Gehorsamen erfunden werden.“ Darauf hin befahl der Rat den Bürgern zu Stadt und Land sich „mit Harnischen und Gewehren zu versehen.“
Als die evangelischen Locarner von diesen Vorgängen Kunde erhielten, schrieben sie nach Zürich auch zu Händen der übrigen evangelischen Stände: Euern Frieden und Eure Eintracht wollen wir nicht stören. Zeigt Euch aber Gott ohne dieses einen Weg, uns aus dieser Knechtschaft Babels und des Antichrists zu befreien, so schafft, dass unsere Gemeinde es durch die Tat spüren möge. - Mit Gottes Hilfe sind wir entschlossen, die erkannte Wahrheit und den Glauben an Christum nimmer zu verleugnen, sollten wir auch eines gewaltsamen Todes sterben müssen. Könnt ihr daher, fromme gnädige Herrn, uns helfen ohne Gefährdung des Friedens und Eures Bundes, so nehmen wir Eure Hilfe als vom Herrn kommend, mit dem wärmsten Danke an. Wo aber dieses nicht sein kann, so flehen und beschwören wir Euch aus einem Munde: Stellt unsere Sache Gott anheim und lasst die Verfolgungen über uns ergehen, eher als dass ihr Euch einander bekriegt.“ Um einen Vorwand zu finden, auch die evangelischen Stände gegen die Locarner einzuschreiten zu nötigen, verklagte man dieselben als „Wiedertäufer,“ weil sie ihre Kinder statt von den Messpriestern von heimlich berufenen evangelischen Geistlichen taufen ließen. Als nun der Rat von Zürich auf Johanni 1554 den Landvogt für Locarno zu ernennen hatte, erkor er den sehr ehrenwerten und redlichen Jesajas Räuchlin zu diesem Amte und forderte ihn zugleich auf, über den Bestand und Gesinnung der evangelischen Gemeinde von Locarno genaue Kunde einzuziehen und Bericht zu erstatten.
Darauf hin meldete dieser den Auftraggebern: „Ich habe mein Allerbestes getan, und ich bin ernstlich von Ehrenleuten berichtet, dass ihrer bei oder ob hundert und vierzig seien, ohne die, so es gar heimlich halten, deren Zahl sie nicht wissen mögen. Zum Andern, so können meine Herrn, die Gesandten und ich weder täuferische noch andere Sekten von ihnen nirgends erfahren, sondern dass sie in allen Dingen unserer Religion gleichen. Ich kann auch nichts Anderes erkundigen, denn dass sie mehrteils alle gewerbsam, als Kaufleute und andere Ehrenleute seien und mehrteils von den besten Geschlechtern und vom Adel. Ich höre auch von keinen Unglücksmachern oder liederlichen Leuten nichts sagen, denn dass sie arm und reich unter einander wie bei uns auch. Item es sollen ihrer nicht mehr über dreißig Personen des alten oder päpstlichen Glaubens sein in der ganzen Gemeinde. Die aber, so unseres Glaubens sind, gehen nicht zu der Messe, haben auch nichts auf andern des Papstes Zeremonien.“ Mit diesem Schreiben sandte Räuchlin zugleich ein Glaubensbekenntnis der Evangelischen zu Locarno, in welchem dieselben mit allem Nachdrucke namentlich gegen den Vorwurf der Wiedertäuferei sich verteidigten. Auch Mainardo, der evangelische Pfarrer von Chiavenna fühlte sich verpflichtet darüber an Bullinger zu schreiben: „Es ist eine arge Verleumdung, dass die Locarner Wiedertäufer seien. Kaum ist ein Kind geboren, so machen sie die weite Reise hierher und bitten flehentlich, Jemanden zu senden, der es taufe … Sie bekennen sich ganz zu Eurer Lehre; Euren Satzungen huldigen sie fast wie göttlichen Aussprüchen. Gerade jetzt senden sie mir durch ihren Schulmeister, einen wackeren und wohlunterrichteten Mann, einen Brief: Einer von uns Kirchendienern möchte kommen, ein Kind zu taufen und des Herrn Brot zu brechen. Ich frage, sind das Wiedertäufer? . . . Wie lange wollen die evangelischen Orte zusehen all dem Unrechte, das von den Gottlosen Christo zugefügt wird? Hilf du den Bedrängten, um Christi willen bitte ich dich darum!“
Auf der andern Seite liefen vom Landschreiber Roll fortwährend Klagen an die siebenörtischen Gesandten ein über die Saumseligkeit des Landvogts Räuchlins in der Bestrafung der Evangelischen in Locarno. Sondertagsatzung auf Sondertagsatzung wurde von ihnen gehalten und dem Landvogte scharfe Mahnungen entsandt, „dass er darin seiner Pflicht besser nachkomme.“ Darauf hin erließ dieser in Locarno eine öffentliche Warnung vor Neuerungen in Glaubenssachen. Auf dieselbe aber erschienen über dreißig ältere und jüngere Männer vor ihm und erklärten mit großer Zuversicht: Sie werden derselben keineswegs Folge leisten; da sie schuldig seien mehr Gott als den Menschen zu gehorchen. Ihre Kinder werden sie hinfort weder dem Erzpriester noch sonst einem Messpfaffen zu taufen übergeben, sondern nach christlichem Brauche sie selbst taufen, wie sie dieses schon seit einiger Zeit getan. In Sachen des Leibes und Gutes wollen sie ihren Oberherrn schuldigen Gehorsam leisten, in Sachen des Glaubens und Gewissens aber seien sie zu diesem nur gegen Gott verpflichtet. „Begehrt ihr es, fuhren sie fort, so wollen wir in zwei Tagen über Zweihundert schriftlich bezeichnen, die Alle unseres Glaubens sind. Man hat uns als Wiedertäufer verschrien; das sind wir nicht. Wir sind eures Glaubens; wir taufen unsere Kinder, wie unsere Herrn von den vier evangelischen Orten.“ Diese stattliche Schar herrlicher Männer, Edelleute und zwei Doktoren an der Spitze, flößten dem Landvogte Achtung und Bewunderung ein. Einstweilen konnte er nichts Anderes tun, als sie mit wohlwollenden, doch unverfänglichen Worten zu entlassen.
Indessen steigerte sich die feindliche Spannung zwischen den römischkatholischen und den evangelischen Kantonen immer mehr und drohte in einen Bürgerkrieg überzugehen. Dieses war besonders der Fall, nachdem der päpstliche Legat Ottaviano Riverta, Bischof von Terracina, auf eine Sondertagsatzung der Gesandten seiner Partei erschien und die Erklärung abgab, dass er vom Papste mit der Besorgung der Angelegenheit der Evangelischen von Locarno bevollmächtigt sei. Er ließ sich vom bisherigen Verlauf dieser Sache unterrichten und versicherte die Gesandten, „dass es dem heiligen Vater im höchsten Grade ungelegen sei, eine Gemeinde von Abtrünnigen an den Pforten Italiens sehen zu müssen, daher solle man alle Mittel anwenden, dieses Ärgernis zu entfernen.“ Von nun wurden die Fäden aller Unternehmungen gegen die Evangelischen in Locarno von diesem päpstlichen Legaten in Bewegung gesetzt und geleitet.
Endlich ward der langwierige Streit durch einen Spruch der Gesandten der zwei unparteiischen Orte Glarus und Appenzell, welche von beiden Parteien als Schiedsrichter angenommen waren, (24. Nov. 1554) dahin entschieden: „dass Alle zu Locarno, welche die neue Religion angenommen, wieder davon abstehen und bei der alten verbleiben sollen. Die aber nicht von dem alten Glauben abtreten, sollen bis zur nächstkünftigen alten Fastnacht (1555) mit Leib und Gut aus der Herrschaft Locarno ziehen und allda keine Wohnung noch Unterhalt mehr haben. In der Zwischenzeit sollen sie aber in Betreff der Religion sich ruhig halten und nichts praktizieren noch anstiften. Nach ihrer Auswanderung durften sie nirgends, wo die sieben Orte auch an der Herrschaft Teil haben, sich niederlassen.“ Die Mehrheit der Evangelischen verstand sich dazu, den Spruch zwar nicht zu billigen, doch die altgesinnten Kantone an der Ausführung derselben nicht zu hindern. Zürich verwarf geradezu den Spruch, erklärte aber: „Um des Friedens willen lassen wir die andern Stände hierin handeln.“ Den 12. Januar 1555 kamen denn die Gesandten der acht Orte, Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Freiburg, Solothurn und Glarus nach Locarno, um die Bestimmungen des schiedsrichterlichen Spruches zu vollziehen. Die evangelischen Stände vermeinten ihre Pflicht gegen ihre Glaubensgenossen in Locarno hinlänglich gewahrt zu haben, wenn sie keinen Teil an dem Vollzuge des Spruches nähmen. Anderer Ansicht aber waren die evangelischen Geistlichen, welche dieses Benehmen mit Recht bitter tadelten. Bullinger schrieb darüber: „Für ungerecht und für eine schwere Sünde halten wir es, die Bekenner der Religion, welche wir für die wahre halten und zu der wir uns auch bekennen, um derselben willen zu bestrafen. . . . Auswanderung aber, meint man, sei vielleicht keine Strafe. Dann gebe man der Sache nur den rechten Namen. Verbannung ist es und nach aller Rechtskundigen Ansicht ist dieselbe bürgerlicher Tod! Die Anwesenheit römischer Legaten in der Schweiz war für dieselbe immer verderblich; denn „Unglück und Verderben brütet Rom, der Kriege Mutter und Urquelle,“ wie einst Petrarca sang. Friede wird vorgeschützt und unter dieser Maske wird Krieg bereitet. Jesus, unser Heiland, erbarme sich unser und schenke uns den wahren - Frieden.“ „Die Angelegenheit unserer Locarner Brüder,“ schrieb Calvin an Bullinger, „hat mit Recht Dich und uns Alle mit herber Trauer erfüllt. Eine Schändlichkeit war es fürs Erste, dass sie von ihrem Herrn im Stiche gelassen wurden. Doch eine noch weit schwerere Verschuldung kommt hinzu. Bekenner des Evangeliums lassen sich gefallen, dass in ihrem Namen ihre Glaubensgenossen zum meineidigen Abfalle aufgefordert werden. Hätte man doch lieber die frommen Brüder zehnfachem Henkertode preisgegeben! Eine verkehrte Großmut, die der Menschenleben schont, und dafür die heilige Gotteswahrheit dem Gespötte bloßstellt. Euch aber segne der Herr in Eurem heiligen Eifer, auf dass er durch Euch triumphiere über die Treulosen, die Eure Gewissenhaftigkeit ungerechter Weise Starrsinn schelten, während sie, wie Pilatus, Christum geißeln, um ihn mit dem Kreuze zu verschonen.“ Die Gesandten der katholischen Orte ließen zuerst allen zur Herrschaft Locarno gehörenden Dorfschaften und Kommunen entbieten, auf den 15. Januar Morgens Abgeordnete mit unbeschränkter Vollmacht nach dem Hauptorte ins Schloss zu schicken. Demnach erschienen auf diesen Zeitpunkt aus jedem Dorfe die Potentaten samt den Ältesten und Angesehensten und gaben zu Händen ihrer Obern auf eine dahinzielende Aufforderung folgende Erklärung: „Wir wollen bei dem wahren, alten, ungezweifelten christlichen Glauben bleiben, in demselben leben und sterben, und bitten unsere Herren, uns dabei zu schirmen.“ In gleicher Weise erklärten sich Tags darauf Vormittags die Altgläubigen von Locarno. Dagegen erschienen Nachmittags die Evangelischen vor den Gesandten. Es waren deren an hundert und zwanzig Erwachsene, voran die Männer, dann paarweise die Frauen, ihre Kinder an der Hand oder auf dem Arme. Als ihr Sprecher ihre Glaubensansicht näher zu begründen suchte, riefen ihm die Gesandten zu: „Wir sind nicht da, von euch etwas Anderes zu hören, als: ob ihr von eurem Wesen abstehen wollt, oder nicht. Dies zeigt uns an mit kurzen Worten!“ „Nun, so erklären wir,“ erwiderte jener, „dass wir bei unserm, wie wir achten, wahren, rechten, christlichen Glauben leben und sterben wollen.“ „Wohlan,“ entgegnete man, „so sollt ihr laut den gestellten Mitteln, von heute bis zur alten Fastnacht den Flecken und die ganze Grafschaft Locarno geräumt haben, und euch keiner weiteren Gnade versehen.“ Noch ward ein Verzeichnis ihrer Namen verlangt, welches sie am anderen Tage unter einem von ihnen entworfenen Glaubensbekenntnisse einreichten. In demselben sprachen sie sich unter Anderem also aus: „Wir glauben an Einen Gott, und anerkennen nur Einen wahren Glauben, welcher darin besteht, dass wir unbedingt annehmen, was im alten Testamente enthalten ist und was unser einiger Meister, Fürsprecher und Erlöser, Jesus Christus, und seine heiligen Apostel geschrieben, gepredigt und gelehrt haben, welches Alles im neuen Testamente enthalten; endlich glauben wir auch an die zwölf Artikel des allgemeinen christlichen Glaubens. Wir sind überzeugt, dass hierin Alles begriffen, was zum christlichen Glauben und zu unserm Heile erforderlich ist. Diese Lehre haben wir nicht selbst ersonnen; viele Jahre hindurch ist sie uns von verschiedenen Predigern vorgetragen worden. Sie zu prüfen, haben wir fleißig die heilige Schrift studiert, der Eine in lateinischer, der Andere in der Landessprache nach der Gnade, die Jeder vom Herrn empfangen; mit unablässigem Gebete zu Gott, er möchte mit seinem heiligen Geiste unseren Verstand erleuchten, nur das zu glauben, was zu seiner Ehre und zum Heile seiner Gläubigen dient.“
„Schließlich flehen wir zu Euch um Gottes Willen habt Erbarmen mit uns, deren so viele sind, mit unserer Armut, unserm Elende, mit unsern armen Frauen und Kindern; wofern es geschehen kann ohne Gefährdung Eures Friedens. Wo nicht, werden wir uns Allem ruhig unterziehen, was Gott durch Eure Hand über uns verhängt.“
Noch am gleichen Abend traf der päpstliche Legat Ottaviano Riverta von Mailand her in Locarno ein. Indem er den Gesandten der katholischen Orte für den Eifer und für den Ernst, den sie zum Schirme des wahren alten christlichen Glaubens bewiesen und den Handel gegen diese ungläubigen Leute so tapfer angegriffen haben, im Namen des Papstes seinen Dank abstattet und sie versichert, dass auch die Venediger ein Gleiches, zum Nutzen gesamter Christenheit, vorgenommen, fügte er noch eine dreifache Bitte bei. Erstens möchten sie die drei Bünde in Hohen Rhätien anhalten, dass sie den Beccaria, der sich bei ihnen aufhalte, zur Bestrafung ausliefern und sodann, dass sie den auswandernden Locarnern nicht gestatten, weder bei ihnen noch bei ihren Untertanen sich aufzuhalten. Das Gleiche sei auch von Venedig und von Mailand zu erwarten. Zweitens sollen sie den Abziehenden einen Teil ihres Vermögens und ihre Kinder vorenthalten, und diese aus jenem im wahren christlichen Glauben erziehen lassen. Solches ward aber, als dem schiedsrichterlichen Spruche zuwider abgelehnt. Nun versuchte der Legat durch Überredung und freundliche Vorstellungen die zur Auswanderung Entschlossenen zu bestimmen, von ihrem Vorhaben abzustehen und sich der aufgestellten Ordnung zu unterziehen, indem man ihnen alsdann mit aller Liebe und Freundlichkeit begegnen würde. Er gab ihnen zu bedenken, wie sie um ihrer Religion willen weder in der Herrschaft Venedig, noch im Herzogtum Mailand, noch irgend sonst in Italien Aufnahme finden würden. In Ländern fremder Zunge müssten sie eine Heimat suchen, wo sie weder sich selbst verständlich machen noch die Anderen verstehen könnten. Die dort üblichen und Gewinn bringenden Handwerke kennten sie nicht, oder fänden solche bereits übersetzt; so müssten sie Not und Mangel leiden, zumal unter ihnen ohnehin so viele dürftige seien.“ Durch solche und ähnliche Vorstellungen gelang es ihm, einige Männer, aber keine Frau zu gewinnen. Barbara Muralt sagte ihm freimütig: „Ihr tut in die gute Speise des Evangeliums das Gift der Abgötterei.“ Auf seine Klage schickten die eidgenössischen Boten Häscher, um die freimütige Frau ins Gefängnis abführen zu lassen. Als sie eintraten, sprach sie schnell gefasst: „Verweilt nur eine kleine Weile, bis ich mich angekleidet habe.“ Indessen entflieht sie durch eine geheime Tür und besteigt einen bereit stehenden Nachen und fährt über den See. Doch musste wenigstens ein Opfer fallen, um den Blutdurst der römischen Kirche einigermaßen zu stillen. Dazu ward ein armer Schuhmacher Nicolao Greco ausersehen, der in gerechter Entrüstung über den ausschweifenden Lebenswandel des Mönchs in der Kapelle alla Madonna del Sasso eine unbesonnene Äußerung getan, die als Beschimpfung der heiligen Jungfrau gedeutet wurde. Nachdem er sechszehn Wochen im Kerker geschmachtet und mehrmals hart gefoltert worden, ward er trotz seiner wiederholten Beteuerung: „Nicht unsere Frau im Himmel habe ich gemeint; ich weiß ja, dass keine Heiligere je geboren worden,“ doch zum Tode verurteilt und hingerichtet. Hierauf ließen die eidgenössischen Boten durch den öffentlichen Ausrufer verkündigen, dass bis zur alten Fastnacht in Sachen des Glaubens Niemand disputieren noch arguieren solle, bei hundert Kronen Buße oder auch härterer Strafe, je nach der Verschuldung; nach der alten Fastnacht dann sollen alle, die einheimisch geblieben, sich keinerlei neuem Wesen anhängig machen, sondern bei dem alten, wahren, christlichen Glauben steif verharren, bei Strafe an Leib, Ehre und Gut. Hierauf kehrten die Gesandten der katholischen Orte wieder in ihre Heimat zurück.
In diesen schweren Drangsalen, welche über die evangelische Gemeinde in Locarno hereinbrachen, stand ihr Beccaria, ihr erster Lehrer und Seelsorger, aus der Ferne getreulich bei sowohl durch seine inbrünstige Fürbitte zu dem, der zu Abraham und zu allen Frommen gesprochen: „Fürchte dich nicht, denn ich bin dein Schild und dein sehr großer Lohn,“ als durch seine christlichen Ratschläge und Tröstungen, die er brieflich ihr zukommen ließ. Wie Paulus durfte auch er von sich bekennen: „Wer ist schwach, und ich werde nicht schwach? Wer wird geärgert und ich brenne nicht?“ denn alle Leiden, welche die von ihm so heiß geliebte Gemeinde trafen, wurden auch von seiner teilnehmenden Seele mitempfunden.