Calvin, Jean - Der Römerbrief - Kapitel 9

1 Ich sage die Wahrheit in Christo und lüge nicht, wie mir Zeugnis gibt mein Gewissen in dem Heiligen Geist, 2 dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe. 3 Ich habe gewünscht, verbannt zu sein von Christo für meine Brüder, die meine Gefreundeten sind nach dem Fleisch; 4 die da sind von Israel, welchen gehört die Kindschaft und die Herrlichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen; 5 welcher auch sind die Väter, und aus welchen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Amen.

Mit diesem Kapitel beginnt der Apostel einen Anstoß zu beheben, welcher die Gemüter der Menschen nur zu leicht von Christus abbringen konnte: nämlich, dass die Juden, für welche der Messias doch laut dem Bundschlusse des Gesetzes bestimmt war, denselben nicht bloß verwarfen, sondern geradezu verachteten, ja für einen Gräuel hielten. Aus dieser Tatsache schien eine doppelte Folgerung gezogen werden zu können: entweder, dass Gottes Verheißung durch den Ausgang der Sache Lügen gestraft worden sei -, oder dass der Jesus, welchen Paulus predigte, nicht der Christus des Herrn sei, dessen Verheißung vornehmlich den Juden galt. Diese doppelte Schwierigkeit lösen die folgenden Ausführungen in der trefflichsten Weise. Dabei befleißigt sich der Apostel den Juden gegenüber der größten Mäßigung, um ihre Empfindlichkeit nicht zu reizen. Andererseits vergibt er doch im ihretwillen der Würde des Evangeliums nicht das Geringste. Das jüdische Volk empfängt jede ihm gebührende Anerkennung, und zugleich bleibt Christus seine volle Ehre. Übrigens springt der Apostel auf diese ganze Erörterung völlig unvermutet über, ohne dass sich ein notwendiger Gedankenzusammenhang herstellen ließe. Und doch klingt der Anfang der Rede auch wieder so, als hätten wir es mit früher schon berührten Gegenständen zu tun. Innerlich erklärt sich dieser Tatbestand folgendermaßen: Nachdem die Lehre vollständig abgehandelt, richten sich die Gedanken des Paulus auf die Juden. Deren Unglaube erscheint ihm als ein beängstigendes Rätsel und erschüttert ihn tief: so bricht er plötzlich in eine beschwörende Beteuerung aus -, und das alles konnte er in eine Form kleiden, als ob längst davon die Rede gewesen wäre; denn jedem nachdenkenden Menschen musst allerdings längst der Einwurf auf den Lippen liegen: wenn diese ganze Lehre des Paulus wirklich mit Gesetz und Propheten übereinstimmt, wie erklärt sich dann dieser hartnäckige Widerstand der Juden? Auf der andern Seite war ja alles, was Paulus bisher vom Gesetz Moses und der Gnade Christi gesagt hatte, den Juden verhasst, so dass also von ihnen keine Zustimmung und insofern keine Stütze für den Glauben der Heiden zu erwarten war. Dies lag vor aller Augen und bereitete allerdings dem Glauben an das Evangelium ein Hindernis.

V. 1. Ich sage die Wahrheit in Christus. Paulus stand weithin in dem Rufe, ein geschworener Feind seines jüdischen Volkes zu sein. Selbst christliche Glaubensgenossen hegten den Verdacht, dass er den Abfall von Mose predigte. So muss vor Eintritt in die eigentliche Besprechung der Sache ein Vorwort dem Apostel das Vertrauen seiner Leser zu gewinnen suchen. Paulus reinigt sich von dem Verdacht, als wolle er seinem Volke nicht wohl. Er bedient sich dabei eines Schwures, denn die Sache war es wert, und eine bloße Behauptung wäre auch nicht kräftig genug gewesen, um das eingewurzelte Vorurteil zu überwinden. Hieraus (vgl. auch zu 1, 9) können wir lernen, wann auch für den Christen ein Eid am Platze ist: nämlich wenn es gilt, einer wichtigen Wahrheit die Anerkennung zu verschaffen, die sie auf andere Weise unmöglich gewinnen würde. In Christus heißt: wie es Christus erfordert. Der Apostel fügt noch einmal hinzu: und lüge nicht, um jeden Gedanken an Lug und Trug auszuschließen. Das Gewissen gibt dafür Zeugnis in dem Heiligen Geist. Paulus unterstellt es also dem Gerichte Gottes. Und er ruft nicht bloß Gott, sondern im Besonderen den Heiligen Geist als Zeugen an, um auszudrücken und zu bezeugen, dass sein Herz von jeder missgünstigen Nebenabsicht frei und rein ist, und dass er unter Führung und Leitung des Geistes Gottes nur der Sache Christi dienen will. Kommt es doch oft genug vor, dass jemand ohne Wissen und Willen, durch fleischliche Zu- und Abneigung verblendet, das Licht der Wahrheit verdunkelt. Das ist nun die rechte Weise, beim Namen Gottes zu schwören: dass man ihn als Zeugen anruft, um eine dem Zweifel unterzogene Sache glaubwürdig zu machen, und dass man sich für den Fall der Unwahrheit seinem Gerichte unterwirft.

V. 2. Dass ich große Traurigkeit usw. Mit einer Art von rednerischem Kunstgriff bricht Paulus den weiteren Verfolg des hier ausgesprochenen Gedankens ab. Er deutet nur an und sagt noch nicht deutlich, was denn der Anlass seiner Traurigkeit sei. Offen von dem Untergange des jüdischen Volkes zu reden wäre noch nicht am Platze gewesen. Übrigens zeigt sich auf diese Weise die Heftigkeit seines Schmerzes besonders erschütternd; denn es ist immer ein Zeichen tiefer Bewegung, wenn die Rede vor dem Schluss abbricht. Den Grund seines Schmerzes klar auszusprechen verschiebt der Apostel, bis er sicher sein kann, das Vertrauen der Leser wirklich gewonnen zu haben. – Auffällig könnte es scheinen, dass der Untergang Israels dem Paulus eine solche innere Qual bereitet, wo der doch wusste, dass hier nur Gottes Rat und Wille geschehen sei. Wir ersehen daraus, dass die gehorsame Unterwerfung unter Gottes Vorsehung die Frommen keineswegs hindert, das Unglück derer aufrichtig zu beklagen, welche verloren gehen, wenn sie auch wissen, dass sich an ihnen ein gerechtes Gericht Gottes vollzieht. Ein und dasselbe Herz hat Raum für doppelte Stimmung: sehen wir auf Gott, so fügen wir uns willig darein, dass verloren geht, über wen er es verhängt hat; richtet sich aber der Gedanke auf die Menschen, so klagen wir mit ihnen über ihr Elend. Es ist ein großes Unrecht, wenn man von den Frommen verlangt, dass der Gehorsam gegen Gottes Ordnung sie stumpf und teilnahmslos machen soll.

V. 3. Ich habe gewünscht usw. Einen größeren Beweis seiner brennenden Liebe konnte Paulus nicht geben, als dieser Satz ihn enthält. Das ist vollkommene Liebe, wenn ein Mensch sich nicht weigert, für die Errettung des Freundes selbst den Tod zu leiden. Dazu zeigt die Form des Satzes, dass Paulus gar nicht bloß vom irdischen, sondern vom ewigen Tode spricht. Er will verbannt sein von Christus, abgeschnitten von ihm, also von jeder Hoffnung der Seligkeit ausgeschlossen. Unvergleichliche Liebe, die den Apostel unbedenklich die Verdammnis sich wünschen lässt, von welcher er die Juden bedroht sah, um sie zu befreien! Natürlich wusste er, dass sein Heil auf Gottes Erwählung ruhte, und dass er aus derselben nicht fallen konnte. Aber die Lebhaftigkeit seiner Empfindung treibt seine Gedanken nur auf einen einzigen Punkt. Darüber vergisst er jetzt alles andere: nur das Heil seines Volkes liegt ihm am Herzen. Wenn vielfach der Zweifel laut wird, ob der Apostel wirklich recht daran tat, einen derartigen Wunsch zu hegen, so diene folgendes zur Lösung: Die feste Grenze, zu welcher die Liebe vordringen, welche sie aber auch nicht überschreiten soll, ist Gottes Heiligtum. Lieben wir also in Gott und nicht neben Gott, so wird unsere Liebe niemals zu groß sein. So aber war es bei Paulus: da er sein Volk mit so viel Gaben Gottes geschmückt sah, so umfasste seine Liebe mit dem Volke Gottes Gaben und das Volk um der Gaben Gottes willen; mit der Liebe zu den Menschen verband sich der Eifer für Gottes Ehre. Es war recht eigentlich die Angst, dass Gottes Gaben dahinfallen und so Gottes Zuverlässigkeit und Wahrheit in ihrem Ansehen Schaden leiden könnten, welche dem bedrückten Gemüte des Paulus diesen Ruf auspresste.

Der Zusatz: meine Brüder, die meine Gefreundeten sind nach dem Fleisch, bringt nichts Neues, dient aber doch zur Charakteristik der Stimmung des Apostels. Er zeigt das menschliche Mitgefühl, welches von dem Untergang des eignen Fleisches und Blutes tief bewegt wird. So kann niemand glauben, dass es dem Apostel gleichgültig sei oder gar Freude mache, sich von seinem Volke getrennt zu sehen. Weiterhin bekennt sich Paulus auch darum unumwunden und ausdrücklich zu seinem Volke, weil das Evangelium, dessen Prediger er war, von Zion seinen Ausgang nehmen musste. Denn die Worte „nach dem Fleisch“ wollen hier nicht, wie dies aus ähnlichen Stellen geschlossen werden könnte (z. B. V. 8), die Verwandtschaft abschwächen, sondern sie vielmehr besonders betonen. Mochten die Juden sich von Paulus lossagen -, er selbst hat keinen Grund, seine Herkunft aus diesem Volk zu verleugnen: denn dieses Volkes Erwählung besaß in der Wurzel doch Lebenskraft, wenn auch ihre Zweige vertrocknet waren.

V. 4. Die da sind von Israel. Jetzt wird der Grund ganz klar ausgesprochen, weshalb den Paulus die Verwerfung seines Volkes so quälte, dass er bereit gewesen wäre, es durch sein eignes Verderben zu erlösen: sie waren von Israel! Unter der gleichen Angst stand Mose, als er aus dem Buche des Lebens gestrichen sein wollte (2. Mose 32, 32): dass doch nur Abrahams heiliges, auserwähltes Geschlecht nicht vernichtet werden möchte! Neben der menschlichen Zuneigung schlagen also andere Gründe durch, welche den Apostel an die Juden banden: Gott hatte ihnen besondere Vorzüge geschenkt und sie weit über die Stufe der übrigen Menschheit erhoben! So hören wir aus diesen anerkennenden Worten die Stimme der Liebe. Und obgleich Israel um seiner Undankbarkeit willen nicht mehr wert war, selbst nach diesen göttlichen Gaben beurteilt zu werden, so lässt ihm doch Paulus seine Würde. Wir lernen daraus, dass die Gottlosen niemals die guten Gaben Gottes derartig beschmutzen können, dass diese selbst nicht voller Lob und Ansehen bleiben müssten. Nur die Menschen, welche Gottes Gaben missbrauchen, empfangen deshalb größere Verdammnis. Wir dürfen, weil die Gottlosen selbst uns verhasst sind, nicht die Gaben für nichts achten, welche Gott ihnen verliehen hat. Und auf der andern Seite bedarf es großer Weisheit, dass wir um einer gerechten Schätzung und Anerkennung dieser Gaben willen die Gottlosen nicht gar zu sehr erheben oder dass unsere Anerkennung nicht gar als Schmeichelei erscheinen muss. Folgen wir vielmehr dem Beispiel des Paulus, welcher den Juden ihr Lob zuerkennt, um alsbald doch zu erklären, dass ohne Christus das alles nichts ist. Unter ihren Ruhmestiteln steht nun an der Spitze, dass sie Israeliten sind: denn das hatte sich Jakob als einen besonderen Segen erbeten, dass sein Name über seinen Kindern genannt werden solle (1. Mose 48, 16).

Welchen gehört die Kindschaft. Denn Gott hatte sie vor allen andern Völkern zu seinem Eigentum erwählt und zu seinen Kindern angenommen, wie er oft genug bei Moses und den Propheten davon Zeugnis gibt. Die Israeliten heißen sogar nicht bloß Kinder, sondern bald Gottes erstgeborene, bald seine geliebten Söhne. 2. Mose 4, 22: „Israel ist mein erstgeborener Sohn.“ Jer. 31, 9.20: „Ich bin Israels Vater, so ist Ephraim mein erstgeborener Sohn.“ „Ist nicht Ephraim mein teurer Sohn und mein trautes Kind? Darum bricht mir mein Herz gegen ihn, dass ich mich sein erbarmen muss, spricht der Herr.“ Mit solchen Worten will der Herr nicht bloß seine Güte gegen Israel preisen, sondern auch die Herrlichkeit der Kindschaft aufzeigen, unter deren Bilde die Verheißung des himmlischen Erbes sich birgt.

„Herrlichkeit“ nennt Paulus den besondern Vorzug Israels vor den andern Völkern, welcher unter anderem vernehmlich darin bestand, dass Gottes Herrlichkeit unter seinem Volke wohnte. Deren besonderes Zeichen war die Bundeslade, an welcher Gott sein Volk lehrte und erhörte, um so seine Macht in dem Beistand zu erweisen, den er ihm gewährte. Unter diesem Gesichtspunkte hieß dasselbe geradezu „die Herrlichkeit Gottes“ (1. Sam. 4, 22). Weiter nennt der Apostel als zwei besondere Stücke den Bund und die Verheißungen. Ein „Bund“ wird mit besonderen und feierlichen Worten abgeschlossen und enthält gegenseitige Verpflichtungen. Gemeint ist hauptsächlich der Bund mit Abraham. „Verheißungen“ dagegen finden wir überall in der Schrift zerstreut. Gott gab sie seinem Volke, mit welchem er einmal den Bund geschlossen hatte, immer wieder. Sie hängen mit dem Bunde als ihrem zusammenhaltenden Mittelpunkte zusammen, wie die besonderen Durchhilfen, mit welchen Gott den Seinen seine Gnade bezeugt, aus dem einen Quell der Erwählung fließen. Das Gesetz war ja nichts anderes als die Erneuerung jenes Bundes. „Gesetz“ bezieht sich also wohl vornehmlich darauf, dass Gott selbst dieses Volkes Richter war. Denn es war eine besondere Zier des Volkes, dass Gott ihm das Gesetz gab. Rühmen sich andere des Solon oder des Lykurg – wie viel mehr kann man sich des Herrn rühmen! (Vgl. 5. Mose 4, 32.33) Unter dem Gottesdienst wird derjenige Teil des Gesetzes verstanden, der sich mit der gesetzmäßigen Weise der Verehrung Gottes beschäftigt, nämlich mit den Zeremonien und Riten. Alle diese Dinge waren Recht, sofern Gott sie anordnete: was die Menschen neben diesem Befehl Gottes erdichten, bedeutet nur eine Entweihung des Gottesdienstes.

V. 5. Welcher auch sind die Väter. Auch das war nicht bedeutungslos, dass Israel von heiligen und gottgeliebten Männern abstammte. Denn Gott hat frommen Vätern seine Barmherzigkeit auch für ihre Kinder verheißen, bis ins tausendste Glied, mit ausdrücklichen Worten namentlich dem Abraham, Isaak und Jakob (1. Mose 17, 4 und öfter). Dabei verschlägt es nichts, dass solche Verheißung an sich, wenn man sie von der Furcht Gottes und einem heiligen Leben losreißt, unnütz und fruchtlos erscheinen muss. Denn eben dasselbe ist auch bei dem „Gottesdienst“ und der „Herrlichkeit“ der Fall (vgl. Jes. 1, 11; 60, 1; Jer. 7, 4). Da aber Gott alle diese Dinge besonderer Anerkennung würdigt, wenn der Ernst einer wahren Frömmigkeit hinzukommt, so verzeichnet sie Paulus mit Recht unter Israels Vorzügen. Sind doch die Juden auch nach Apg. 3, 25 einfach deshalb Erben der Verheißungen, weil sie Nachkommen ihrer Vorväter sind.

Und aus welchen (natürlich nicht den Vätern, sondern den Juden) Christus herkommt nach dem Fleisch. Damit berührt die Rede den abschließenden Vorzug Israels. Oder sollte es gar nichts bedeuten, mit dem Erlöser der Welt blutsverwandt zu sein? Hat Christus das ganze Menschengeschlecht hoch geehrt, da er sich in die Gemeinschaft seiner Natur begab, wie viel mehr das Volk, mit welchem er eine so enge Verbindung einging! Freilich muss man dabei immer im Auge behalten, dass diese Gnadengabe der Verwandtschaft, abgesehen von der Frömmigkeit, nichts nützt, ja höchstens eine schwerere Verurteilung begründen kann. Die ganze Ausdrucksweise unserer Stelle macht dieselbe sehr wichtig für die Erkenntnis der zwei getrennten und doch zur Einheit der Person verbundenen Naturen in Christus. Wenn es heißt, Christus komme aus den Juden her, so deutet dieser Ausdruck auf seine wahre Menschlichkeit. Heißt es aber weiter: „nach dem Fleische“, so erinnert dies daran, dass Christus noch etwas Höheres besitzt als das Fleisch. Wir haben hier also einen deutlichen Unterschied zwischen der menschlichen und göttlichen Natur. Und doch werden diese beiden Naturen wieder zur Einheit zusammengefasst: denn derselbe Christus, der nach dem Fleische aus Israel stammt, ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Es versteht sich von selbst, dass solche Prädikate nur dem einen ewigen Gott zukommen. Denn an einer andern Stelle sagt Paulus (1. Tim. 1, 17), dass allein Gott es ist, dem Ehre und Preis gebührt. Denn diejenigen Ausleger, welche dies letzte Satzglied abreißen und einen neuen Satz daraus machen

(Man übersetzt dann: „Gott, der über allem waltet, sei gelobt in Ewigkeit.“),

um dieses deutliche Zeugnis der Gottheit Christi zu beseitigen, wollen am hellen Tage das Licht nicht sehen. Es begreift sich sehr gut, dass im inneren Kampfe mit dem Anstoß Paulus seine Gedanken absichtlich zu Christi ewiger Herrlichkeit erhebt, nicht bloß um sich selbst zu stärken, sondern um durch seinen Vorgang andern den Mut des Glaubens zu erhöhen.

6 Aber nicht sage ich solches, als ob Gottes Wort darum aus sei. Denn es sind nicht alle Israeliter, die von Israel sind; 7 auch nicht alle, die Abrahams Same sind, sind darum auch Kinder. Sondern „in Isaak soll dir der Same genannt sein“, 8 das ist: nicht sind das Gottes Kinder, die nach dem Fleisch Kinder sind; sondern die Kinder der Verheißung werden für Samen gerechnet. 9 Denn dies ist ein Wort der Verheißung, da er spricht: „Um diese Zeit will ich kommen, und Sara soll einen Sohn haben.“

V. 6. Aber nicht sage ich solches usw. Aus der Tatsache, dass Paulus das Geschick und den Abfall seines Volkes zu beklagen hatte, scheint sich die entsetzliche Folgerung zu ergeben, dass der Bund, welchen Gott mit Abrahams Samen geschlossen, dahin gefallen sei. Denn wenn Gottes Gnade von dem Volke ließ, war ja der Bund zerbrochen. Diesem entsetzlichen Gedanken kommt Paulus nun zuvor und zeigt, wie trotz aller Blindheit der Juden Gottes Gnade in diesem Volke doch fortwährend eine Stätte behalten und so der Bund in seiner Wahrheit erhalten geblieben sei.

Denn es sind nicht alle usw. Der Satz will besagen, dass die Verheißung dem Abraham und seinem Samen gar nicht in dem Sinne gegeben sei, dass die Erbschaft sich auf jeden einzelnen unter seinen Nachkommen bezöge. Vielmehr hindert der Abfall einiger Leute gar nicht, dass der Bund seine volle und sichere Geltung behauptet. Um aber richtig zu fassen, mit welchen Bedingungen und Verheißungen Gott die Nachkommenschaft Abrahams als sein Eigentumsvolk angenommen, müssen wir eine doppelte Betrachtung anstellen. Die eine Seite der Sache ist, dass die dem Abraham gegebene Verheißung sich auf alle seine leiblichen Nachkommen bezieht; denn sie wird allen ohne Ausnahme angeboten. In diesem Sinne heißen sie alle Erben und Nachkommen des mit Abraham geschlossenen Bundes oder, wie die Schrift sagt, Kinder der Verheißung (V. 8). Denn da es Gottes Befehl war, dass Ismael und Esau ganz ebenso wie Isaak und Jakob das Zeichen und Siegel des Bundes empfangen sollten, so ersieht man daraus, dass sie ihm gegenüber nicht gänzlich fremd sein sollten. Man müsste denn diese Beschneidung, die ihnen nach Gottes Ordnung zuteil ward, rein für nichts achten, was doch aber eine Lästerung Gottes wäre. Das war es auch, was der Apostel meinte, wenn er von Israel trotz seines Unglaubens sagte (V. 5): „welchem gehört der Bund.“ Und Petrus (Apg. 3, 25) nennt die Juden „des Bundes Kinder“, weil sie Nachkommen der Propheten sind. Die andere Seite der Sache ist die: als Kinder der Verheißung im eigentlichen Sinne gelten nur diejenigen, bei denen irgendeine Kraft und Wirkung davon offenbar wird. Unter diesem Gesichtspunkte sagt Paulus hier, dass nicht alle Kinder Abrahams auch Kinder Gottes seien, obgleich doch Gott mit ihnen einen Bund gemacht hatte. Denn nur wenige standen im Glauben dieses Testamentes. In Summa: wo das ganze Volk ein Erbteil und Eigentum Gottes genannt wird, ist die Meinung, Gott habe es insofern in seine Gemeinschaft aufgenommen, als er ihm die Verheißung des Heils anbot und mit dem Zeichen der Beschneidung versiegelte. Weil nun aber viele in ihrer Undankbarkeit diese Annahme zur Gotteskindschaft verschmähen, also tatsächlich nie in einen persönlichen Besitz dieser Gabe gelangen, so geht hinsichtlich der wirklichen Erfüllung der Verheißung mitten durch Israel eine Spaltung. Will sich jemand darüber wundern, dass man bei den meisten Juden nichts von dieser eigentlichen Erfüllung sieht, so sagt Paulus: diese waren eben nicht in Gottes wahrer Erwählung begriffen. Mit andern Worten: die allgemeine Erwählung des jüdischen Volkes hindert nicht, dass Gottes verborgener Ratschluss in diesem Kreise noch eine besondere Auswahl trifft, wie er will. Es ist schon eine herrliche Offenbarung freier Gnade, wenn Gott sich herablässt, mit einem ganzen Volke einen Bund des Lebens zu schließen: aber noch viel größer ist die Gnade in dieser tieferen und verborgenen Stufe einer zweiten Erwählung, die sich auf einen engeren Kreis beschränkt.

V. 7. Sondern „in Isaak soll dir der Name genannt sein.“ Paulus verweilt noch bei dem Gedanken, dass die verborgene Erwählung Gottes höher steht als die äußere Berufung, dass sie aber mit ihr nicht streitet, sondern vielmehr dazu dient, sie zu bestätigen und zu vollenden.

Um beides der Reihe nach zu beweisen, nimmt er zuerst den Gedanken auf, dass es keineswegs in der Meinung des Bundes gelegen habe, Gottes Erwählung mechanisch an Abrahams leibliche Nachkommenschaft zu binden, Zum Beweise dient ein ganz besonders passendes Beispiel. Denn wenn es überhaupt eine echte, in den Bund einbegriffene Nachkommenschaft geben sollte, so musste dies doch wohl vor allem bei der ersten Generation zutreffen. Und nun sehen wir, dass gerade unter den eigenen Kindern Abrahams, zu des Erzvaters Lebzeiten, da die Verheißung noch ganz neu und frisch war, eines von der wahren Nachkommenschaft ausgeschlossen wird! Wie viel mehr kann solches bei späteren Geschlechtern vorkommen! Der beigebrachte Spruch stammt aus 1. Mose 17, 19.20 (für die wörtliche Form vgl. 21, 12), wo Gott dem Abraham die Antwort gibt, dass sein Gebet um Ismael erhört sei, dass aber ein anderer Sohn es sein werde, auf welchem der verheißene Segen ruhen solle. Daraus folgt, dass durch eine besondere Gnade bestimmte Menschen aus dem erwählten Volke erwählt werden, in welchen die allgemeine Annahme zur Kindschaft erst wirksam und vollgültig wird.

V. 8. Das ist: nicht sind das Gottes Kinder usw. Jetzt zieht Paulus aus dem Worte der Schrift die abschließende Folgerung: wenn in Isaak, nicht in Ismael der Same genannt wird, und der letzte doch nicht minder Abrahams Sohn ist als der erstere, so darf man nicht alle leiblichen Kinder als solche zu dem echten „Samen“ rechnen, sondern die Verheißung erfüllt sich in besonderer Weise an bestimmten Menschen und zielt nicht unterschiedslos auf alle. Nach dem Fleisch Kinder sind diejenigen, die außer der fleischlichen Herkunft nichts Besseres aufzuweisen haben, Kinder der Verheißung, die der Herr in besonderer Weise bezeichnet hat.

V. 9. Denn dies ist ein Wort der Verheißung usw. Der Apostel zieht noch ein zweites Schriftwort bei, dessen Anwendung ein treffliches Zeugnis dafür bietet, mit welcher Genauigkeit und Geschicklichkeit Paulus die Schrift behandelt. Er will sagen: da der Herr noch in die Zukunft deutet, dass er kommen will und Abraham einen Sohn von der Sara haben soll, so gibt er zu verstehen, dass der Segen noch nicht vorhanden sei, sondern noch ausstehe. Nun war aber, als dies Wort gesprochen ward, Ismael schon geboren: also war Ismael nicht der Träger des Segens Gottes. Nebenher wollen wir auch anmerken, wie vorsichtig der Gedanke des Apostels fortschreitet, um die Juden nicht zu erbittern. Zuerst wird einfach der Tatbestand mitgeteilt, der Grund desselben bleibt noch unberührt. Erst später wird diese Quelle eröffnet werden.

10 Nicht allein aber ist´ s mit dem also, sondern auch, da Rebekka von dem einen, unserm Vater Isaak, schwanger ward: 11 ehe die Kinder geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten – auf dass der Vorsatz Gottes bestünde nach der Wahl, 12 nicht aus Verdienst der Werke, sondern aus Gnade des Berufers -, ward zu ihr gesagt: „Der Ältere soll dienstbar werden dem Jüngeren.“ 13 Wie denn geschrieben steht: „Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehasst.“

V. 10. Nicht allein aber usw. Die Rede ist, wie öfters in diesem Kapitel, in ihrer Form wiederum abgebrochen. Doch bleibt der Sinn klar: ein verschiedenes Verhältnis zur Verheißung des Erbes lässt sich nicht bloß bei den Söhnen Abrahams beobachten, sondern noch deutlicher bei Jakob und Esau. Denn bei dem ersteren Falle ließe sich immerhin noch geltend machen, dass Isaak und Ismael nur Halbbrüder waren, und zwar der eine der Sohn einer Magd. Jakob und Esau dagegen waren volle Brüder, und sogar Zwillinge: und doch wird der eine vom Herrn verworfen, der andere angenommen. So muss ja wohl feststehen, dass die Verheißung nicht unterschiedslos allen leiblichen Kindern gilt.

V. 11. Ehe die Kinder geboren waren. Damit enthüllt Paulus den tiefsten Grund des Unterschieds, welchen er bisher nur festgestellt, aber nur sehr andeutungsweise erklärt hat. Dass unter den leiblichen Nachkommen Abrahams, welche doch alle durch die Beschneidung zur Genossenschaft des Bundes gehörten, dennoch nicht überall gleichmäßig die Gnade Gottes sich wirksam zeigte, liegt an der freien, von menschlichen Einflüssen gänzlich unabhängigen Erwählung Gottes. Ein höherer Grund für die Errettung der Frommen und das Verderben der Verworfenen, als auf der einen Seite Gottes Güte und auf der andern seine strenge Gerechtigkeit, lässt sich nicht finden. Als erster Satz muss also feststehen: wie die Auswahl des Volkes Israel aus allen übrigen Völkern lediglich auf dem Segen des Bundes Gottes beruhte, ganz ebenso macht Gottes Erwählung auch zwischen den einzelnen Gliedern dieses Volkes einen Unterschied: die einen bestimmt er zur Seligkeit, die andern zur ewigen Verdammnis. Der zweite Satz lautet: dieser Erwählung Grund ist lediglich Gottes Güte, die sich nach Adams Fall erbarmend herablässt und jede Rücksicht auf Werke annimmt, welche sie will. Drittens wird behauptet: der Herr ist in seiner erwählenden Gnade frei und nicht daran gebunden, dass er sie allen Menschen gleicher weise mitteilen müsse. Vielmehr übergeht Gott, welchen er will, und nimmt zu Gnaden auf, welchen er will. Das alles liegt in den knappen Worten des Apostels. Dabei erinnern die Worte „und weder Gutes noch Böses getan hatten“ ausdrücklich daran, dass Gott, da er einen Unterschied machte, die Werke, die noch gar nicht vorlagen, tatsächlich nicht in Betracht ziehen konnte. Freilich sagen demgegenüber manche Ausleger, dass die Erwählung doch auf das Verdienst der Werke Rücksicht nehmen könne, insofern ja Gott voraussieht, wie die Menschen sich verhalten, und ob sie also seiner Gnade wert oder unwert sein werden. Aber diese Ausleger, die ja nun doch wohl nicht scharfsichtiger sind als Paulus selbst, setzen sich in Widerspruch mit einem der allerersten und selbstverständlichsten Grundsätze der Theologie, dass nämlich Gott bei der verderbten menschlichen Natur, wie sie sich in Jakob und Esau gleicher weise vorfand, überhaupt nichts entdecken konnte, was ihn zur Gnade hätte zwingen müssen. Wenn es heißt, sie hätten beide weder Gutes noch Böses getan, so steht dahinter doch die Voraussetzung: sie waren aber beide Adams Kinder, von Natur Sünder, und sie hatten beide keinen Schimmer von Gerechtigkeit aufzuweisen. Es wird ganz vergeblich sein, diese klare Meinung des Apostels mit oberflächlichen Redereien zu verdunkeln. Wenn die Erbsünde, noch ehe sie eine Tatsünde aus sich heraussetzt, hinreicht, um einem Menschen die Verdammnis zu bereiten, so folgt daraus, dass Esau ganz mit Recht verworfen wurde: denn er war von Natur ein Kind des Zornes. Auf diesem Hintergrunde betont nun Paulus die volle Freiheit der göttlichen Erwählung: auf dass der Vorsatz Gottes bestünde nach der Wahl. Mit jedem Wort betont Paulus die gnädige Erwählung Gottes. Gegen jegliches Verdienst der Werke steht Gottes Vorsatz, der allein auf seinem Wohlgefallen ruht. Und um auch den letzten Zweifel zu beseitigen, wird hinzugefügt: nach der Wahl. Endlich zur vollsten Verdeutlichung des Tatbestandes:

V. 12. Nicht aus Verdienst der Werke, sondern aus Gnade des Berufers. Die Erwählung muss sich ja wohl auf Gottes freien Vorsatz gründen, weil von den Brüdern der eine verworfen, der andere angenommen wird, und weil dies geschieht, noch ehe sie geboren wurden und etwas Gutes oder Böses tun konnten. Wer also den Grund des Unterschiedes irgendwie noch in den Werken suchen will, muss schon wider Gottes Vorsatz ankämpfen. Paulus will jede Rücksicht auf die Werke ausgeschlossen wissen. Deshalb erinnert er ausdrücklich noch an die Gnade des Berufers. Hier liegt der alleinige Grund der Erwählung, nicht in den Werken. Gottes Vorsatz allein macht unsere Erwählung fest. Ein Verdienst könnte nur insofern in Betracht kommen, als wir den Tod verdienen. Auf unsere Würdigkeit sieht Gott nicht, weil sie nicht existiert. Gottes freie Gnade allein führt das Regiment. Die Lehre, dass Gott die Menschen erwählt oder verwirft, je nachdem er voraussieht, ob jemand seiner Gnade würdig oder unwürdig sein werde -, ist falsch und dem Worte Gottes zuwider.

„Der Ältere soll dienstbar werden dem Jüngeren.“ Welcher Unterschied zwischen Isaaks Kindern, die doch noch im Mutterleibe verborgen sind! So verkündet es der Spruch Gottes: Gott will dem Jüngeren seine besondere Gunst zuwenden, die er dem Älteren entzieht. Freilich bezog sich dieser Spruch zunächst auf das Recht der Erstgeburt: aber eben darin lag ja ein Hinweis auf ein Größeres, und darin wurde Gottes Wille kund. Das ersieht man ganz besonders deutlich, wenn man bedenkt, wie wenig doch eigentlich das Erstgeburtsrecht dem Jakob äußerlich genützt hat. Um desselben willen gerät er in die äußerste Gefahr und vermag sich nur dadurch zu retten, dass er Vaterhaus und Vaterland verlässt. In der Fremde erfährt er die unmenschlichste Behandlung. Als er zurückgekehrt, muss er sich voller Furcht und Sorge um sein Leben dem Bruder zu Füßen werfen und demütig seine Verzeihung erbitten: und er lebt nur von dieser Vergebung. Wo ist die Herrschaft über den Bruder, von dessen gutem Willen sein doch abhängt? Das Vorzugsrecht, welches Gottes Spruch verheißen hatte, lag also noch auf einer andern Höhe.

V. 13. Wie denn geschrieben steht: Jakob habe ich geliebt usw. Dieses noch deutlichere Schriftzeugnis beweist, dass Gottes Spruch an Rebekka allerdings mit Recht hier beigebracht werden konnte. Dass Jakob herrschen und Esau dienen sollte, war nur eine eigenartige Ausdrucksweise für die geistliche Stellung der beiden Brüder. Und Jakob war in den Gnadenstand ohne sein Verdienst, durch Gottes Güte, aufgenommen worden. Unser Prophetenspruch zeigt also den Grund an, weshalb der Herr dem Jakob das Erstgeburtsrecht übertrug. Er stammt aus Mal. 1, 2.3. Dort will der Herr den Juden ihre Undankbarkeit vorwerfen und erinnert sie an seine früheren Wohltaten. Er ruft ihnen zu: ich habe euch geliebt. Und er fügt bei, wann diese Liebe ihren Anfang genommen: ist nicht Jakob Esaus Bruder? Gott will sagen: was hatte er denn für einen Vorzug, dass ich ihn seinem Bruder vorziehen musste? Gar keinen! Beide besaßen den gleichen Anspruch. Höchstens, dass nach dem Rechte der Natur der Jüngere hinter dem Erstgeborenen gar noch hätte zurückstehen müssen! Ich aber habe jenen angenommen und diesen verworfen. Allein meine Erbarmung hat mich dabei geleitet, nicht der Blick auf Werke. Und nun hatte ich mit der gleichen Erbarmung Jakobs Samen getragen und euch zu meinem Volke gemacht: die Edomiter aber, die Nachkommen Esaus, hatte ich verworfen. Also seid ihr umso verdammenswerter, weil die Erinnerung an solche Gnade euch noch nicht zu reizen vermag, mein göttliches Wesen zu verehren! Freilich werden an dieser Stelle auch die irdischen Segnungen erwähnt, mit welchen Gott das Volk Israel bedacht hatte: aber das alles will doch nur als ein Zeichen jener ewigen Gnade verstanden sein. Denn wo Gottes Zorn ist, da ist der Tod, wo seine Liebe, da ist das Leben.

14 Was wollen wir denn hier sagen? Ist denn Gott ungerecht? Das sei ferne! 15 Denn er spricht zu Mose: „Welchem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und welches ich mich erbarme, des erbarme ich mich.“ 16 So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen. 17 Denn die Schrift sagt zum Pharao: „Ebendarum habe ich dich erweckt, dass ich an dir meine Macht erzeige, auf dass mein Name verkündigt werde in allen Landen.“ 18 So erbarmt er sich nun, welches er will, und verstockt, welchen er will.

V. 14. Was wollen wir denn hier sagen? Das Fleisch kann Gottes Weisheit nicht vernehmen, ohne sofort eine Reihe von widerspenstigen Fragen aufzuwerfen und von Gott gewissermaßen Rechenschaft zu fordern. So oft der Apostel also irgendein besonderes Geheimnis verhandelt, räumt er stets die Schwierigkeiten aus dem Wege, in welchen sich die Gedanken der Menschen zu verwickeln pflegen. Namentlich die Lehre von der Erwählung bietet ja mannigfaltige Anstöße. Der menschliche Geist verläuft sich hier in lauter Irrwege, aus welchen er den Ausweg nicht mehr findet. Wie ist nun da zu helfen? Nicht etwa dadurch, dass man von dieser Lehre grundsätzlich schweigt. Denn da der Heilige Geist uns nie eine überflüssige Lehre vorträgt, so birgt auch diese Lehre von der Erwählung ihren großen Nutzen, wenn man sie nur innerhalb der Schranken des Wortes Gottes verhandelt. Wir wollen also nichts zu wissen begehren, als was die Schrift lehrt: wo Gott seinen heiligen Mund schließt, da wollen auch wir auf den Versuch verzichten, unsern Weg noch weiter fortzusetzen. Doch wir sind Menschen und fassen von Natur viele törichte Gedanken: also wollen wir hören, was Paulus zu deren Abwehr sagt.

Ist denn Gott ungerecht? Unglaublicher Vorwitz des menschlichen Geistes, lieber Gott der Ungerechtigkeit zu zeihen als die eigene Blindheit zuzugestehen! Das Fleisch hält es für ungerecht, dass Gott den einen übergeht, den andern annimmt. Um diesen Anstoß zu beheben, verhandelt Paulus die Frage in zwei Abschnitten: zuerst spricht er von den Erwählten, dann von den Verworfenen; bei den ersteren sollen wir Gottes Barmherzigkeit ins Auge fassen, bei den letzteren sein gerechtes Gericht anerkennen. Zunächst gibt Paulus seinen Abscheu gegen den Gedanken zu erkennen, dass Gott ungerecht sein könne: das sei ferne! Dann geht er zur ordnungsmäßigen Besprechung der angegebenen zwei Teil über:

V. 15. Denn er spricht zu Mose. Was zuerst die Erwählten angeht, so kann von einer Ungerechtigkeit Gottes keine Rede sein: denn ihnen lässt Gott nach seinem Wohlgefallen Gnade zuteil werden. In diesem Sinne beruft sich der Apostel auf die Antwort, welche Mose vom Herrn empfing, als er für das Heil des ganzen Volkes Fürbitte tat: „Welchem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und welches ich mich erbarme, des erbarme ich mich.“ Mit diesem Spruch erklärt der Herr, dass er keinem Sterblichen etwas schuldet, dass, was er gibt, ein Geschenk der Gnade ist; weiter, dass er die Freiheit hat, seine Gnade zu erweisen, welchem er will; endlich, dass sich eine höhere Ursache als sein Wille nicht denken lässt, wenn er nicht allen, sondern nur bestimmten Menschen seine Wohltaten und sein Wohlwollen zuwendet. Denn die Worte klingen so, als wolle Gott sagen: wenn ich einmal beschlossen habe, mich eines Menschen zu erbarmen, so werde ich ihm dieses Erbarmen nie wieder entziehen; und mit ewiger Gnade werde ich über denen walten, die ich einmal begnadigt habe. Als oberste Ursache seiner Gnade bezeichnet also Gott hier den freien Entschluss seines Willens, und zugleich gibt er zu verstehen, dass er seine besondere Barmherzigkeit ganz bestimmten Menschen zugedacht habe. So trifft dieser Spruch mit der Meinung des Paulus zusammen, dass Gottes Erbarmen ein freies, nicht irgendwie gebundenes ist, und dass es sich wenden kann, wohin es will. Man nimmt aber dem Herrn diese Freiheit, wenn man seine Erwählung von irgendwelchen Gründen und Anlässen außer ihr abhängig denkt.

V. 16. So liegt es nun nicht an jemandes Wollen usw. Aus dem soeben beigebrachten Schriftwort zieht Paulus die Folgerung, die auch ohne Zweifel daraus gezogen werden muss, dass unsere Erwählung sicher weder auf unsern Fleiß, noch auf unsern Eifer, noch auf unsere Vorsätze gründet, sondern ganz auf Gottes Rat. Es soll niemand glauben, dass die Auserwählten deshalb erwählt sind, weil sie es verdient, oder weil sie Gottes Gnade auf irgendeine Weise sich erworben hätten, oder endlich weil in ihnen wenigstens ein Schimmer von Würdigkeit aufleuchtete, an welchen Gott anknüpfen könnte. Vielmehr soll die einfache Wahrheit gelten: nicht unser Wille macht es oder unsere Anstrengungen (denn dies versteht Paulus unter „Laufen“), dass wir unter die Auserwählten zählen, sondern allein Gottes Güte, die uns zu Gnaden annahm ohne unser Wollen und Versuchen, ja selbst ohne unser Denken. Freilich schieben manche Ausleger dem Worte des Paulus noch den Gedanken unter: unsere Anstrengungen haben zwar eine gewisse Kraft, sie erreichen aber ihre Ziel nicht, wenn Gottes Gnade nicht unterstützend eingreift. Doch das ist eine ungesalzene Rede. Denn dem Apostel kommt es hier sicherlich nicht darauf an, zu zeigen, was wir aus uns vermögen, sondern vielmehr alle unsere Anstrengungen auszuschalten. Auf der andern Seite soll freilich auch nicht gesagt sein, dass man der Gnade den meisten Raum schafft, wenn man müßig und träge die Hände in den Schoß legt. Denn wenn auch unser eigner Eifer nichts vermag, so erweist sich doch der Eifer, den Gott uns einflößt, überaus lebendig. Paulus hat unsern Satz nicht geschrieben, damit wir den Geist Gottes und sein Feuer durch unsere Widerspenstigkeit oder Trägheit ersticken, sondern damit wir erkennen, dass von ihm stammt, was wir haben. So sollen wir lernen, von ihm alles zu erbitten und zu erhoffen, und ihm alles zu danken, indem wir unsere Seligkeit mit Furcht und Zittern schaffen. – Eine andere sophistische und faule Ausflucht hat Pelagius 1) erfunden, um die wirkliche Meinung des Paulus zu beseitigen: es liege insofern nicht an unserm Wollen oder Laufen, als dieses allein, ohne die Beihilfe der Gnade Gottes, allerdings nichts ausrichten könne. Die trefflichste Widerlegung dieser unbesonnenen Rede hat bereits Augustin gegeben: wenn Paulus nur deshalb die Erwählung nicht auf den Willen des Menschen gründen will, weil dieser nicht die einzige, sondern nur eine teilweise Ursache derselben sei, so müsste sich auch umgekehrt sagen lassen: so liegt es nun nicht an Gottes Erbarmen, sondern an unserm Wollen und Laufen. Soll es sich einmal um ein gleichmäßiges Zusammenwirken beider Faktoren handeln, so versteht es sich ja von selbst, dass eine solche Umkehrung erlaubt sein muss. Freilich ist der Satz, der auf diese Weise zustande kommt, so unmöglich, dass ihm seine eigene Torheit das Urteil spricht. Es bleibt also dabei: Paulus schreibt das Heil der Auserwählten in dem Sinne der göttlichen Gnade zu, dass der Anstrengung des Menschen kein Anteil daran verbleibt.

V. 17. Denn die Schrift sagt zum Pharao usw. Jetzt wendet sich die Rede zum zweiten Stück, zur Verwerfung der Gottlosen. Hier ist ja freilich der Anstoß noch schwerer. Darum wendet der Apostel besonderen Fleiß daran, zu zeigen, dass, wenn Gott verwirft, welche er will, sein Rat nicht bloß untadelig ist, sondern sogar Bewunderung verdient wegen seiner Weisheit und Billigkeit. Er übernimmt aus 2. Mose 9, 16 das Wort, in welchem Gott erklärt, er sei es gewesen, der den Pharao in einer bestimmten Absicht erweckt habe: während er selbst alle Kraft des Widerspruchs und Widerstandes gegen Gottes Macht aufbot, musste er, besiegt und unterworfen, zum Beispiel werden, dass Gottes Arm unbesieglich ist und dass keine Menschenkraft ihn ertragen, geschweige denn zerbrechen kann. Zwei Dinge müssen dabei in Betracht gezogen werden: die Bestimmung Pharaos zum Verderben, welche sich auf einen jedenfalls gerechten, aber doch undurchsichtigen Ratschluss Gottes gründet -, und deren Zweck, welcher darin besteht, dass Gottes Name gepriesen und verkündigt werden soll. Auf diesen Zweck fällt der Hauptnachdruck. Denn wenn es mit dieser Verstockung eine solche Bewandtnis hat, dass sie einen Anlass zur Verherrlichung des göttlichen Namens gibt, so darf man um ihretwillen Gott nicht der Ungerechtigkeit zeihen: denn Gottes Verherrlichung und Ungerechtigkeit sind schneidende Gegensätze. – Da aber viele Ausleger auch dieser Stelle ihre Härte benehmen wollen und sie auf diese Weise verdrehen, so wollen wir darauf hinweisen, dass hier steht: ich habe dich erweckt, oder ganz genau nach dem hebräischen Texte: ich habe dich hingestellt. Wenn also Gott beweisen will, dass der Widerstand des Pharao die Erlösung seines Volkes nicht hindern könne, so sagt er nicht bloß: ich habe deinen Grimm vorausgesehen, aber ich habe auch Mittel bereit, ihn im Zaume zu halten -, sondern: ich habe es mit Vorbedacht so geordnet, und zwar zu dem Zwecke, um einen desto herrlicheren Beweis meiner Macht zu geben. Wenn man also den Paulus sagen lässt, dass Gott den Pharao aufbehalten habe für seine bestimmte Zeit, so verkehrt man seinen Gedanken: es ist ausdrücklich von dem Anfang seines Auftretens die Rede, den Gott herbeigeführt hat. Gott hat dem Pharao geradezu seine Rolle zugeteilt. Man wird vergeblich mit Gott streiten und von ihm Rechenschaft fordern. Denn er kommt allen Einwürfen selbst zuvor, tritt feierlich hin und verkündet, dass die Verworfenen aus dem verborgenen Abgrunde seiner Vorsehung stammen und dass er an ihnen seinen Namen verherrlichen will.

V. 18. So erbarmt er sich nun usw. Hier folgt der Schluss aus beiden bisher gesondert behandelten Gliedern. Paulus will bei uns bewirken, dass wir uns mit dem Unterschied, den Gottes Wille selbst zwischen den Auserwählten und Verworfenen macht, zufrieden geben. Hat Gott beschlossen, den einen das Licht zum Leben zu senden, den andern Verblendung zum Tode, so darf unser Denken über diesen seinen Willen nicht mehr emporsteigen. Es hat bei dem Sätzchen sein Bewenden: „welchen er will“. Weiter werden wir nie kommen. Im Übrigen erlaubt das Wort „verstocken“, welches die Schrift von Gott gebraucht, nicht – wie man wiederum zu mildern gesucht hat – an eine bloße Zulassung Gottes zu denken; es bezeichnet vielmehr eine eigentliche Tätigkeit des göttlichen Zornes. Denn alle äußeren Widerfahrnisse, welche zur Verblendung der Verworfenen dienen, sind Werkzeuge dieses Zornes. Satan selbst, der in den Herzen der Verworfenen wirkt, ist des göttlichen Zornes Diener und vermag ohne dessen Befehlt nichts auszurichten. Damit fällt wiederum die oberflächliche Ausflucht von Gottes bloßem Vorauswissen. Denn Paulus sagt nicht, dass der Herr den Sturz der Gottlosen vorausgesehen, sondern dass er ihn mit Absicht und Vorbedacht angeordnet habe. Wie auch Salomo (Spr. 16, 4) lehrt: „Der Herr macht – nicht sieht voraus – alles zu bestimmtem Ziel, auch den Gottlosen für den bösen Tag.“

19 So sagst du zu mir: Was beschuldigt er denn uns? Wer kann seinem Willen widerstehen? 20 Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich also? 21 Hat nicht ein Töpfer Macht, aus einem Klumpen zu machen ein Gefäß zu Ehren und das andere zu Unehren?

V. 19. So sagst du zu mir usw. Hier ist der Punkt, an welchem das Fleisch in den heftigsten Aufruhr gerät, wenn es vernimmt, dass der Untergang der Gottlosen auf Gottes Beschluss und Willen zurückgeführt werden soll. Der Apostel weiß sehr gut, dass die Mäuler der Gottlosen kräftig wider Gottes Gerechtigkeit bellen und sich nicht leicht stopfen lassen. So kommt er noch einmal ihrem Widerspruch zuvor. Was sie zu sagen haben, kleidet er in eine besonders zutreffende Form: sie begnügen sich nicht mit ihrer eignen Verteidigung, sondern machen geradezu Gott an ihrer Statt zum Angeklagten. Sie wälzen ihre Schuld auf ihn, und dann entrüsten sie sich über seine Macht. Sie müssen ja schließlich stille halten, aber sie tun es zähneknirschend und widerwillig: ihre Verdammnis empfinden sie als eine Vergewaltigung: hat Gott ein Recht, uns zu zürnen? Hat er uns doch selbst zu dem gemacht, was wir sind; denn er tut nach Gutdünken, was er will. Wenn er uns ins Verderben stößt, was straft er dann anders als was er selbst in uns getan hat? Wir können nicht mit ihm streiten. Er bleibt stärker als aller Widerstand. Also sein Gericht, welches das Verderben über uns verhängt, ist ungerecht, und seine zügellose Macht missbraucht er wider uns. – Was sagt nun Paulus zu solchen Reden?

V. 20. Ja, lieber Mensch, wer bist du denn usw. Diese erste Antwort schlägt die Lästerung einfach mit einem Hinweis auf die dem Menschen gebührende Stellung nieder. Dann aber folgt eine zweite, welche Gottes Gerechtigkeit gegen jede Anklage schützt. Dabei ist offensichtlich, dass Paulus einen höheren Grund als Gottes Willen keinesfalls in Betracht zieht. Er hätte ja sagen können, dass der Unterschied zwischen den Auserwählten und Verworfenen seine gerechten Ursachen habe. Warum gebraucht er nun eine solche kurze Widerlegung nicht, sondern rückt Gottes Willen an die höchste Stelle, so dass dieser alle andern Gründe ersetzen muss? Wenn die Annahme, auf welcher der gemachte Einwurf ruht, falsch gewesen wäre, dass nämlich Gott nach seinem Wohlgefallen verwirft und erwählt, je nachdem er einen Menschen seiner Gnade nicht würdigt oder ihn aus freiem Erbarmen liebt -, so hätte Paulus sicher nicht versäumt, sie zu widerlegen. Die Gottlosen erheben den Einspruch, dass von einer Schuld der Menschen nicht mehr die Rede sein könne, wenn über ihr Heil oder Verderben einfach Gottes Wille entscheidet. Sagt nun Paulus etwa, das sei gar nicht so? Im Gegenteil! Seine Antwort prägt bloß noch einmal ein, dass Gott über die Menschen beschließt, was er will. Aber vergebens werden die Menschen zu zornigem Kampfe aufstehen, weil Gott ein Recht hat, seinen Geschöpfen ein Los zu bestimmen, welches er will. Nun sagt man freilich, dem Paulus seien hier die Gründe ausgegangen, so fange er an zu schelten. Doch das ist eine Lästerung des Heiligen Geistes. Denn was Paulus allerdings sagen konnte, um Gottes Gerechtigkeit zu retten, wollte er schon jetzt am Anfang aussprechen, weil er nicht richtig verstanden worden wäre. So hält er auch diesen zweiten Grund in solchen Schranken, dass er eine volle Verteidigung noch nicht ergibt. Um die hier gegebene Darstellung der Gerechtigkeit Gottes recht zu erwägen, dazu bedarf es noch immer frommer Demut und eines ehrfürchtigen Sinnes. Paulus tut, was am meisten nötig war: er erinnert den Menschen an seine Stellung Gott gegenüber. Es ist, als riefe er uns zu: da du ein Mensch bist und weißt, dass du Staub und Asche bist, warum streitest du mit Gott über eine Sache, deren Verständnis dir immer zu hoch bleiben wird? In Summa: der Apostel sagt nicht, was er hätte sagen können, sondern was in Anbetracht unseres dürftigen Geistes am nötigsten war. Freche Menschen lästern zwar, dass Paulus die göttliche Erwählung und Verwerfung einfach behaupte, dass er aber einen wirklichen Grund zur Lösung der Schwierigkeit nicht beibringe und, vom Heiligen Geiste verlassen, nichts weiter zu sagen wisse. Als ob uns sein Stillschweigen nicht vielmehr eine Mahnung wäre, ein Geheimnis, welches unser Verstand nicht fasst, demütig anzubeten! Paulus weist die Keckheit der menschlichen Neugier in ihre Schranken. Wir sollen wissen, dass Gott nur deshalb zu reden aufhört, weil er weiß, dass wir die Fülle seiner Weisheit nicht mit unserm Maße zu messen vermögen. Er schont unsere Schwachheit und will uns zur Bescheidenheit und Nüchternheit anleiten.

Spricht auch ein Werk usw. Immer wieder drängt Paulus darauf, dass wir den Willen Gottes, wenn wir seinen Grund auch nicht durchschauen, für gerecht halten sollen. Paulus zeigt, wie man Gott seines Rechtes berauben würde, wenn man ihm die freie Verfügung über seine Kreaturen absprechen wollte. Das klingt allerdings für viele Ohren zu hart. Mancher glaubt auch, dass man Gott in ein schlechtes Licht setzt, wenn man ihm solche Freiheit zuschreibt. Als ob diese Leute mit ihrer Krittelei bessere Theologen wären als Paulus, welcher den Gläubigen als Regel der Demut vorhält, dass es gilt, Gottes Macht zu verehren, nicht aber nach dem eignen Maßstabe zu messen. In der Abwehr der hochmütigen Auflehnung wider Gott bedient sich der Apostel eines sehr passenden Bildes. Dieses wird nicht aus Jer. 18, 6, sondern aus Jes. 45, 9 entnommen sein. Denn bei Jeremia steht nur, Israel sei in Gottes Hand, welche um ihrer Sünde willen das Volk zerbrechen könne wie der Töpfer ein tönernes Gefäß. Jesaja aber enthüllt eine viel tiefere Wahrheit: „Weh dem, der mit seinem Schöpfer hadert, eine Scherbe wie andere irdene Scherben. Spricht auch der Ton zu seinem Schöpfer: was machst du?“ usw. Wenn der staubgeborene Mensch seinen Abstand von Gott ermisst, so hat er sicher keinen Grund, sich höher zu dünken als ein Töpfergefäß.

V. 21. Hat nicht ein Töpfer Macht usw. Hier steht der Grund, weshalb das Gebilde nicht mit seinem Bildner streiten darf. Denn alles, was der Bildner tut, ist sein eigenstes Recht. Dabei versteht Paulus unter „Macht“ nicht bloß die hinreichende Fähigkeit und Kraft, vermöge deren der Töpfer ausführen kann, was er will. Er denkt hauptsächlich an das ungeschmälerte Recht, welches er besitzt. Nicht von einer regellosen Kraftwirkung Gottes ist die Rede – eine solche gibt es nicht -, sondern von seinem innerlich begründeten Recht. Bei der Anwendung des Gleichnisses legt Paulus offenbar das Gewicht auf folgenden Gedanken: wie der Töpfer dem Ton nichts nimmt, er mag ihm nun eine Gestalt geben, welche er will, so nimmt auch Gott dem Menschen nichts, er mag ihn für eine Lage bestimmen, welche er will. Wir dürfen dabei nur nicht vergessen, dass man Gott ein Stück seiner Ehre rauben würde, wollte man ihm nicht die Gewalt zuerkennen, der Herr über Leben und Tod zu sein.

22 Derhalben, da Gott wollte Zorn erzeigen und kundtun seine Macht, hat er mit großer Geduld getragen die Gefäße des Zorns, die da zugerichtet sind zur Verdammnis; 23 auf dass er kundtäte den Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefäßen der Barmherzigkeit, die er bereitet hat zur Herrlichkeit.

V. 22. Derhalben usw. Eine zweite Antwort, welche in Kürze zeigt, dass Gottes Rat in diesem Stück zwar unbegreiflich ist, dass aber doch seine Gerechtigkeit nicht minder untadelig sich zeigt, wenn sie den Verworfenen das Verderben, als wenn sie den Auserwählten die Seligkeit bereitet. Allerdings will und kann der Apostel auch hier nicht erklären, warum die einen verworfen, die andern aber erwählt werden. Denn es wäre nicht recht gewesen, den Inhalt des geheimen Ratschlusses Gottes menschlichem Urteil zu unterstellen, und das Geheimnis hätte doch unenthüllt bleiben müssen. Paulus zügelt also unsere Neugier, damit sie nicht durchforsche, was doch alles Denken übersteigt, und zeigt doch zugleich, dass Gottes Erwählungsratschluss, soweit er uns überhaupt enthüllt ward, als vollkommen gerecht erscheinen muss. Der Satz „Wenn nun aber Gott … mit großer Geduld getragen hat“ usw., fordert die Ergänzung: wer wagt es dann noch, ihm deshalb Ungerechtigkeit vorzuwerfen? Der Gedanke ist nämlich der: diese Gefäße sind zum Verderben bereitet, d. h. dem Verderben geweiht und dafür bestimmt; es sind also Gefäße des Zornes, d. h. sie sind geschaffen und gebildet, um als Beweisstücke der göttlichen Strafe und des göttlichen Zornes zu dienen. Wenn sie nun Gott eine Zeitlang geduldig trägt und sie nicht im nächsten Augenblick zerschlägt, sondern das ihnen zugedachte Gericht aufschiebt -, und wenn er dies tut, einerseits um den Übrigen ein erschreckendes und darum heilsames Beispiel seines strengen Gerichts zu geben, andererseits um seine Macht zu zeigen, welcher die Kreaturen auf allerlei Weise dienen müssen, namentlich aber um den Reichtum seines Erbarmens über die Auserwählten desto sichtlicher und heller leuchten zu lassen -, was soll dann in solcher Anordnung des Tadels wert sein? Freilich verschweigt der Apostel, woher es kommt, dass es zum Verderben bereitete Gefäße gibt. Aber das ist begreiflich. Er kann nach seinen vorherigen Darlegungen voraussetzen, dass man den Grund in dem ewigen und unentwirrbaren Ratschluss Gotte suche. Und es ziemt sich, Gottes Gerechtigkeit lieber anzubeten, als sie durchschauen zu wollen. „Gefäße“ aber schreibt der Apostel im Sinne von „Werkzeuge“. Denn alle Bewegung aller Kreatur ist wie ein Mittel und Werkzeug göttlicher Kraft. Mit gutem Grunde heißen danach wir Gläubigen (V. 23) Gefäße der Barmherzigkeit, denn wir sind Gottes Werkzeuge zur Offenbarung seiner Barmherzigkeit, die Verworfenen aber Gefäße des Zorns; denn sie dienen dazu, dass man Gottes Gerichte schaue.

V. 23. Auf dass er kundtäte den Reichtum usw. Dies ist ein neuer Anlass, an dem Verderben der Verworfenen Gottes Herrlichkeit zu schauen: dies Verderben rückt den Reichtum der Güte Gottes über die Auserwählten in ein desto helleres Licht. Oder gäbe es noch einen andern Unterschied zwischen den Auserwählten und Verworfenen, als bloß den, dass der Herr die ersteren aus dem gleichen Abgrunde des allgemeinen Verderbens herausgezogen hat? Und zwar nicht auf Grund irgendeines eigenen Verdienstes, sondern lediglich nach dem Wohlgefallen seiner Gnade! Kräftiger also kann man sich schwerlich von Gottes unermesslicher Gnade gegen seine Auserwählten überzeugen, als wenn man das Elend derer ansieht, welche unter seinem Zorn bleiben. Wenn der Apostel zweimal sagt: „Herrlichkeit“, so ist an deren leuchtendste Erscheinung zu denken, an die Gnade. Ganz in demselben Sinne heißt es Eph. 1, 12.14: wir sollen etwas sein zu Lob seiner Herrlichkeit, und: wir sollen sein Eigentum werden zu Lob seiner Herrlichkeit. Der Apostel will damit ausdrücken, dass die Auserwählten dem Herrn als Mittel und Werkzeuge dienen, sein Erbarmen zu offenbaren und seinen Namen zu verherrlichen.

24 Welche er berufen hat, nämlich uns, nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden. 25 Wie er denn auch durch Hosea spricht: „Ich will das mein Volk heißen, das nicht mein Volk war, und meine Geliebte, die nicht die Geliebte war.“ 26 “Und soll geschehen: An dem Ort, da zu ihnen gesagt ward: ´Ihr seid nicht mein Volk´, sollen sie Kinder des lebendigen Gottes genannt werden.“ 27 Jesaja aber schreit für Israel: „Wenn die Zahl der Kinder Israel würde sein wie der Sand am Meer, so wird doch nur der Überrest selig werden; 28 denn Gott wird eine kurze und strenge Rede führen, ja kurz wie des Herrn Verfahren auf Erden sein.“ 29 Und wie Jesaja zuvor sagte: „Wenn uns nicht der Herr Zebaoth hätte lassen Samen überbleiben, so wären wir wie Sodom geworden und gleichwie Gomorra.“

V. 24. Welche er berufen hat usw. Aus der bisherigen Erörterung über die Freiheit des göttlichen Erwählungsratschlusses ergab sich zweierlei: erstens bleibt Gottes Gnade nicht derartig in den Grenzen des jüdischen Volkes beschlossen, dass sie nicht auch andere Völker, ja den ganzen Erdkreis erreichen könnte. Zweitens ist die Gnade auch nicht in dem Sinne an die Juden gebunden, dass sie allen leiblichen Kindern Abrahams ohne Ausnahme gehören müsste. Denn wenn Gottes Erwählung allein an dem Beschluss seines Wohlgefallens hängt, so findet sie überall dort ihre Stelle, wohin sein Wille sich wendet. Steht also die Erwählung fest, so ist schon der Weg zu den Wahrheiten geebnet, welche Paulus einerseits über die Berufung der Heiden, andererseits über die Verwerfung der Juden vorgetragen hat, deren erstere unerhört und neu, deren letztere vollends unmöglich und Gottes unwürdig erscheinen musste. Weil aber die letztere den allergrößten Anstoß in sich barg, so wendet sich die Rede zuerst zu der ersten immerhin erträglicheren Behauptung. Paulus sagt, dass die Gefäße der Barmherzigkeit, welche Gott sich zur Verherrlichung seines Namens auserwählt, gleicher Weise aus den Heiden wie aus den Juden genommen werden. Dass Gott keinen Unterschied zwischen den Völkern macht, dafür dient zum Beweise, dass er seine Gläubigen berufen hat … nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden. Wenn unsere heidnische Herkunft den Herrn nicht gehindert hat, uns zu berufen, so sieht man ja, dass die Heiden keineswegs vom Reiche Gottes und dem Bunde des Heils ausgeschlossen sein sollen.

V. 25. Wie er denn auch durch Hosea spricht. Nunmehr folgt ein Nachweis, dass die Berufung der Heiden durchaus nicht als eine überraschende Neuerung gelten darf: denn die Weissagungen der Propheten haben seit langen Zeiten von ihr gezeugt. Der Sinn ist ganz klar. Schwierigkeiten macht es nur, den ursprünglichen Sinn des Hoseaspruches mit der Meinung des Paulus in Übereinstimmung zu bringen. Scheint es doch zweifellos, dass der Prophet Hoses in seinem Zusammenhange von Israel redet: Gott ist durch die Sünden Israels beleidigt, und erklärt, dass er dasselbe nicht mehr als sein Volk anerkennt. Dann aber wendet er sich zu einem Worte neuen Trostes: aus Nichtgeliebten will ich Geliebte machen, und mein Volk aus dem, das nicht mein Volk ist. Paulus aber scheint diese Worte, die ausdrücklich den Juden gelten sollen, irrtümlich auf die Heiden zu deuten. Um hier eine Lösung zu finden, stellen wir folgendes zur Erwägung. Vielleicht ist es doch nicht ausgeschlossen, den Trostspruch des Hosea auch in seinem ursprünglichen Sinne nicht bloß auf die Juden, sondern auch auf die Heiden zu beziehen. Es ist doch durchaus nicht unerhört, dass ein Prophet, nachdem er den Juden um ihrer Sünden willen Gottes Rache angekündigt, seine Gedanken nunmehr auf das Reich Christi richtet, welches den ganzen Erdkreis umspannen soll. Ist doch in Unglück und Sünde des Volkes Christus tatsächlich die einzige Zuflucht; und der einzig wirkliche Trost besteht darin, dass man den Sündern, welchen Gottes Zorn droht, Christus vor Augen stellt. Die Propheten haben doch, wie wir sehen, die Gepflogenheit, das Volk, wenn es unter der Drohung des göttlichen Zorns gedemütigt ist, zu Christus zu rufen, dem einzigen Zufluchtsort der Verzweifelten. Wo aber Christi Königreich errichtet wird, da erhebt sich zugleich jenes himmlische Jerusalem, in welchem sich Bürger aus aller Welt zusammenfinden. Bei unserm Prophetenspruch fordert der Umstand eine besondere Beachtung, dass Israel ja aus der Gemeinschaft mit Gott verstoßen und dadurch den Heiden gleichgemacht und mit der übrigen Menschheit völlig in eine Reihe gestellt war. Nun ist Raum geschaffen für ein neues Israel, für eine Gemeinde, welche Gottes Gnade aus allen Völkern sammelt. So wird erfüllt: „Ich will das mein Volk heißen, das nicht mein Volk war, und meine Geliebte, die nicht die Geliebte war.“ Die letztere Wendung erklärt sich daraus, dass der Prophet (Hos. 1, 6) eine Tochter hatte mit Namen „Lo-Ruhama“, d. h. die nicht Geliebte. Diesen Namen hatte er ihr geben müssen, weil diese Tochter das von Gott verworfene Volk darstellen sollte. – Übrigens soll man sich nicht wundern, dass die Schrift von den Auserwählten, welche doch kraft des ewigen Ratschlusses immer Gottes Kinder sind, aussagt, sie seien bis zu einem bestimmten Zeitpunkte nicht Gottes Volk und nicht Geliebte gewesen. Diese Redeweise trifft für die Zeit zu, in welcher die Auserwählten noch nicht die Berufung erfahren haben, und sie gibt uns einen Fingerzeig, dass wir unser Urteil hintanhalten sollen: wir können über Gottes Erwählung nur insoweit urteilen, als sie sich in ihren Zeichen kundtut. So hat Paulus den Ephesern zugerufen (Eph. 1, 4), dass Gott sie erwählt habe, ehe der Welt Grund gelegt war; und doch heißt es bald darauf von denselben Leuten (Eph. 2, 5. 12), dass sie Kinder des Zorns und Gott fremd waren. Das galt für die Zeit, in welcher sie die Liebe des Gottes noch nicht erfahren hatten, der sie doch mit ewigem Erbarmen umfasste. „Nichtgeliebte“ sind wir solange, als uns Gott mehr seinen Zorn als seine Liebe bezeugt. Und dies ist beim ganzen Menschengeschlecht der Fall, solange die Annahme zur Kindschaft noch nicht in der Zeit vollzogen ist.

V. 27. Jesaja aber schreit usw. Jetzt geht der Apostel zum zweiten Stück seiner Erörterung über, zu Israels Verwerfung, die er bisher zurückgestellt hatte, um die Juden nicht von vornherein vor den Kopf zu stoßen. Paulus sagt nicht, dass Jesaja spricht, sondern dass er schreit. So wird die Aufmerksamkeit noch mehr erregt. Die Worte des Propheten wenden sich offensichtlich gegen Israels gar zu große fleischliche Zuversicht. Es ist ja schrecklich zu hören, dass aus der ungeheuren Menge nur eine so kleine Zahl selig werden soll. Wenn der Prophet diese Verwüstung des Volkes beschreibt, so will er ja freilich bei den Gläubigen nicht die Meinung erwecken, dass Gottes Bund gänzlich dahin gefallen sei. Er lässt noch eine Hoffnung auf Gnade bestehen: aber er beschränkt dieselbe auf eine sehr geringe Schar. Allerdings zielt die Weissagung des Propheten zunächst auf die äußeren Schicksale seines Volkes in der babylonischen Gefangenschaft, in welche eine ungeheure Menge von Juden hineinging, und aus welcher der Herr nur eine verhältnismäßig geringe Zahl erretten wollte. Aber diese äußere Wiederherstellung war doch nur Spiegelbild und Anfang der geistlichen Erneuerung der Gemeinde Gottes, die in Christus geschieht.

V. 28. Denn Gott wird eine kurze und strenge Rede führen usw. D. h. sein richterliches Verfahren wird vernichtend wirken. In der Schrift bedeutet „Rede“ („Wort“) stets soviel wie Sache oder Geschehnis. „Kurze und strenge Rede“ heißt also: Vernichtung, Abbruch, Zerstörung. Mit diesem einfachen Sinne können wir uns begnügen. Der kleine Rest, der bei dieser Vernichtung übrig bleibt, wird aber doch das Werk der Gerechtigkeit Gottes sein, d. h. er wird dazu dienen, seine Gerechtigkeit auf dem ganzen Erdkreis zu bezeugen.

(Dass die Worte hier anders lauten als bei Jesaja selbst, kommt daher, dass Paulus dieselben in der Form der alten griechischen Übersetzung zitiert hat, welche von dem wirklichen Sinne des hebräischen Textes stark abweicht. Dieser Zwiespalt hat auch in Calvins Übersetzung und Auslegung eine gewisse Unsicherheit gebracht. Unsere Wiedergabe hält sich an das Wesentliche.)

V. 29. Und wie Jesaja zuvor sagte usw. Ein weiteres Zeugnis schon aus dem ersten Kapitel des Jesaja, in welchem der Prophet die Verwüstung seines Volkes beklagt, die zu seiner Zeit geschehen war. Ist aber solches einmal geschehen, so ist es ja nichts Neues mehr. Denn Israels Vorzug stammt lediglich von seinen Vorfahren. Diese aber haben eine solche Behandlung erfahren, dass der Prophet klagen muss, sie seien geschlagen und ihr Geschick sei fast dem von Sodom und Gomorra gleich. Nur der Unterschied bestand, dass Gott einige noch hatte als Samen übrig bleiben lassen, um Israels Namen zu erhalten und vor völliger Vergessenheit zu bewahren. Denn seiner Verheißung kann Gott nie vergessen: darum gibt er inmitten der strengsten Strafe noch immer der Barmherzigkeit Raum.

30 Was wollen wir nun hier sagen? Das wollen wir sagen: Die Heiden, die nicht haben nach der Gerechtigkeit getrachtet, haben die Gerechtigkeit erlangt; ich sage aber von der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt. 31 Israel aber hat dem Gesetz der Gerechtigkeit nachgetrachtet, und hat das Gesetz der Gerechtigkeit nicht erreicht. 32 Warum das? Darum, dass sie es nicht aus dem Glauben, sondern als aus den Werken des Gesetzes suchen. Denn sie haben sich gestoßen an den Stein des Anlaufens, 33 wie geschrieben steht: „Siehe da, ich lege in Zion einen Stein des Anlaufens und einen Fels des Ärgernisses; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zu Schanden werden.“

V. 30. Was wollen wir nun hier sagen? usw. Der Apostel will den Juden jeden Anlass nehmen, wider Gott zu murren. Darum beginnt er nun, auch die für menschliche Begriffe durchsichtigen Gründe dafür aufzuzählen, weshalb Israel eine solche Verwerfung erleben musste. Dabei ist es unrichtig und heißt die wirkliche Ordnung auf den Kopf stellen, wenn man diese Gründe wider die verborgene göttliche Erwählung zu kehren sucht. Denn dass diese den ersten Platz behauptet, hat Paulus ein für allemal festgestellt. Ist die göttliche Erwählung allen andern Ursachen übergeordnet, so bildet die Verkehrtheit und Bosheit der Gottlosen nur Stoff und Material für Gottes Gerichte. Weil es sich aber hier um eine sehr schwierige Frage handelt, so lässt sich Paulus auf gewisse Vermittlungen ein, um wenigstens vermutungsweise dazulegen, was sich etwa darüber sagen ließe.

Die Heiden, die nicht haben nach der Gerechtigkeit getrachtet usw. Nichts schien unglaublicher oder unpassender, als dass die Heiden, die sich um keine Gerechtigkeit kümmerten und in fleischlicher Zügellosigkeit dahinlebten, zur Seligkeit berufen werden und Gerechtigkeit erlangen sollten, während die Juden, die sich eifrig mit den Werken des Gesetzes abmühten, gar keinen Lohn für ihre Gerechtigkeit bekommen sollten. Diese äußerst anstößige Tatsache spricht Paulus zunächst mit dürren Worten aus; dann erst mildert er die Härte, indem er den Grund dieser Tatsache wenigstens andeutend hinzufügt: ich sage aber von der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt. Also hängt sie an Gottes Erbarmen, nicht an der eigenen Würdigkeit des Menschen. Und der Gesetzeseifer, in welchem die Juden befangen waren, war ein verkehrter: sie suchten Rechtfertigung durch die Werke, steckten sich also ein Ziel, welches überhaupt kein Mensch erreichen kann. So musste ihnen Christus zum Anstoß werden, der doch allein den Zugang zur Gerechtigkeit eröffnet. Bezüglich der Heiden wollen wir noch anmerken, dass sie die Gerechtigkeit durch den Glauben insofern erlangt haben, als Gott ihrem Glauben durch seine Gnade zuvorkam. Denn wenn sie im Glauben den Anfang gemacht hätten, so wäre ja der Ausdruck schon nicht mehr zutreffend, dass sie nicht nach der Gerechtigkeit getrachtet haben. Also ist auch der Glaube in die Gnadenwirkung eingeschlossen.

V. 31. Israel aber hat dem Gesetz der Gerechtigkeit nachgetrachtet usw. Was unglaublich schien, sagt Paulus rund heraus: die Juden haben mit ihrem eifrigen Streben nach Gerechtigkeit nichts erreicht. Und das konnte auch gar nicht anders sein: denn da sie außerhalb des Weges liefen, mussten sie sich vergeblich abmühen. „Gesetz der Gerechtigkeit“ ist das erste Mal wohl eine Umstellung für „Gerechtigkeit des Gesetzes“. Das zweite Mal bezeichnet es in etwas anderem Sinne die Form oder Regel der Gerechtigkeit. Der Gedanke ist: indem Israel der Gerechtigkeit des Gesetzes nachjagte d. h. derjenigen, welche das Gesetz vorschreibt, hat es den wahren Weg zur Gerechtigkeit nicht eingehalten. Überraschender Widerklang der Worte: die gesetzliche Gerechtigkeit war schuld daran, dass Israel aus dem Gesetz der Gerechtigkeit heraus fiel!

V. 32. Nicht aus dem Glauben, sondern als aus den Werken des Gesetzes. Glaube und verdienstliche Werke sind also die schärfsten Gegensätze. Vertrauen auf Werke bildet das größte Hindernis, den Weg zur Gerechtigkeit zu finden. Darum muss man es fahren lassen und allein auf Gottes Güte ausruhen. Die Juden sollten ein abschreckendes Exempel für jeden sein, der noch durch Werke ins Himmelreich kommen will, statt von aller eignen Würdigkeit abzusehen und mit beiden Augen gläubig auf Gottes Gnade zu schauen. Denn es handelt sich bei diesen Werken des Gesetzes wohlgemerkt nicht etwa um die Beobachtung von Zeremonien, sondern um das Verdienst aus den Werken. Zu diesem tritt der Glaube in Widerspruch, die mit beiden Augen einzig auf Gottes Güte schaut, ohne auf eigne Würdigkeit zu blicken.

Sie haben sich gestoßen an den Stein des Anlaufens. Wie man sich an Christus stößt, wenn man sein Vertrauen auf Werke stützt, ist leicht einzusehen. Denn wenn wir uns nicht als Sünder erkennen und leer und bloß sind von aller eignen Gerechtigkeit, verdunkeln wir Christi Würde, welche darin besteht, dass er für uns alle Licht ist, Heil, Leben, Auferstehung, Gerechtigkeit und Arznei. Wozu ist er aber das alles? Doch nur, um Blinde zu erleuchten, Verdammt freizusprechen, Tote lebendig zu machen, Vernichtete wieder aufzurichten, Schmutzige abzuwaschen, Kranke zu pflegen und zu heilen. Glauben wir aber selbst etwas von Gerechtigkeit zu besitzen, so kämpfen wir gewissermaßen wider Christi Kraft. Denn dessen Amt ist es nicht minder, den Hochmut des Fleisches zu dämpfen, als die Mühseligen und Beladenen aufzurichten und zu trösten. Das Schriftwort aus Jesaja verwendet der Apostel (V. 33) mit vollem Recht. Denn dort (Jes. 8, 14) spricht Gott aus, er selbst werde dem Volk Juda und Israel ein Fels sein, an dem sie sich stoßen und zugrunde gehen sollten. Ist nun Christus derselbe Gott, der durch den Propheten redete, so darf man sich nicht wundern, dass der Spruch jetzt auf ihn eine Anwendung findet. Heißt aber Christus ein Stein des Anlaufens, so will der Apostel sagen: wundert euch nicht, wenn solche Leute auf dem Wege der Gerechtigkeit nicht vorwärts kommen, deren verkehrter Eigensinn an diesen Block stoßen musste, während Gott ihnen doch einen sehr leicht gangbaren Weg gezeigt hatte. Übrigens ist Christus im eigentlichen Sinne und nach seinem eignen Wesen kein Fels des Ärgernisses: er wird es nur infolge der Bosheit der Menschen, wie die alsbald folgende Aussage ergibt: und wer an ihn glaubt, der soll nicht zu Schanden werden. Diesen Spruch fügt der Apostel aus Jes. 28, 16 hinzu, um die Frommen zu trösten. Es ist, als wolle er sagen: heißt auch Christus ein Stein des Anlaufens, so brauchen wir vor ihm doch nicht zu erschrecken oder Furcht statt des Vertrauens uns einjagen zu lassen. Nur den Ungläubigen ist er zum Fall gesetzt, den Gläubigen zum Leben und zur Auferstehung (Luk. 2, 34). Wie die Weissagung über das Anlaufen und Ärgernis sich an den Widerspenstigen und Ungläubigen erfüllt, so gibt es eine andere, welche den Frommen gilt: Christus ist ein starker, kostbarer, fest gegründeter Eckstein; wer auf ihn sich stützt, der wird nicht fallen. So will Gott ohne Zweifel mit diesem Prophetenspruch die Hoffnung der Seinen stärken. Wenn aber Gott uns gute Hoffnung macht, können wir nicht zu Schanden werden. Der gleiche Trost steht auch an der sehr ähnlichen Stelle 1. Petr. 2, 7.

1)
vgl. Anmerkung in Röm. 5, 12