Inhaltsangabe: Obgleich dieser Psalm mit Gebet beginnt, oder wenigstens kurz ein Gebet berichtet (V. 2 – 3), welches David in schwerer Angst betete, so besteht sein größerer Teil (V. 4 – 9) doch in Lobpreis und Danksagung gegen Gott. David rühmt, dass Gottes Hilfe ihn aus irgendeiner großen Gefahr errettet und auf seinem königlichen Thron befestigt habe.
1 Dem Musikvorsteher: ein Psalm Davids, auf Saitenspiel. 2 Höre, Gott, mein Schreien, und merke auf mein Gebet! 3 Vom Ende der Welt her rufe ich zu dir, wenn mein Herz in Angst ist, du wollest mich führen auf einen hohen Felsen. 4 Denn du warest meine Zuversicht, ein starker Turm vor meinen Feinden. 5 Ich werde wohnen in deiner Hütte ewiglich, und Zuflucht haben unter deinen Fittichen. (Sela.)
V. 2. Höre, Gott usw. Lässt sich die Abfassungszeit des Psalms auch nicht völlig sicher angeben, so deutet doch manches dahin, dass David schon längere Zeit das Regiment geführt hatte, als ihm das Unglück zustieß, von welchem hier die Rede ist. Ich schließe mich also gern den Auslegern an, welche an die Zeit des Aufstandes Absaloms denken. Denn dass Davids Gebet vom Ende der Welt her erging, deutet doch auf eine Zeit der Verbannung. Aus wie heftiger Gemütsbewegung das Gebet geboren wurde, zeigt schon seine Beschreibung als ein Schreien. So verdient jede Anrufung Gottes zu heißen, die aus einem Andrang des Gefühls und brennendem Eifer aufsteigt, mag der Beter still für sich seine Klagen vor Gott bringen oder vernehmlich seine Stimme erheben. Auch die Wiederholung lässt auf ein anhaltendes Beten schließen: merke auf mein Gebet. Hier sollen auch wir ein Beispiel entnehmen, im Gebet nicht müde zu werden, auch wenn Gott nicht sofort spüren lässt, dass er sich unsern Wünschen zuneigt. Als das Ende der Welt bezeichnet David die Stätte seiner Verbannung, weil er sich dort unendlich weit von Gottes Heiligtum, welches ihm doch der erwünschteste Ort war, und der königlichen Stadt entfernt fühlte. Auch dass (V. 7) er sich als König bezeichnet, was er vor Sauls Tode niemals tat, deutet auf die Zeit, da er vor dem Wüten seines Sohnes Absalom voll Furcht in das Ostjordanland fliehen musste. Wenn nun David noch unter dem schattenhaften Gottesdienst des Gesetzes nicht aufhörte zu beten, obgleich er weit vom Heiligtum entfernt war, so wird vollends heute unsere Trägheit im Gebet unentschuldbar sein: wir müssen trotz aller Hemmnisse, die Satan uns in den Weg wirft, im Glauben zum Himmel aufsteigen, da Gott uns so freundlich einlädt und durch Christi Blut der Zugang offen steht. Also auch Christen, welche von der Gemeinde Gottes etwa fern sind und die Predigt des Wortes und die Sakramente entbehren müssen, sollen nach Davids Beispiel lernen, aus der Wüste und gleichsam über weite Räume hinweg zu Gott zu schreien. Darauf gedenkt David dessen, dass sein Herz in Angst war, und fügt hinzu, dass er keinen Ausgang aus der Gefahr mehr sah, sodass seine nachmalige Rettung desto gewisser als ein Werk der göttlichen Gnade erschien. Trotz aller Angst aber nahm er seine Zuflucht zu Gott. Indessen sehen wir, dass er kein Herz von Eisen hat, noch sich zu einer stoischen Härte gegen Schmerzen und Ängste abzustumpfen vermochte: er führte einen schweren innern Kampf gegen die Traurigkeit und das Zagen seines Herzens. Je mehr also die Gläubigen sich in Krankheit oder Sorge verstrickt fühlen, desto tapferer müssen sie sich mühen, durch viele Hindernisse hindurch zu brechen. Der Hauptinhalt des Gebets Davids ist nun der, dass Gott ihm eine sichere Zuflucht bereite, von welcher er sich jetzt ausgeschlossen sieht: Du wollest mich führen auf einen hohen Felsen. Ein Felsen oder wie es V. 4 heißt, ein Turm, bedeutet einen festen Zufluchtsort. David hat also im Augenblick das Gefühl, dass ihm ein solcher fehlt, und dass er, wenn Gottes Hand ihn nicht emporhebt, keinen Schritt vorwärts setzen kann. Wohin er auch blickt, sieht er alle sicheren und ruhigen Stätten wie in unzugänglicher Höhe über sich schweben: alle Hilfe ist ihm geraubt und in weite Ferne entrückt. Aber obgleich er nicht sieht, wie er gerettet werden könne, zweifelt er doch nicht, dass er unversehrt bleiben müsse, wenn nur Gott seine Hand ausstrecken will. Ohne Bild geredet, ist der Sinn also einfach der: mag alle Hilfe mir genommen sein und die ganze Welt mir den Ausgang versperren, so wirst du doch, Gott, wider alle Hoffnung mich retten. Hier entnehmen wir eine sehr nützliche Lehre. Wir wollen lernen, unser Heil, das allein bei Gott steht, nicht nach den kurzen Begriffen des Fleisches zu messen, noch auf irgendwelche äußeren Mittel zu gründen, sondern es dem Herrn zu überlassen, welche verborgenen Wege zur Rettung er uns führen will. Wer dem Herrn darin eine besondere Weise vorschreiben will, setzt seiner Macht zu enge Schranken. V. 4. Denn du warest meine Zuversicht. Damit ruft sich David entweder die früheren Wohltaten Gottes in die Erinnerung zurück, um seinen Glauben zu stärken, wie denn nichts unsere Gebetszuversicht mehr zu steigern vermag als die Gewissheit schon erfahrener Gnade, - oder er beginnt über die gegenwärtig eingetretene Rettung zu frohlocken. Dies Letztere nehme ich lieber an, weil alle folgenden Verse des Psalms Danksagungen enthalten. Bei dieser Deutung ließe sich das „denn“ – nach dem Bericht über das Gebet, welches aus der Bedrängnis aufstieg – etwa umschreiben: ja, du warest meine Zuversicht. Auch der nächste Vers wird schwerlich noch auf dem Standpunkt des Flüchtlings geredet sein, der sich die erbetene glückliche Zukunft vorstellt, um seinen Schmerz zu stillen, sondern David rühmt nach der erfahrenen Rettung, was nunmehr immer gelten soll: Ich werde wohnen in deiner Hütte ewiglich. Dass er nun wieder beim Gottesdienst zugegen sein kann, ist ihm mehr wert als die Rückkehr in seinen rechtmäßigen Besitz, in das königliche Haus, in Würde, Reichtum, Glanz und Freude. Lasen wir doch auch anderwärts (Ps. 42, 5 ff.), dass im äußersten Unglück kein Schmerz tiefer an ihm nagte, als dass er die Übungen der Frömmigkeit entbehren musste. So schätzt er es auch jetzt als ein höheres Glück, demütig vor Gottes Altar zu liegen, als auf dem königlichen Thron zu sitzen. Übrigens fährt er fort: und Zuflucht haben unter deinen Fittichen, womit er zu verstehen gibt, dass er nicht etwa, wie rohe Menschen tun, abergläubisch an den äußeren Formen des Gottesdienstes hing oder Gottes Gegenwart an das sichtbare Zelt gebunden glaubte; vielmehr war ihm dies ein Symbol, welches den geistlichen Blick seines Glaubens nach oben wies. Immerhin mag in dem Ausdruck eine Anspielung auf die Cherubim im Allerheiligsten enthalten sein. Nur dies bleibt unangetastet, dass David sich nicht an die irdischen Elemente hängte, sondern zum Himmel emporstieg, den Herrn daselbst im Geiste zu suchen und zu verehren.
6 Denn du, Gott, hörtest meine Gelübde; du gibst ein Erbe denen, die deinen Namen fürchten. 7 Du wirst Tage hinzufügen zu den Tagen des Königs, dass seine Jahre währen immer für und für, 8 dass er immer bleibe vor Gottes Angesicht. Erzeige ihm Güte und Treue, die ihn behüten. 9 So will ich deinem Namen lobsingen ewiglich, dass ich meine Gelübde bezahle täglich.
V. 6. Denn du hörest meine Gelübde. Damit bestätigt David, was er soeben sagte, dass er unter Gottes Fittichen Zuflucht habe. Denn daher kam seine unerwartete Freude, dass Gott seine Bitten anhört und die Finsternis in Licht verwandelt hatte. Ein Gelübde heißt dieses Gebet, weil David wohl für den Fall der Erhörung dem Herrn ein Gelübde getan hatte. Alles in allem will er sagen, dass ihn nicht die eigne Vorsicht rettete, in welcher er seine Kräfte sammelte und Zeit gewann, nicht die treue Gunst der Priester und die Hilfe der tapferen Krieger, sondern dass es schließlich nur Gottes offenbares Wirken war, welches ihn in seinen früheren Stand zurückkehren ließ. Daraus zieht der nächste Satz den allgemein gültigen Schluss, dass Gott seine Knechte niemals im Stich lässt, sondern sie nach allen Kämpfen und Mühsalen, mit denen er ihren Glauben übt und prüft, endlich mit ewiger Seligkeit beschenkt. Darin liegt zugleich ein verborgener Spott über die törichte Zuversicht, mit welcher gottlose Leute in ihrem Glück jauchzen, so lange Gott sie gewähren lässt oder ihrer schont: denn dieses Glück, in welchem sie selbstgefällig sich bewegen, ist nur eine Luftspiegelung, die bald verfliegt. Dagegen weiß David von einem Erbe, welches die Knechte Gottes nicht zu flüchtigem Genuss, sondern zu ihrer bleibenden und gewissen Freude empfangen: denn zeitliche und augenblickliche Trübsale, die zu ihrer Prüfung dienen, bringen sie dem ewigen Heil nur näher. David sagt also dem Herrn Dank, der seinen Anbetern nicht nur eine Freude von wenigen Tagen schenkt, sondern sie in einem festen und gewissen Lebensstande hütet, in welchem er ihnen ein unverlierbares Erbgut zuspricht. Dagegen leben die Gottlosen nur wie von Raub in den Tag hinein: denn sie preisen Gottes Wohltaten nicht im Glauben. Den wahren und rechtmäßigen Genuss der Gaben Gottes haben also nur die Frommen. V. 7. Du wirst Tage hinzufügen usw. Diese Aussage freudiger Zuversicht darf nicht auf Davids persönliche Erfahrung beschränkt werden. Gewiss erreichte sein Leben das Ziel höchsten Greisenalters, und er durfte bei einem friedlichen Zustand seines Reiches, welches er seinem Sohne und Nachfolger übergab, als und lebenssatt sterben: aber sein Leben währte doch nicht für und für, und war zum guten Teil von vielen Sorgen, Mühsalen und Schmerzen ausgefüllt. Darum deuten diese Ausdrücke zugleich auf Christi ewiges Reich, unter dessen Regiment Gott sein zerstreutes Volk zu bleibender Einheit sammelt. Was hier gesagt ist, kommt also auch uns zugute. Denn Christus lebt nicht nur für sich, sondern auch in seinen Gliedern bis in alle Ewigkeit, wie es Jes. 53, 8 heißt: „Wer will seines Lebens Länge (genauer: sein Geschlecht) ausreden?“ Denn obgleich auch heute mancherlei Unwetter und Stürme und die verschiedensten Angriffe der Feinde wider die Gemeinde des Herrn toben, so darf der Prophet doch verkünden, dass sie zu allen Zeiten beständig bleiben werde. David aber weissagt eine ununterbrochene Ausbreitung des Reiches bis zu Christi eigener Ankunft. V. 8. Dass er bleibe vor Gottes Angesicht. Diese Ausdrucksweise ist leichter ohne weiteres verständlich, als wenn zuvor (V. 5) von Gottes Hütte die Rede war. David will sagen, dass er unter dem Schutz Gottes, der seines Lebens Hüter ist, sicher und ruhig sein könne. Denn einen Menschen, welchem Gott sein „Angesicht“ zuwendet, umfasst er mit seiner väterlichen Vorsehung und Fürsorge. Und sicherlich würden wir unter so vielen Gefahren, die uns auf allen Seiten umdrängen, nicht einen Augenblick standhalten können, wenn uns Gottes Auge nicht hütete. Die Grundlage eines glücklichen Lebens ist die Zuversicht, dass Gott unser Leben in seiner Hand hält. Die weitere Bitte: erzeige ihm Güte und Treue, ließe sich noch genauer übersetzen: „entbiete Güte und Treue, dass sie ihn behüten.“ Güte und Treu stehen also gleichsam für Gott bereit, so dass er sie schicken kann, wann es zur Behütung der Seinen nötig ist. David schließt endlich damit (V. 9), dass er erklärt, er werde ständig und ohne Aufhören dem Namen Gottes lobsingen und seine Gelübde bezahlen. Hier sieht man, wie Bitte und Dank im Gebet untrennbar zusammengehören: wie David inmitten der Gefahren zu Gottes Hilfe seine Zuflucht nahm, so beweist er sich dankbar, nachdem er Rettung erfahren.
Quelle: Müller, Karl / Menges I. - Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift - Psalter