Calvin, Jean - Psalm 11.

Inhaltsangabe: Dieser Psalm besteht aus zwei Teilen. Im ersten erzählt David, welch schwerer Spott und welche Anfechtungen ihn trafen, welche Angst er zu der Zeit, als Saul ihn verfolgte, ausstehen musste. Dann preist er sich glücklich wegen der Rettung, die der Herr ihm brachte, und verkündigt Gottes Gerechtigkeit in der Weltregierung.

V. 1. Ich traue auf den Herrn. Übereinstimmend halten fast alle Erklärer die ersten Sätze des Psalms für eine Anklage Davids gegen seine Volksgenossen, dass er, der überall sich verstecken muss, nirgends freundliches Entgegenkommen finde. Und es trifft in der Tat zu, dass David auf seiner viel verschlungenen Flucht vor dem Wüten Sauls keine sichere Zuflucht hatte, wenigstens nicht für längere Zeit. Deshalb konnte er sich mit Recht über sein Volk beklagen, dass keiner ihn, als er ein Flüchtling war, gewürdigt habe, ihn unter sein Dach zu nehmen. Doch glaube ich, dass er an etwas Höheres denkt. Denn da alle ihn um die Wette zur Verzweiflung zu bringen suchten, so musste ihm dieses wegen seiner fleischlichen Schwachheit zu Herzen gehen. Aber, geschützt durch den Glauben, stützt er sich furchtlos und standhaft auf Gottes Verheißungen, sodass er den Versuchungen nicht im Geringsten nachgibt. Diese geistlichen Kämpfe, durch welche Gott ihn inmitten der größten Gefahren prüfte, beschreibt er hier. Wie gesagt, ist dieser Psalm in zwei Teile zu zerlegen. Denn bevor David Gottes Gerechtigkeit preist, die sich in der Beschützung der Gerechten offenbart, schildert er, wie er mit dem Tode selbst gekämpft und endlich durch den Glauben und das gute Gewissen den Sieg errungen habe. Als alle ihm rieten, das Vaterland zu verlassen und irgendwohin in die Verbannung zu gehen, da er nur dann hoffen dürfe, sein Leben zu erhalten, wenn er auf die ihm verheißene Regierung verzichte, hielt er diesem verkehrten Rat sein festes Vertrauen auf Gott als Schild entgegen.

Flieht, wie ein Vogel, auf eure Berge. Gemeint sind David und seine Genossen. Denn wenn man es auch vor allem auf David abgesehen hatte, so waren die Genossen doch in sein Schicksal mit verflochten. Alle standen sie für dieselbe Sache und allen drohte dieselbe Gefahr. Man riet ihnen, sich in ihre Berge zu flüchten, weil im Vaterlande für sie keine Stelle mehr sei. Dass man sagt: „eure Berge“, deutet nicht auf ein bestimmtes Gebirge, sondern einfach darauf, dass man den David, wie es sein Geschick mit sich brachte, ins öde Felsgebirge wies. Aber solche Berater schüttelt David ab und bekennt, dass er im Vertrauen auf Gottes Verheißung durchaus nicht an eine solche Verbannung denke. Davids Lage war also derartig, dass sie ihn alle in die wüsten Stellen hinausstießen. Aber durfte er nicht fliehen? Wir wissen ja, dass er oft in die Verbannung gegangen ist, dass er sich auch zuweilen in Höhlen verborgen hat. Ich antworte: Wenn er auch unstet war wie ein scheuer Vogel und viele Irrfahrten machte, um den Nachstellungen seiner Feinde zu entgehen, so stand es doch im Glauben bei ihm fest, dass er sich von dem Volke Gottes niemals trennen wolle. Wenn er auch von den anderen aufgegeben war als ein verfaultes Glied, so trennte er sich doch nicht selbst von dem Leibe der Gemeinde. Wenn aber die Feinde sagten: Flieht – so bedeutet das in ihrem Munde so viel als: Gebt die Hoffnung auf. Solche Gedanken durfte aber David nicht bei sich hochkommen lassen, dass er fliehen müsse, weil seine Sache verloren sei. Er sagt deshalb, dass dieses zu seiner Seele gesagt sei, um damit anzudeuten, dass sein Innerstes durch diese schimpfliche Verwerfung aufs Schwerste getroffen wurde; denn, wie gesagt, er merkte, dass sie damit seinen Glauben erschüttern wollten. Und es war für ihn gewiss nicht leicht zu tragen, dass er, obwohl er immer unsträflich, wie es für einen aufrichtigen Verehrer Gottes sich ziemt, gelebt hatte, von seinen Landsleuten auf alle Zeiten verbannt wurde. Dieser Vers lehrt uns, dass wir, wenn die Welt uns auch verfolgt, doch immer auf unserem Standpunkte stehen bleiben müssen, damit wir nicht von Gottes Verheißungen weichen, als ob diese dann für uns hinfällig würden. Wenn wir auch hin und her geworfen werden, so müssen wir doch im Glauben unsere Berufung festhalten.

V. 2. Denn siehe, die Gottlosen usw. Manche Ausleger verstehen diese Worte – gleichsam entschuldigend – noch als Rede derer, die zur Flucht raten. Ich glaube vielmehr, dass David hier den Faden seiner Erzählung weiter führt. Es ist seine Absicht, nicht nur die Gefahren, sondern den Tod, der ihm drohte, zu beschreiben. Deshalb sagt er, dass er sich nirgends verstecken könne, um den Händen seiner Feinde zu entgehen. Durch diese Beschreibung seiner traurigen Lage wird die spätere Erlösung, die Gott ihm geschaffen, ins rechte Licht gestellt. Was die Worte selbst betrifft, so werden sie von vielen bildlich gefasst. Sie sollen bedeuten, dass man den David durch listige Nachstellungen zu fangen suchte. Mir sagt jedoch der natürliche Sinn besser zu, dass kein Ort so verborgen sei, wohin die Pfeile der Feinde nicht drängen, und dass deshalb der Tod dem Flüchtling auch in alle Höhlen als unzertrennlicher Gefährte folgen müsse.

V.3. Denn sie reißen den Grund um. Dieses Bild ist von den Gebäuden genommen, die zusammenbrechen und ganz zu Grunde gehen, wenn die Fundamente zerstört werden. David beklagt sich darüber, dass er vor der Welt so zu Grunde gerichtet sei, dass von seinem Glück nichts übrig blieb. Dann wiederholt er noch einmal, dass er ohne Grund so grausam gequält werde: Was hat der Gerechte getan? So tröstet er sich im Leiden durch das Zeugnis seines guten Gewissens. Diese Worte bilden aber auch zugleich den Übergang zu der folgenden Hoffnung auf Erlösung. Denn er ist dadurch zur Zuversicht ermutigt, dass er weiß, dass Gott, weil er eine gute Sache vertritt, auf seiner Seite stehen und ihm gewogen sein wird.

V. 4 u. 5. Der Herr ist in seinem heiligen Tempel. Es folgt jetzt die Lobpreisung, von der sich schon früher geredet habe. David, von aller menschlichen Hilfe abgeschnitten, wendet sich an die göttliche Vorsehung. Es dies eine herrliche Bewährung des Glaubens, wenn wir, während auf Erden alles um uns dunkel ist, das Licht vom Himmel suchen, damit dieses uns die Hoffnung auf Erlösung zeige. Denn wenn auch alle gestehen, dass Gott die Welt regiert, so gibt es doch nur wenige, die diesen Glauben auch dann im Herzen festhalten, wenn traurige Verwirrung alles in einen dichten Nebel hüllt. Aber nach Davids Vorbild müssen wir die göttliche Vorsehung so betrachten, dass wir, wenn alles verloren scheint, Hilfe von seinem Gericht hoffen. Der Himmel steht hier im Gegensatz zur Erde. Wenn David bei dem stehen geblieben wäre, was er mit seinem leiblichen Auge schaute, so würde er keinen Ausgang gefunden haben. Jetzt aber, da auf Erden alle Billigkeit darniederliegt, alle Treue untergegangen ist, denkt er daran, dass dieses alles doch im Himmel noch in Geltung bleibt, und dass von dort eine Wiederherstellung der gestörten Hoffnung zu erhoffen ist. Er sagt nicht einfach, dass Gott im Himmel wohnt, sondern er sagt, dass Gott dort wie in einer Königsburg regiert und auf seinem Richterstuhl sitzt. Und sicherlich geben wir dem Herrn nur dann die ihm gebührende Ehre, wenn wir die feste Überzeugung hegen, dass sein Richterstuhl für alle Elenden und ungerecht Bedrückten ein heiliger Zufluchtsort ist. Wenn daher auf Erden Trug, List, Untreue, Grausamkeit, Gewalttätigkeit und Räubereien wüten, ja wenn alles mit der Finsternis der Ungerechtigkeit und der Übeltaten bedeckt ist, so muss der Glaube uns voran leuchten, um jenen himmlischen Thron anzuschauen. Und dieser Anblick muss uns genügen, um auszuhalten. Unter dem „heiligen Tempel“ ist, wie die Wiederholung zeigt, der Himmel zu verstehen, obwohl der Ausdruck sonst auf den Berg Zion deuten könnte. Der folgende Satz zieht nun den Schluss, dass vor Gott nichts verborgen bleibt, und dass deshalb auch einst alle Menschen von ihm wegen ihrer Werke zur Rechenschaft gezogen werden: seine Augenlider sehen darauf usw. Denn wenn Gott im Himmel regiert, und wenn dort sein Richterstuhl steht, so folgt, dass er unmöglich die Geschicke der Menschen unbekümmert gehen lassen kann: er muss dort doch endlich Gericht halten. Denn Epikur und seinesgleichen, die sich Gott als müßig vorstellen, machen ihm ein Lager zurecht, statt ihm einen Richterstuhl aufzurichten. Dagegen rühmt der Glaube, dass Gott, der die Welt erschaffen hat, die von ihm gesetzte Ordnung keinesfalls vernachlässige. Wenn er auch eine Zeitlang mit seinen Gerichten wartet, so müssen wir uns doch einfach damit beruhigen, dass wir auf ihn schauen. So ist auch hier David allein mit dem Troste zufrieden, dass Gott über dem Menschengeschlecht steht und alles sieht, was auf Erden geschieht, wenn sein Walten auch nicht sofort spürbar in Erscheinung tritt. Gleich darauf wird noch eine deutlichere Erklärung hinzugefügt, nämlich, dass Gott zwischen den Gerechten und Ungerechten scheidet und zwar so, dass er dabei keineswegs ein müßiger Zuschauer bleibt (V. 5): Der Herr prüft den Gerechten und hasst den Gottlosen. „Prüfen“ bedeutet hier anerkennen. Gott untersucht die Sache eines jeglichen, dass er die Gerechten von den Ungerechten scheide. Verhasst sind ihm alle, die gerne freveln d. h. die auf Ungerechtigkeit und Schaden sinnen. Denn so wie Gott die menschliche Gesellschaftsordnung gegründet hat, damit einer dem anderen diene, so will er auch, dass sie von uns gepflegt und nicht gestört werde. Und weil er seine heilige Ordnung schützt, so muss er allen Schlechten, die andere belästigen, feind sein. Im Gegensatz zu Gottes gerechtem Zorne erscheint dann (V. 7) seine Liebe zur Gerechtigkeit: so können wir abnehmen, dass Leuten, die in ihrer Bosheit sich gefallen, ihr schönster Selbstbetrug nichts helfen wird.

V. 6. Er wird regnen lassen usw. Zum Schluss stellt David fest, dass, wenn Gott sich auch eine Zeitlang zurückhält und wartet, doch einmal der Tag der Rache kommen wird. So sehen wir, dass er allmählich zur Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang durchdringt: die überall herrschende Unordnung kann seinen Glauben nicht erschüttern. Er hält sich durch den Blick auf Gottes Richterstuhl aufrecht, der unbeweglich steht. Dann überdenkt er, was zu dem Amte eines Richters gehört, und zieht darauf den Schluss, dass die Taten der Menschen vor Gottes Augen nicht verborgen bleiben, und dass er, wenn er auch die Übeltäter nicht sofort bestraft, doch alle Bösen hasst. Und endlich kommt er dann zu dem Ergebnis, dass Gottes Hass, da er mit Macht ausgerüstet ist, nicht ohne Folgen sein wird. So wird, wenn Gott für einige Zeit mit der Bestrafung wartet, die Erkenntnis seiner Gerechtigkeit unsere Hoffnung trefflich nähren, bis er durch die Tat beweist, dass er seine Warte niemals verlassen hat. Treffend vergleicht David die Strafe, die Gott verhängt, mit dem Regen. Regengüsse ergehen nicht alle Tage, sondern nur, wenn Gott nach seinem Wohlgefallen sie sendet; und oft führt er bei heiterem Himmel plötzlich Hagel und starken Platzregen herauf. So trifft auch die Gottlosen oft plötzlich Gottes Rache, so dass sie, wenn sie heiter und von Vergnügen trunken sind, im Augenblick zu Grunde gehen. Zugleich wird aber unsere Stelle als Anspielung auf den Untergang von Sodom und Gomorra zu verstehen sein. Denn wie die Propheten, wenn sie den Auserwählten Gottes Gnade versprechen wollen, oft auf die früher einmal geschehene Errettung hinweisen, so drohen sie anderseits, wenn sie die Verworfenen erschrecken wollen, ihnen mit dem Untergange Sodoms und Gomorras. Und das mit Recht: denn Judas (7) erinnert uns in seinem Briefe daran, dass diese Vertilgung für alle Zeiten als ein Denkmal des göttlichen Zorns dasteht. Sehr treffend werden an unserer Stelle vor Feuer und Schwefel Gottes Stricke genannt. Wir wissen ja, dass die Gottlosen, so lange Gott ihrer schont, nichts fürchten, sondern wie auf weitem Felde frei ihren Mutwillen treiben. Steht ihnen dann etwas Widriges bevor, so denken sie sich Ausflüchte aus. Endlich spotten sie Gottes, als ob sie nicht ergriffen werden könnten, bis er sie mit seinen Stricken bindet. Gott beginnt also seine Rache mit den Stricken, indem er ihnen alle Ausflüchte abschneidet. Hat er sie aber einmal gefangen und gebunden, dann wettert er gegen sie in schrecklicher Weise, so wie er einst mit Feuer vom Himmel Sodom und die benachbarten Städte verbrannte. Der Sturmwind, von dem dann die Rede ist, geht dem Gewitter voraus und führt es herbei. Dass er den Frevlern zum Becherteil gegeben werden soll, ist ein in der Schrift geläufiges Bild. Es will aussagen, dass Gottes Gerichte gewiss und sicher sind, wenn auch die Gottlosen sich mit falschen Schmeicheleien täuschen. Freilich fällt dem Fleische nichts so schwer, als sich davon zu überzeugen, dass das Unglück und Elend, das ein Werk des Zufalls zu sein scheint, von Gott kommt, der mit Gerechtigkeit jedem sein Los bestimmt. So wird denn Gott als ein Familienvater dargestellt, der jedem einzelnen sein bestimmtes Maß zuteilt. An dieser Stelle lehrt David uns also, dass für die Gottlosen ein Lohn sicher aufbewahrt wird, und dass sie sich umsonst sträuben, wenn Gott ihnen den Kelch seines Zorns zum Austrinken darreicht; sie werden auch nicht nur einige Tropfen aus demselben zu kosten haben, sondern müssen ihn ganz austrinken. So verkündigt es ihnen auch der Prophet Hesekiel (23, 34): „Denselben musst du rein austrinken.“

V. 7. Der Herr ist gerecht. Zuvor hat David aus dem Amte Gottes abgeleitet, dass er an den Verworfenen Rache nehmen müsse. Jetzt zieht er aus Gottes Wesen den Schluss, dass er für die Guten und Rechtschaffenen ein Helfer sein werde. Ist er selbst gerecht, so muss er auch die Gerechtigkeit lieb haben: denn sonst würde er sich selbst verleugnen. Es würde sinnlos sein, sich die Gerechtigkeit in Gott eingeschlossen vorzustellen und nicht daran zu denken, dass Gott sich zu dem bekennt, was sein ist, und dieses auch tatsächlich durch die Weltregierung beweist: er wendet einer guten und gerechten Sache seine Gunst zu. So folgt: Sein Angesicht schaut auf die Frommen. Etwas vorher hieß es in einem anderen Sinne, dass Gott die Menschenkinder anschaut, nämlich um über eines jeden Leben zu urteilen. Hier bedeutet das Anschauen aber, dass er den Einfältigen und Rechtschaffenen seine besondere Gunst zuwendet, um sie unter seinem Schirm zu schützen. Dieser Schluss zeigt zur Genüge, was der Zielgedanke dieses ganzen Psalms ist, nämlich dass alle, die, gestützt auf die Gnade, die Gerechtigkeit aufrichtig pflegen, unter Gottes Schutz sicher sein werden. Zu diesen gehört David auch, ja er ist der erste unter ihnen. Die umgekehrte Übersetzung: „die Frommen werden schauen sein Angesicht“ kann ich nicht für richtig halten.