Inhaltsangabe:
Der Psalm zerfällt in zwei Abschnitte. Im ersten redet David von seinen Ängsten und bittet, wie es seine Not erfordert, Gott um Hilfe gegen Saul und gegen seine sonstigen Feinde. Voll Hoffnung auf Errettung rüstet er sich dann im zweiten Abschnitt, Gottes Lob zu singen.
1 Dem Musikvorsteher, ein gülden Kleinod Davids; dass er nicht umkäme, da er vor Saul floh in die Höhle. 2 Sei mir gnädig, Gott, sei mir gnädig! Denn auf dich trauet meine Seele, und unter dem Schatten deiner Flügel habe ich Zuflucht, bis dass das Unglück vorübergehe. 3 Ich rufe zu Gott, dem Allerhöchsten, zu Gott, der meines Jammers ein Ende macht. 4 Er sendet vom Himmel und hilft mir von der Schmähung des, der wider mich schnaubet. (Sela.) Gott sendet seine Güte und Treue.
V. 1. Über die Bezeichnung des Psalms als ein „gülden Kleinod “ ist so wenig etwas Sicheres zu sagen, wie über die weitere Bemerkung in der Überschrift: dass er nicht umkäme. In diesen letzteren Worten sieht man vielfach den Anfang eines alten Liedes, nach dessen Melodie unser Psalm gesungen werden sollte. Nach andern soll dem David der Ruf entschlüpft sein, da er keinen Ausweg mehr sah: „Gott, lass mich nicht umkommen!“ So hätte er diesen denkwürdigen unwillkürlichen Ausdruck seiner Angst in Kürze festhalten wollen.
V. 2. Sei mir gnädig usw. Die Wiederholung dieser Bitte zeigt, dass Davids Kummer, Sorge und Furcht nicht nur so obenhin waren. Bemerkenswert ist die Art, in der er um Gottes Erbarmen fleht: er trauet auf Gott. Wenn er ausdrücklich seiner Seele gedenkt, die auf Gott traut, so will er damit sagen, dass sein Hoffen aus tiefstem Herzensgrunde kommt. Seine Hoffnung ist nicht oberflächlich, sondern hat tiefe Wurzeln geschlagen. Denselben Gedanken wiederholt das folgende Bild: der Schatten der Flügel Gottes ist seine Zuflucht. David vertraut sich völlig dem Schutze Gottes an. Er fühlt, was er Ps. 91, 1 ausspricht: wer unter Gottes Schirm wohnt, ruht an sicherem Orte. Der Schutz Gottes wird mit dem Schatten der Flügel verglichen. Wenn Gott uns nämlich vertraulich einlädt, so vergleicht er sich mit einer Henne oder irgendeinem Vogel, der seine Flügel ausbreitet, die Jungen zu wärmen. So haben wir denn gar keine Möglichkeit mehr, unsre Undankbarkeit und Schlechtigkeit zu entschuldigen, die sich darin äußert, dass wir der freundlichen Einladung nicht auf der Stelle Folge leisten. Solange will David sein Vertrauen auf Gott richten und unter dem Schatten seiner Flügel ruhen, bis dass das Unglück dem Sturme gleich vorüber gehe. Wenn wir uns auch bisweilen unter heiterem, sturmfreiem Himmel sonnen dürfen, so bleiben doch plötzliche Sturmesausbrüche in diesem Leben nicht aus. Und darum müssen wir unsre Hoffnung auf Gott allein setzen, damit uns seine Flügel decken können. Hand in Hand mit seinem Hoffen geht Davids Bitten. Denn wer auf Gott traut, der muss auch seine Bitten an ihn richten. Und so bestätigt auch David seine Hoffnung dadurch, dass er in seiner Not zu Gott seine Zuflucht nimmt. Er redet (V. 3) von Gott als von dem Allerhöchsten, der seines Jammers ein Ende macht, um damit kund zu tun, dass Gott alles erfüllt, was er ihm verheißen hat, und dass er sein begonnenes Werk bis zur Vollendung durchführen will. Derselbe Sinn liegt in Psalm 138, 8 vor. Und der Gedanke muss unsre Hoffnung festigen und beharrlich machen, dass Gott, eben weil er das Werk seiner Hände nicht lässt, das Heil seiner Gläubigen in jeder Hinsicht zur Erfüllung bringt – und sie stets führen will, bis sie das Ziel erreicht haben.
V. 4. Er sendet vom Himmel usw. Schon manchmal habe ich erwähnt, dass David in seine Gebete fromme Betrachtungen einfügt, um seine bekümmerte Seele zu ermuntern, gleich als stellte er sich schon die Erfüllung seiner Hoffnung vor. So rühmt er auch jetzt Gottes Hilfe, als sähe er dessen Hand leibhaftig vor sich. Manche Ausleger ergänzen, dass Gott Engel vom Himmel sende. Aber man belässt den Ausdruck lieber in seiner Unbestimmtheit, in welcher er einfach besagt, dass Gott die Rettung, die er schaffen will, nicht im Geheimen, auch nicht auf gewöhnliche Weise, sondern machtvoll und offensichtlich bereiten wird. David will sagen: Ich erwarte eine herrliche, einzigartige Rettungstat meines Gottes. Den Himmel setzt er also den irdischen, natürlichen Hilfsquellen gegenüber. In den folgenden Worten tröstet sich David damit, dass Gott ihn aus aller Schmähung seiner gierigen Feinde retten wird, die auf sein Verderben aus sind und jede Gelegenheit erspähen, ihn hinterlistig zu vernichten. Vielleicht ist sogar zu übersetzen: Er hilft mir „zu ihrer Schmach.“ Denn Schmach und Schande wird es für sie bedeuten, wenn ihre gierige Hoffnung getäuscht wird. Wie sich nun David zuvor eine vom Himmel kommende Errettung verspricht, so hofft er diese am Schluss des Verses von der Güte und Treue Gottes: sie werden die helfenden Hände sein.
5 Ich liege mit meiner Seele unter den Löwen, die Menschenkinder sind Flammen, ihre Zähne sind Spieße und Pfeile und ihre Zungen scharfe Schwerter. 6 Erhebe dich, Gott, über den Himmel und deine Ehre über alle Welt. 7 Sie stellen meinem Gange Netze: meine Seele ist gebeugt; sie graben vor mir eine Grube und fallen selbst drein. (Sela.)
V. 5. Ich liege mit meiner Seele usw. David redet wiederum vom Wüten seiner Feinde, um dadurch Gott zu desto rascherer Hilfeleistung zu bewegen. Zunächst vergleicht er sie mit Löwen. Dann sagt er, sie glühten vor unversöhnlichem Hass und Raserei, ihre Zähne glichen Spießen und Pfeilen. Die Bemerkung „ihre Zungen sind scharfe Schwerter“ passt vorzüglich auf giftstrotzende Schmähungen, durch welche Unschuldige tiefer verwundet werden als durch scharfe Schwerter. Und wir wissen ja auch, dass David vornehmlich mit falschen Anklagen zu kämpfen hatte, welche gottlose Leute gegen ihn erhoben. Dieses Beispiel Davids soll es uns erleichtern, dieselben grausamen Nachstellungen über uns ergehen zu lassen. Aber unsre Klagen dürfen wir dem Herrn vortragen. Seine Sache ist es ja, die trügerischen Zungen und verbrecherischen Hände unschädlich zu machen. Aus diesem Grunde ruft auch David alsbald Gottes Beistand an. Es scheint ja freilich, als habe die Bitte (V. 6): Erhebe dich, Gott, über den Himmel und deine Ehre über alle Welt – in diesem Zusammenhang keinen rechten Sinn. Wenn wir aber bedenken, wie groß die Dreistigkeit der Gottlosen und wie hinterlistig ihre Anschläge waren, so finden wir diese Bitte wohl am Platze. Gott musste in auffallender Weise sich aufmachen, um Davids Feinde von ihrer Höhe herab zu stürzen, da sich ja Saul und das gesamte Volk gegen ihn verschworen hatten. Und das gereicht uns zum Trost: Gott hilft uns, um seinen Ruhm zu erhalten. Denn der Hass der Gottlosen gilt ebenso wohl ihm als uns. Er selbst will aber seine Ehre nicht preisgeben, auch seinen heiligen Namen von dem Spott seiner Feinde nicht verunehren lassen. – Danach (V. 7) wandelt sich Davids Bitte alsbald wieder in Klage. Hat er sich vorher über die grausamen Quälereien seiner Feinde beklagt, so jetzt über ihre trügerischen Nachstellungen. Mit dem Ausdruck, dass seine Seele gebeugt ist, stellt uns David anschaulich vor Augen, wie er in seiner Angst sich förmlich in sich zusammenzieht: so wagen Vögel, wenn sie in ihrer Furcht das Fangnetz über sich spüren, nicht mit den Flügeln zu schlagen, sondern bleiben ausgestreckt auf dem Boden liegen.
8 Mein Herz ist bereit, Gott, mein Herz ist bereit, dass ich singe und lobe. 9 Wache auf, meine Zunge, wache auf, Psalter und Harfe; mit der Frühe will ich aufwachen. 10 Herr, ich will dir danken unter den Völkern; ich will dir lobsingen unter den Leuten. 11 Denn deine Güte ist, so weit der Himmel ist, und deine Wahrheit, so weit die Wolken gehen. 12 Erhebe dich, Gott, über den Himmel und deine Ehre über alle Welt.
V. 8. Mein Herz ist bereit usw. Etliche übersetzen: „Mein Herz ist befestigt.“ Das ist sprachlich möglich. Dann wäre der Sinn: der Lobpreis, welchen David jetzt dem Herrn darbringt, geht aus gründlicher Überlegung hervor. David würde etwa sagen: ich mache es nicht wie gewisse Leute, die gedankenlos zu einem dankbaren Freundensausbruch fortgerissen werden, sondern mein Herz hat den festen und unwandelbaren Entschluss gefasst, den Herrn zu loben. Doch bleibe ich lieber bei der gewöhnlichen Übersetzung, wonach David erklärt, das Lob des Herrn mit freudiger Bereitwilligkeit singen zu wollen. Er will weder heucheln, noch den Lobpreis lässig treiben: heiliger Eifer soll ihn beseelen, alle Trägheit soll weichen und alle Hindernisse überwunden werden, - er will seine Seele anspannen, dies freiwillige Lobopfer darzubringen.
V. 9. Wache auf usw. Mit feuriger Begeisterung nimmt David diesen Wunsch seines Herzens auf: seine Zunge, Psalter und Harfe ruft er auf, mit ihm Gottes Namen zu preisen. „Zunge “ übersetze ich, wenn auch sonst das hebräische Wort „Ehre“ bedeutet. Doch kommt es auch z. B. in Ps. 16, 9 in der von mir gebrauchten Bedeutung vor. Für diese Übersetzung spricht die Zusammenstellung mit Psalter und Harfe . David will damit sagen: mit Vokal- wie mit Instrumentalmusik will ich Gottes Namen preisen. Vorn an steht das Herz, dann kommt das Bekenntnis des Mundes, an dritter Stelle gedenkt er der Hilfsmittel, die zur Anfachung seiner Begeisterung dienen. Dass er mit der Frühe aufwachen will, lässt ebenfalls auf einen ernsten Eifer schließen, der erweckt ist, um niemals nachzulassen.
V. 10. Ich will dir danken unter den Völkern usw. Dass David auch die Heidenvölker zu Zeugen seiner Dankbarkeit aufruft, ist ein Zeichen dafür, dass er in diesen seinen Anfechtungen als eine persönliche Weissagung auf Christum dasteht. Dies zu wissen ist von großem Wert für uns, weil uns somit in seinen Leiden vor Augen gemalt wird, was auch wir zu erwarten haben. Dass aber in den vorliegenden Worten ein Ausblick auf Christi Reich vorliegt, ist durch die Autorität des Paulus gedeckt (Röm. 15, 9) und lässt sich auch bei klarem Nachdenken leicht einsehen. Denn wenn man Gott auch zwischen Felsgeklüften loben kann, so wäre es doch töricht zu sagen: den Tauben will ich den Namen Gottes verkündigen. Daraus folgt: die Völker sollen Gott kennen lernen durch diese Botschaft. Dann sagt David ganz allgemein, was er besingen will: die Güte und Wahrheit Gottes, die alle Welt erfüllt. Schon an andrer Stelle (zu Ps. 36, 6) erinnerten wir, wie passend David mit dem Lob der Güte Gottes beginnt und dann erst von seiner Wahrheit und Treue redet. Denn nichts anderes als seine freie Gnade treibt den Herrn, uns die freundlichen Zusagen seines Wortes zu machen. Damit wir aber nicht meinen möchten, dass Gottes Freundlichkeit sich vielleicht mit Unbeständigkeit paare, empfangen seine Verheißungen ihr Siegel durch das Lob der Wahrheit und zuverlässigen Treue. Am Schluss des Psalms (V. 12) wendet David sich wiederum zur Bitte: Gott möge doch nicht durch geduldiges Gehenlassen die Frechheit der Frevler steigern und dadurch seine eigne Ehre verdunkeln. Doch könnte im engen Zusammenhang mit dem vorletzten Verse auch die Meinung sein, Gott möge die Berufung der Heiden, von der zuvor die Rede war, schleunig vollziehen. David würde dann etwa sagen: Herr, verherrliche nicht nur im jüdischen Lande deine Macht dadurch, dass du den Unschuldigen hilfst, sondern übe deine Gerichte über die ganze Welt und befestige dadurch deine Herrschaft bei allen Völkern!