V. 1 u. 2. Sah einen, der blind geboren war. Der Evangelist beschreibt in diesem Kapitel die Heilung eines Blindgeborenen und fügt die Lehre bei, welche die tiefere Bedeutung dieses Wunders zeigt. –
Dass der Blinde seinen Fehler bei der Geburt mit auf die Welt brachte, das macht die Wundertat Christi besonders auffallend. Eine solche Blindheit kann kein menschlicher Arzt heilen, noch dazu, wenn sie bis ins erwachsene Alter hinein gleich schlimm geblieben ist. Als die Jünger diesen Mann sahen, haben sie eine günstige Gelegenheit, die Frage aufzuwerfen, für welche Sünde das die Strafe sei (V. 2). Die Schrift bezeugt, dass alle Nöte der Menschheit ihre Wurzel in der Sünde haben. Folglich muss uns alsbald, wenn wir einen unglücklichen Menschen sehen, der Gedanke in den Sinn kommen: die Leiden, die auf ihm lasten, sind Strafen der züchtigenden Hand Gottes. Doch gibt es da drei Irrwege, die wir vermeiden müssen. Es gibt Leute, die sich gegen andere als die schärfsten Sittenrichter zeigen, jedoch an sich selbst einen ganz anderen, viel gelinderen Maßstab legen. Wenn mein Bruder in eine bedrängte Lage kommt, sehe ich darin alsbald ein Gericht Gottes; wenn dagegen Gott mich selbst etwas schärfer züchtigt, so schiebe ich dabei die Schuld nicht auf meine Sünden. So darf es nicht sein. Hier heißt es: mache den Anfang bei dir selbst; schone vor allen Dingen dich nicht! Wenn wir also in dieser Hinsicht gerechte Richter sein wollen, so müssen wir ein scharfes Auge haben zunächst bei unseren eigenen Übelständen, dann erst bei denen anderer Menschen.
Der zweite Abweg ist der einer übermäßigen Strenge. Gott braucht nach jemandem nur seine Hand auszustrecken, so sagen wir auch schon: das ist Gottes schrecklicher Zorn. Es braucht sich jemand nur ein wenig verfehlt zu haben, alsbald heißt es: Welch ein Verbrecher! Ach, das kann sein ewiges Verderben sein! Auf der anderen Seite aber mögen wir uns der größten Schandtat schuldig machen, wir sind uns dessen nicht bewusst; alle unsere Sünden müssen nur kleine Schwächen und Versehen gewesen sein.
Die dritte Versündigung besteht darin, dass wir, ohne einen Unterschied zu machen, jeden, er mag sein, wer und wie er will, als einen von Gottes Strafgericht Heimgesuchten ansehen, sobald ihn Gott leiden lässt.
Es bleibt bei dem oben Gesagten: all unser Elend hat letztlich seinen Ursprung in der Sünde. Aber es sind sehr verschiedene Ursachen, derentwegen Gott über die Seinen Trübsal verhängt. Es gibt Menschen, die wohl Strafe verdient hätten, aber es geht ihnen gut; deren Sünden straft Gott nicht auf Erden, sondern erst in der Ewigkeit, aber dort viel härter, als es hier in dieser Welt möglich ist.
Anderseits trifft der Herr oft gerade seine Gläubigen mit härteren Schlägen, nicht weil sie besondere Sünden getan haben, sondern um für die Zukunft die Regungen des Fleisches zu töten. Ja, bisweilen hat er ihre Sünden gar nicht im Auge, sondern will nur ihren Gehorsam auf die Probe stellen, oder sie zur Geduld erziehen. So sehen wir den frommen Hiob ganz besonders vom Unglück heimgesucht, und doch geschieht das nicht seiner Sünden wegen; Gott verfolgt einen anderen Zweck: dass seine Frömmigkeit durch und durch echt ist, unabhängig von seinem äußeren Geschick, das soll nun, da er durch schwere Leiden hindurch muss, umso leuchtender hervortreten. Es ist demnach recht verkehrt, wenn man allen Kummer, der einen Menschen treffen kann, ohne Unterschied auf bestimmte Versündigungen zurückführen will. Die göttlichen Züchtigungen haben nicht immer den nämlichen Grund. Gott sieht, wenn er die Menschen straft, nicht immer darauf, was sie verdient haben.
Zweierlei darf man nicht außeracht lassen: in sehr vielen Fällen fängt das Gericht an beim Hause Gottes (1. Petr. 4, 17). Davon kommt es, dass der Herr an den Gottlosen vorübergeht und bei den Seinen schon geringe Sünden strenge ahndet. Bei denen, die in der Gemeinde Gottes sind, wendet er viel stärkere Ruten an, um sie zu bessern, als bei denen, die draußen sind. Ferner haben seine Züchtigungen auch nicht immer den gleichen Zweck. Petrus und Paulus sind gerade wie die gemeinsten Räuber und Mörder dem Henker in die Hände gefallen. Schon an diesen Beispielen kann man sehen: das Weshalb? und Wozu? liegt nicht immer so offen, dass ein Kind die rechte Antwort finden könnte. Die Jünger wollen wissen, was das für eine Sünde gewesen sein kann, die Gott an diesem Blindgeborenen strafte, als er eben erst auf die Welt kam und also auf Erden noch nicht gesündigt haben konnte. Hat er selbst gesündigt oder haben seine Eltern gesündigt? Wir müssen diese Frage der Jünger aus der damals weit verbreiteten Lehre von der Seelenwanderung erklären. Die Neugierde verstrickt ja den Menschen in einen ganzen Knäuel von Irrtümern, zumal, wenn noch die Vermessenheit hinzukommt. Man sah, dass hier Menschen lahm, dort andere mit schielenden Augen, andere wieder ganz blind, andere verwachsen und als Missgeburten zur Welt kamen. Das sind unerforschliche Gerichte Gottes, bei denen es gilt, Gott, auch wenn wir ihn nicht verstehen, doch in Demut anzubeten.
Sie aber wollten überall den klaren Grund von Gottes Werken sehen. So gerieten sie zur Strafe für ihre vermessenen Fragen in jene kindischen Narrenspossen hinein, zu glauben: die Menschenseele geht, wenn sie aus dem ersten Leben scheidet, gleich wieder in einen neuen Leib über, in dem sie dann die Strafe für die in dem früheren Leben begangenen Sünden abbüßen muss.
Hüten wir uns also vor fürwitzigen Fragen! Wollen wir den Gerichten Gottes noch über die Lehren der Schrift hinaus auf den Grund kommen, so werden wir in schauerliche Abgründe stürzen und uns den Kopf einrennen. Beim Nachdenken über die Werke Gottes empfiehlt sich immer die Selbstbescheidung, die in bewundernde Anbetung ausbricht, wenn wir den Grund nicht fassen: Herr, du bist gerecht, und alle deine Gerichte sind recht, mag sich sie gleich nicht begreifen können! –
Die weitere Frage nach der Sünde der Eltern ist nicht unbegründet. Allerdings soll der Sohn die Missetat seines Vaters nicht tragen, wenn er selbst unschuldig ist, sondern die Seele, welche sündigt, soll sterben (Hes. 18, 20). Und dennoch ist die Frage der Jünger nicht so verkehrt: denn der Herr wirft die Vergehen der Eltern in den Busen der Söhne und ist ein Rächer derselben bis ins dritte und vierte Glied (2. Mo. 20, 5). Deshalb ruht der Zorn Gottes oft lange Zeit hindurch auf ein und derselben Familie. Und wie Gott auch den Nachkommen der Gläubigen noch um ihrer Vorfahren willen Gnade erzeigen will, so verwirft er auch die Nachkommenschaft der Gottlosen und bestimmt, dass zur gerechten Strafe für die Sünde der Väter beide, die Sünder selbst und ihre Kinder und Kindeskinder zugrunde gehen sollen. Und wenn es so geht, dann hat niemand Anlass, sich zu beklagen: Mir geschieht Unrecht! Ich werde bestraft für die Sünde, die jemand anders getan hat! In einer solchen Familie fehlt der Geist Gottes und die Gnade, die allen Sündern angeboten wird. Dann bewahrheitet sich das Sprichwort: Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen. So kamen die Apostel auf den Gedanken, der Herr könne an dem Sohne einen Frevel der Eltern strafen wollen.
V. 3. Es hat weder dieser gesündigt, noch seine Eltern. Christus spricht damit nicht den Blinden und seine Eltern von jeglicher Schuld frei; er sagt nur: der Grund seiner Blindheit ist nicht in der Sünde zu suchen. Ganz, wie ich oben sagte. Gott hat, wenn er den Menschen Leiden auflegt, mitunter etwas anderes im Sinne, als Heimsuchung um ihrer Sünden willen. Sind die Gründe, die eine Trübsal haben mag, verborgen, so gilt es, der Neugier einen Zaum anzulegen, damit wir uns weder an Gott durch Unterschiebung anderer Beweggründe, als er hat, noch auch an unseren Brüdern durch unberechtigte Anschuldigungen versündigen. Und welchen Grund gibt Christus an? Er sagt, dieser Mensch sei von Geburt an blind, dass die Werke Gottes offenbar würden an ihm. Jesus redet nicht von einem, sondern von mehreren Werken Gottes: denn solange seine Augen mit Blindheit geschlagen waren, war der Blindgeborene ein Beispiel der göttlichen Strenge gegen die sündige Menschheit, und die anderen sollten lernen, sich vor Gott zu fürchten und zu demütigen. Dann wurde ihm die Wohltat erwiesen, dass er von seinem Leiden befreit wurde; da erstrahlte an ihm hell der Sonnenschein der wunderbaren Güte Gottes. Wenn also Christus so sprach, dann wollte er seine Jünger ermutigen, auf ein Wunder zu hoffen; zugleich will er die allgemeine Lehre geben, dass es ein vollkommen hinreichender Erklärungsgrund für alles Übel auf dem weiten Erdenkreise ist, dass Gott seinen Namen dadurch verherrlichen will. Nichts kann die Menschen dazu ermächtigen, mit Gott zu rechten, wenn er sie als Werkzeuge benutzt, an denen er sich verherrlicht, sei es nun in Strenge oder Güte.
V. 4. Ich muss wirken usw. Weiter spricht nun Jesus aus, dass er gesandt ist, die Gnade Gottes durch Heilung des Blinden zu offenbaren. Er entlehnt aus dem alltäglichen Leben einen Vergleich: wenn die Sonne aufgeht, begibt sich der Mensch an die Arbeit; die Nacht ist für die Ruhe bestimmt (Ps. 104, 22 f.). „Tag“ nennt Jesus also die vom Vater ihm bestimmt zugemessene Zeit, innerhalb deren er sich mit dem ihm aufgetragenen Werke befassen soll, - ganz in demselben Sinne, wie der Inhaber eines öffentlichen Amtes sein „Tagewerk“ treibt, wenn er seine Pflichten zu erfüllen bestrebt ist. So entnehmen wir den Worten Jesu die allgemein gültige Regel, dass jedermann seinen Lebenslauf wie einen Tag ansehen soll. Arbeiter nehmen deshalb ihre Arbeit so emsig und fleißig zur Hand, weil sie wissen, wie kurz der Tag ist, und weil die Nacht sie nicht bei kaum begonnenem Werke überraschen soll. So sollen denn auch wir, in Anbetracht dessen, dass wir nur so kurz auf Erden leben, uns schämen, mit Nichtstun unsere Tage zu verbringen. Zumal dann, wenn Gottes Ruf uns eine ganz bestimmte Aufgabe anweist, dürfen wir keinen Augenblick zögern, weil sonst vielleicht die günstige Gelegenheit für immer entschwindet.
V. 5. Dieweil ich bin in der Welt, bin ich das Licht der Welt. Dieser Satz möchte wahrscheinlich dem Missverständnis wehren, als sei auch Christo eine so bestimmte Wirkenszeit zugemessen, dass auch ihn, wie jeden anderen Menschen, leicht die Nacht ereilen könnte. So erhebt er sich denn hoch über die anderen und sagt doch, dass auch sein Wirken seine Zeit habe. Er vergleicht sich mit dem Tagesgestirn, der Sonne. Sie beleuchtet mit ihren Strahlen die Erde, nimmt aber auch, wenn sie untergeht, den Tag mit sich weg. Deshalb zieht Jesus hier andeutungsweise einen Vergleich zwischen seinem bevorstehenden Tode und dem Sonnenuntergang. Mit ihm verlöscht das Licht der Sonne ja nicht, ja es wird dadurch nicht im Geringsten ihre Leuchtkraft vermindert; sie bleibt, was sie ist, und verschwindet nur für die Augen der Menschen. Zugleich lehrt Christus hier, dass es erst, als er Mensch wurde, für die Welt richtig heller Tag ward.
Gott hatte ihr ja zu allen Zeiten Licht geschenkt; das Erscheinen Christi brachte jedoch einen bisher unerhörten und ungewohnten Lichtglanz in die Welt. Jetzt ist, will er sagen, die allergeeignetste Zeit, des Vaters herrlichen Namen zu verklären, ein Tag voll Sonnenschein, an dem Gott mehr als sonst zeigen will, dass er da ist, durch große Wundertaten!
Aber wir verhält es sich denn damit, dass nach Christi Tod die Kraft Gottes noch weit glänzendere Beweise lieferte als vorher, sowohl in dem Erfolg, den die Lehre hatte, als auch in Wundern, und dass Paulus (2. Kor. 4, 6) gerade mit Bezug auf die Zeit, in der er predigte, sagt, Gott, der zu Anfang der Welt das Licht aus der Finsternis hervorleuchten ließ, habe damals durch das Evangelium im Angesichte Jesu Christi sein helles Licht erglänzen lassen? Ja, und auch in unseren Tagen lässt Christus sein Licht nicht minder hell in die Welt hineinstrahlen, als zur Zeit seines Erdenwandels. Die gestellte Frage beantworte ich so: Christus hat, nachdem er seinen Lauf nach des Vaters Auftrag vollbracht hatte, nicht minder gewaltig gewirkt durch seine Diener, als, so lange er in der Welt war, durch sich selber. Das ist allerdings richtig, aber zunächst einmal ist es kein Widerspruch dagegen, wenn er selber den Auftrag des Vaters ausführen musste, während der Zeit, in der er eben hierzu im Fleisch erschien. Ferner widerspricht dem nicht die Tatsache, dass die Zeit seiner leiblichen Gegenwart in Wahrheit ein unvergleichlicher, einziger Tag für unsere Welt war, ein Tag, der seine Strahlen aussendet durch Jahrhunderte und Aberjahrhunderte.
Woher kam es denn, dass einst den heiligen Vätern ein heller Strahl den Weg erleuchtete, und wovon kommt es, dass heute uns der lichte Tag scheint? Doch nur davon, dass Christi Erscheinung in der Welt ihre Strahlen weit rückwärts und weit vorwärts sendet. So webt sich die ganze Weltzeit zu einem einzigen Tage zusammen. Wer sich nicht von Christo führen lässt, der tappt im Dunkeln umher wie ein Blinder und wankt bald hier- bald dorthin. Wie nun die Sonne alle Schönheiten des Himmels und der Erde und der ganzen Natur unseren staunenden Augen zeigt, so hat Gott durch seinen Sohn die ganze Pracht seiner Werke kundgetan.
V. 6. Spuckte auf die Erde. Christus beabsichtigte, dem Blinden das Augenlicht wiederzugeben. Das griff er jedoch anscheinend recht verkehrt an. Indem er ihm den Erdbrei über die Augen schmiert, macht er ihn gewissermaßen zwiefach blind. Hätte man da nicht denken sollen, er wolle den armen Menschen noch obendrein verspotten oder gar, einen Wahnsinnigen gleich, lächerliche Streiche an ihm verüben? Weshalb tat er so? Er wollte bei dem Blinden auf diese Art Glauben und Gehorsam prüfen, damit er allen zum Vorbild dienen könnte. Es war doch sicher ein Beweis mehr als alltäglichen Glaubens, wenn der Blinde weiter nichts hat, als das Wort Jesu, - und doch dasselbe begierig und mit der festen Zuversicht ergreift: Ich soll mein Augenlicht bekommen! In diesem Glauben beeilt er sich, dahin zu gehen, wohin er geschickt wird. Sein Gehorsam ist hoch zu loben. Er befolgt in Einfalt Christi Wort, obwohl vieles ihn hätte bewegen könne, ungehorsam zu sein. Das ist die rechte Probe darauf, ob der Glaube echt ist, ob das Herz des Frommen sich begnügt mit dem einfachen Worte Gottes und um des Wortes willen glaubt, was sonst unglaublich schien. Dem Glauben folgt auf dem Fuße der bereitwillige Gehorsam; man übergibt sich getrost der Führung und dem Regimente Gottes, als des besten Führers. Es ist kaum daran zu zweifeln, dass der Blinde sich überlegt hat: Vielleicht treibt er nur seinen Spott mit mir! Aber solche Gedanken hat er gleich im Entstehen abgewiesen und hat sich durch alle Bedenken mit dem Entschluss hindurch gearbeitet: Ich gehe sicher, wenn ich Jesu folge! Wollte aber jemand einwenden: der Blinde wusste aber nicht, wer eigentlich Christus war, und konnte ihn also auch nicht so ehren, wie es dem Sohne Gottes zukam, - so müsste ich das zwar einräumen; aber wie steht es denn außerdem mit ihm? Er glaubte, dass Christus von Gott gesandt sei, er unterwarf sich seinem Gebot und zweifelte nicht daran, dass er wahrhaftig sei. Damit sieht er doch in Christo nur Göttliches. Seine Erkenntnis war wohl gering. Umso mehr Lob verdient sein Glaube, wenn er sich auch ohne volle Erkenntnis Christo so ganz hingab.
V. 7. Gehe hin zu dem Teich Siloah. Sicherlich hat weder das Baden, noch das Siloahwasser irgendwie die Heilung der Augen bewirkt. Christus hat nach freier Entscheidung bei seinen Wundern öfters solche äußeren Sinnbilder mit verwendet, sei es, um die Gläubigen an den Gebrauch dieser Zeichen zu gewöhnen, sei es, um zu zeigen, dass seinem Willen alles untertan ist, oder sei es, um zu bezeugen, dass in allem Geschaffenen nur so viel Kraft ist, wie Jesus ihm verleihen will. Wie der Schöpfer den ganzen Menschen aus einem Erdbrei machte, so bedient sich Christus hier desselben Mittels zur Heilung der Augen und zeigt damit an einem Gliede des Körpers die gleiche Macht, welche der Vater bei der Schöpfung des ganzen Menschen walten ließ.
Wahrscheinlicher noch wollte Jesus damit auch nur bezeugen: Es fällt mir nicht schwerer, die Augen der Blinden zu öffnen und dabei jedes Hindernis wegzuwaschen; und auf der anderen Seite ist es mir etwas so Leichtes, einem Menschen die Sehkraft zu nehmen, wie jedem anderen, ihm die Augen mit Schmutz zu überstreichen.
Im Siloahteich aber hieß er den Blinden sich waschen, vielleicht um den Juden recht unter die Augen zu rücken, dass es lediglich an ihnen selber lag, wenn sie an ihm die gegenwärtige Kraft Gottes nicht verspürten. Hatte doch Jesaja einst (8, 6) seine Zeitgenossen darum gescholten, dass sie das stille gehende Wasser zu Siloah verachteten und mehr Geschmack fanden an den reißenden, starken Strömen. Jesus handelte, wie mir scheint, aus demselben Beweggrunde, wie Elisa, als er den Naeman hieß, sich im Jordan zu baden. Dieser Teich wurde nach alten Angaben gespeist aus Abflüssen, die zu bestimmten Stunden aus dem Berge Zion hervorsprudelten. Absichtlich fügt der Evangelist zu dem Namen Siloah die Übersetzung hinzu. Der Quell mit diesem bedeutungsvollen Namen sollte die Juden täglich an das bevorstehende Kommen Christi, des „Gesandten“ Gottes, erinnern.
Als nun der Gesandte Gottes da war, verweigerten sie ihm die Aufnahme. In dieser Blindenheilung stellt uns der Evangelist an einem Beispiel die Bedeutung des Erbarmens Christi vor Augen. Er allein kann Licht in unsere Finsternis bringen und uns wirklich sehende Augen geben.
Bemerke übrigens, dass Christus, als er nun wirklich erschien, doch noch solcher Sinnbilder sich bediente. Er wollte so die ganze Stumpfheit seines Volkes offenbaren, das die leeren Sinnbilder allein festhielt und das, was sie bedeuten sollten, fahren ließ. Übrigens erstrahlt die Güte Gottes in hellem Glanze in der Freiwilligkeit, mit der er sich der Not des Blinden annimmt, ohne sich erst von ihm bitten zu lassen. Unsere Natur kehrt sich ja zunächst von Christo ab. Deshalb kommt er uns entgegen, ehe wir ihn rufen. Wir sind ohne ihn des Lichtes und Lebens beraubt. So würden wir elend zugrunde gehen. Deshalb macht er den Anfang und erweist uns seine Barmherzigkeit.
V. 8 bis 10. Die Nachbarn und die ihn zuvor gesehen hatten. Der Blinde war nicht nur den Nachbarn bekannt, sondern den Einwohnern der ganzen Stadt, da er bettelnd an der Tempeltür zu sitzen pflegte. Solche Leute sieht sich ja jeder Vorübergehende an. Weil er so stadtbekannt war, kam die Kunde von dem, was sich zugetragen hatte, vielen Menschen rasch zu Ohren. Wie erfinderisch ist doch die Gottlosigkeit, sobald es gilt, das, was Gott getan hat, herunterzureißen! Viele glaubten, es sei gar nicht der bekannte Tempelbettler: denn das, was sie da vor sich hatten, war eine Machtwirkung Gottes, wie sie noch keiner von ihnen erlebt hatte. Je herrlicher und größer die Taten Gottes sind, desto weniger Glauben bringen die Menschen ihnen entgegen. Aber die Zweifelsucht dieser Leute konnte nur dazu beitragen, das Wunder recht offenbar zu machen; denn nun tat der Geheilte selbst den Mund auf und pries die ihm widerfahrene Güte Christi. Sorgfältig sammelt der Evangelist alle die Einzelheiten, die dazu beitragen, ein recht helles Licht auf die Wahrheit des berichteten Wunders fallen zu lassen.
V. 11 u. 12. Ich ging hin und wusch mich. Dieser fröhliche Lohn des Gehorsams mahnt uns, mit Beiseitesetzung aller Hindernisse stracks dahin zu gehen, wohin der Herr uns ruft, ohne zu zweifeln, dass alles einen guten Ausgang nehmen muss, was man unter seiner Führung angreift.
V. 13. Da führten sie ihn zu den Pharisäern. Die nachfolgende Erzählung liefert den Beweis dafür, dass gottlosen Menschen auch große Gottestaten nichts nützen. Je unwiderleglicher sie ihnen zu Gemüte geführt werden, desto mehr speien sie von dem Gift ihrer Bosheit heraus. Steinerne Herzen hätte der Anblick des geheilten Blindgeborenen weich machen sollen; und die Pharisäer hätten doch zum wenigsten, betroffen durch das Unerhörte, Überwältigende des geschehenen Wunders, sich die Zeit nehmen sollen, zu der Frage: Ist dabei nicht Gottes Hand im Spiele? Aber sie sind so von Hass gegen Christum erfüllt, dass ihnen alle Überlegung schwindet, und sie, als sie von dieser Tat hören, nur ein Verdammungsurteil zur Hand haben. Der Evangelist nennt nur die Pharisäer, nicht als ob die anderen Parteien Christo günstig gewesen wären, sondern weil der pharisäische Eifer für den Bestand der gesetzlichen Ordnung sich besonders lebhaft gebärdete. Die Heuchelei ist stets grausam und hochmütig. Sie waren aufgeblasen von falschem Heiligkeitsdünkel. Deshalb fühlten sie vor allem sich verletzt, als Christus unerbittlich alle menschliche Gerechtigkeit als unwahr verdammte. Ihre Hauptwaffe im Kampfe gegen ihn ist der Vorwand: wir müssen das Gesetz gegen seine Angriffe verteidigen. In welcher Stimmung und Absicht übrigens der Volkshaufe den Blindgeborenen zu den Pharisäern brachte, ist aus dem Berichte des Evangelisten nicht zu ersehen. Jedenfalls war es wohl jedem bekannt, dass die Pharisäer die erbittertsten Feinde Christi waren. Möglicherweise wollte die Menge sich die Gunst der Pharisäer dadurch erwerben, dass sie ihnen Gelegenheit gab, das neueste Wunder Jesu zu begeifern.
Das Wahrscheinlichste jedoch ist mir, dass die meisten im Volke sich jedes Urteils enthielten, wie man das ja in ähnlichen Fällen so viel trifft, und die Sache vor die Leute brachten, welche in derlei Angelegenheiten das entscheidende Wort zu sprechen gewohnt waren. So machen sie in freiwilliger Blindheit das Sonnenlicht dunkel. Das ist die verkehrte Religion des unmündigen Volkes: die gottlosen Gewaltherrscher in der Kirche beten sie an, als wäre das die rechte Gottesverehrung; Gott selber verwerfen sie in seinen Worten sowohl als seinen Werken; und verachten sie ihn auch nicht offen, so halten sie es doch nicht für der Mühe wert, auf ihn Rücksicht zu nehmen.
V. 14. Es war aber Sabbat. Christus hat sich gerade den Sabbattag gewählt, der doch wieder den Juden Anstoß gab. Seine Erfahrungen mit dem Gelähmten von Bethesda sagten ihm, dass auch seine neue Tat von Verleumdung nicht verschont bleiben würde. Weshalb hat er sich denn aber nicht in Acht genommen, nicht von neuem Ärgernis zu geben? Die in arger Gesinnung von den Feinden unternommene Verteidigung des Sabbattages sollte die Wunderkraft Gottes in ein umso helleres Licht setzen. Der Sabbat wird für sie sozusagen der Schleifstein, an dem sie sich schärfen und nun desto gründlicher und leidenschaftlicher den ganzen Hergang der Sache an den Tag bringen. Was ist der Nutzen davon, dass sie eine sorgsame, ängstlich genaue Untersuchung anstellen? Es wird sonnenklar, dass wirklich ein Wunder, das nicht mehr zu leugnen ist, vorliegt. Außerdem lehrt uns diese Geschichte, dass wir, wenn wir Christo nachfolgen, die Feinde des Evangeliums in Erbitterung treiben müssen, ja sie lehrt uns, dass diejenigen wahrlich nicht weise sind, welche, um die Welt für Christum zu gewinnen, so fein säuberlich mit ihr verfahren, dass sie es sich zur Losung gemacht haben, nur ja kein Ärgernis zu geben, während doch Christus mit Wissen und Willen die Gottlosen gereizt hat. Die Regel, die Matthäus (15, 14) anführt, gilt es zu befolgen: „Lasset sie fahren! Sie sind blinde Blindenleiter“.
V. 15. Da fragten ihn abermals auch die Pharisäer. Die Aussage des Mannes hatte das Volk schon vorher gehört, jetzt bekommen sie auch die Pharisäer zu hören, die sonst die ganze Geschichte für ein leichtfertig weitergetragenes Volksgerücht hätten erklären können. Was tun sie aber nun? Sie springen von der Untersuchung des Tatbestandes ab und befassen sich nur noch mit der Frage, ob Jesus das tun durfte. Sie streiten es nicht ab, dass er den Blinden sehend gemacht hat, aber sie rechnen es ihm als Verbrechen an, dass er es an einem Sabbat tat, und sagen um dieser vermeintlichen Sabbatverletzung willen: Es ist kein Werk Gottes!
Was hindert sie daran, die Wahrheit zu sehen? Ihre arge Gesinnung, ihre Bosheit macht sie so blind, dass sie nichts zu sehen imstande sind. Man nehme hinzu, dass Christus sie vorher schon ausführlich darüber belehrt hatte, dass die Wohltaten, welche Gott den Menschen am Sabbat erweist, ebenso wenig diesen entweihen können, als die Beschneidung; auch befehlen die Worte des Gesetzes dem Menschen nur, dass er von seinen Werken ruhe, nicht aber von den Werken Gottes (2. Mo. 20, 8). Wenn sie einen so gründlich widerlegten Irrtum immer noch für unumstößliche Wahrheit ausgeben, so muss man das ihrer hartnäckigen Bosheit auf Rechnung setzen. Sie irren nur deshalb, weil ihnen der Irrtum gut gefällt. So machen es die Feinde der Wahrheit überall. Dem gegenüber gilt es, die Wahrheit unermüdlich zu bezeugen, damit sie doch endlich durchbreche. Zwar der Grundsatz, auf den sich die Pharisäer gegen Christum versteiften, war an sich gar nicht übel, nämlich, der sei nicht von Gott, der den Sabbat breche; aber das war von ihnen unbillig und ungerecht, dass sie von einem Werke Gottes behaupten, es sei eine Verletzung des Sabbats.
V. 16. Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen tun? Ein „Sünder“ bedeutet hier, wie an mehreren anderen Stellen: ein Frevler und Gottesverächter (Mk. 2, 16). Die Feinde Jesu nahmen an: er hat den Sabbat gebrochen, ist also ein Mensch ohne Religion und Gewissen.
Andere dagegen, welche in der Mitte stehen und billiger urteilen, halten daran fest: Nein, er ist ein frommer und gottesfürchtiger Mann, den Gott zur Verrichtung von Wundern mit besonderer Kraft begabt hat!
Doch ist dieser Beweisgrund allein nicht kräftig genug; denn auch falschen Propheten lässt Gott bisweilen Zeichen gelingen, und wir wissen ja, dass Satan Gott nachäfft und dieselben Werke tut, wie er, und dadurch unbedachte Menschen betrügt. So wird von dem römischen Kaiser Vespasian erzählt, es habe ihn einst, als er sich in der ägyptischen Stadt Alexandria aufhielt und auf offenem Marktplatze auf dem Richterstuhle saß, um Recht zu sprechen, ein blinder Mann darum angegangen, er möchte ihm mit seinem Speichel die Augen bestreichen; der ägyptische Gott Serapis habe ihm dies im Träume als ein Mittel angegeben, das ihm helfen solle. Vespasian mochte nicht gern auf diese Bitte eingehen. Er hatte keine Lust, sich durch ein wahrscheinliches Misslingen dem Gespött auszusetzen. Schließlich jedoch ließ er sich, als seine nächsten Freunde ihn drängten, dazu bewegen. Er erfüllte die Bitte des Blinden, und im Nu waren dessen Augen geöffnet. Wer möchte diesen heidnischen Kaiser deshalb unter die Diener des rechten Gottes zählen oder deswegen für besonders fromm ansehen? Gewiss niemand.
Das Kennzeichen, an dem man die Wunder der wahrhaft frommen und heiligen Menschen erkennen und von den anderen unterscheiden kann, ist einzig das, dass sie unzweifelhaft Kraftwirkungen des in ihnen wohnenden Geistes Gottes sind. Das können gottlose Menschen freilich nicht wahrnehmen; deshalb ist es ein gerechtes Gericht Gottes, das sie trifft, wenn sie Satan mit Lügenwundern und mit anderem Blendwerk der Hölle foppt. Die Geschichte von Kaiser Vespasian und dem Blinden halte ich nicht für ein Märchen. Ich sehe es vielmehr für eine gerechte Strafe Gottes an, dass die Juden, deren ja eine große Anzahl in der Stadt Alexandria wohnten, nachdem sie die vielen herrlichen Wunder, die Christus tat, alle verachtet hatten, solch ein satanisches Wunder zu sehen bekommen, das ihnen wohl, weil von einem mächtigen Kaiser gewirkt, besser gefallen haben mag.
Christi Wunder sollten ihnen einen Antrieb zu rechter Anbetung Gottes bringen, sie in der Erkenntnis des Gesetzes fördern und sie zum Messias selbst führen, der das Ende des Gesetzes ist.
Ohne Frage hat Christus damit, dass er dem Blinden das Augenlicht schenkte, klar bezeugt, dass er der Messias ist. Sind Leute, welche nicht bloß leichtsinnig, sondern böswillig sich sträuben, Gott in seinen Werken zu erkennen, nicht wert, dem Betrug des Satans zu verfallen? Gott gibt sie dahin. Bedenken wir deshalb, dass wir Gott mit aufrichtigem Herzen suchen müssen, damit er sich uns durch seinen Geist offenbare! Wir müssen gehorsam hinhören auf die Belehrung seines Wortes, damit er uns die wahren Propheten genau bezeichnen kann, deren Wunder kein Teufelslug sind. Dann werden wir von seinen Wundern Segen haben und nicht dem Betrug Satans preisgegeben sein.
In unserer Geschichte nun haben die betreffenden Leute ganz recht, wenn sie von den Wundern, in welchen Gottes Macht sich enthüllt, mit Ehrerbietung sprechen; aber der Grund, um dessen willen sie den Herrn Jesus als einen Propheten Gottes anerkennen, ist noch nicht hinreichend. Der Evangelist erzählt diesen Ausspruch auch nicht, weil er ihn für einen Ausspruch Gottes hätte ausgeben wollen. Es fällt dadurch nur ein noch ungünstigeres Licht auf die in ihrer Gottlosigkeit ganz verstockten Feinde Christi, die froh sind, nur irgendwo einen Angriffspunkt an offenbaren Taten Gottes herauszufinden, und nun selbst auf ausdrückliche Mahnung anderer hin auch nicht einen Augenblick lang in ihrem schändlichen Gebaren einhalten.
Und es ward Zwietracht unter ihnen. Das größte und schädlichste Übel in der Gemeinde Gottes ist Spaltung in Glaubenssachen. Wie kommt es nun, dass Christus der Anlass dazu wird, dass sich die Lehrer der Kirche untereinander entzweien? Darauf ist unschwer die Antwort zu geben: Christus hatte nur die eine Absicht, alle sozusagen mit nach jedem einzelnen ausgestreckter Hand zu Gott dem Vater hinzuführen. Die Uneinigkeit hatte einzig und allein in den bösen Herzen derer ihren Ursprung, die keine Lust dazu hatten, Gott zu nahen. Diejenigen bringen Spaltung in die Kirche hinein, denen es der Mühe zu viel ist, der Wahrheit zu gehorchen. Nun ist es immer noch besser, wenn die Menschen untereinander in Zwietracht sind, als wenn sie alle einmütig von der Frömmigkeit abfallen. So oft also Zwiespalt ausbricht, muss man darauf achten, wo er herkommt.
V. 17. Sie sprachen wieder zu dem Blinden. Je mehr sie ihn ausfragen, desto mächtiger kommt die Wahrheit an den Tag. Sie sind wie Leute, die eine Flamme dadurch zum Erlöschen bringen wollen, dass sie kräftig hineinblasen. Wenn wir also sehen, dass die Gottlosen alles aufbieten, um die göttliche Wahrheit tot zu machen, - nur keine Angst, nur keine allzu großer Besorgnis, was daraus wohl werden möge! Was werden sie erreichen? Dass das Licht der Wahrheit nachher noch heller brennt, als vorher. Wenn sie nun bei dem Blindgewesenen danach forschen, was er wohl meine, so tun sie das nicht, um der Sache auf den Grund zu kommen, auch nicht, weil ihnen auch nur das Allermindeste an seinem Urteil gelegen wäre, sondern weil sie hoffen, er möchte sich einschüchtern lassen und ihnen eine Antwort geben, wie sie sie gerne hätten. Diesen Anschlag lässt ihnen der Herr nicht gelingen. Denn wenn ein solcher Mann von geringer Herkunft unerschrocken, unbekümmert um alle Drohungen, von Christo aussagt: Er ist ein Prophet, so muss man das als eine Wirkung besonderen gnädigen Beistandes Gottes ansehen. Die freudige Zuversicht, mit der dieser Mann Bescheid gibt, ist nochmals eine Art Wunder. Wenn er, der noch nicht einmal begriff, dass Christus Gottes Sohn ist, so herzhaft und freimütig sein Bekenntnis ablegte, wie müssen sich dann die treulosen Menschen schämen, welche vor lauter Angst Christum verleugnen, oder doch verstummen, während sie wissen, dass er zur Rechten des Vaters sitzt und von dort aus kommen wird als Richter des ganzen Erdkreises! Der Geheilte hat das Fünkchen Erkenntnis, dass er besaß, nicht erstickt. So müssen wir, die wir die ganze Lichtfülle der Wahrheit besitzen, erst recht den Mut haben, Bekenner zu sein, deren Worten der Adel einer des Heilandes frohen Christenseele aufgeprägt ist.
V. 18. Die Juden glaubten nicht. Zweierlei ist hier zu bedenken: einmal, dass sie nicht glauben, dass ein Wunder geschehen ist, und zweitens, dass sie aus grimmigem Hass gegen Christum krampfhaft die Augen zumachen, um nur nicht zu sehen, was so klar am Tage liegt. Der Evangelist berichtet: sie haben es nicht geglaubt. Wenn man fragt: „Wie ist das möglich?“ so kann es keinem Zweifel unterliegen: sie wollten eben blind sein. Oder lässt sich irgendein anderes Hindernis nennen, dessentwegen sie das ihnen dicht vor die Augen gehaltene strahlende Gotteswerk nicht zu sehen imstande sind? Sie waren überführt, dass das Wunder geschehen war, und dennoch glaubten sie nicht. Sie glaubten nicht, was sie mit Händen greifen konnten. Die innere Bosheit hält ihnen die Augen zu. Paulus äußert einmal, derselbe Vorgang finde immer wieder statt bei der Predigt des Evangeliums; das Evangelium sei an und für sich nicht verhüllt oder unverständlich, - das sei es nur für die Verworfenen, deren Augen der Gott dieser Welt geblendet habe (2. Kor. 4, 4). Mögen uns diese Beispiele warnen, dass wir uns nicht selber Glaubenshindernisse schaffen! Als „Juden“ bezeichnet der Evangelis hier die regierende Partei.
V. 19 bis 21. Ist das euer Sohn? Bei der ersten Art der Untersuchung ist das Ergebnis für die Pharisäer nicht das gewünschte gewesen. So versuchen sie es denn auf eine andere Weise. Aber auch hier lässt der Herr nicht nur ihre Pläne fehlschlagen, sondern gibt ihnen den gerade entgegengesetzten Erfolg. Um nun die gewünschte Antwort von vornherein herbeizuführen, stellen sie nicht nur eine Frage, sondern gleich zwei und machen die erste ziemlich umständlich. Die Eltern beantworten indes nicht alles, was sie gefragt werden. Sie meiden die gelegte Schlinge und sagen nur, er sei ihr Sohn, sei auch blind auf die Welt gekommen. Daraus folgt, dass er nicht auf natürlichem Wege, sondern nur durch ein Wunder sehend geworden ist. Davon sagen sie aber nichts, da sie wohl merken, dass eine solche Aussage höchst ungünstig aufgenommen werden würde. Dass sie darüber sich nicht äußern, zeigt, wie wenig sie die Heilung ihres Sohnes Jesu Dank wussten. Die herrliche Tat Gottes hätte ihnen das Herz zum innigsten Lobpreis seines Namens bewegen sollen. Aber aus lauter Angst legen sie, soweit sie das vermögen, die ihrem Sohne zuteil gewordene Gnadenerweisung ins Grab. Sie wagen nur, an ihrer Stelle als Zeugen den Sohn vorzuschieben. Er soll berichten, wie es hergegangen ist. Er wird, so meinen sie, den Hass der Juden nicht in dem Maße auf sich laden, wie sie es tun würden; auch ist er glaubhafter. So haben sie die Gefahr schlau vermieden. Des ungeachtet verurteilt der Evangelist durch seine hinzugesetzte Bemerkung ihr Verhalten. Aus Mutlosigkeit haben sie ihre Pflicht zu erfüllen versäumt. Wie viel weniger werden diejenigen eine Entschuldigung haben, welche die ganze Lehre Christi, alle seine Wunder, seine Macht und Liebe kennen und ihn dennoch treulos verleugnen!
V. 22 u. 23. Die Juden hatten sich schon vereinigt usw. Diese Stelle zeigt uns, dass der Bann ein alter, zu allen Zeiten gehandhabter Brauch ist. Man hat ihn nicht erst damals erfunden. Der Bann war von jeher gegen Abtrünnige und Gesetzesverächter geschleudert worden. Nun gebrauchte man ihn auch gegen Christum und seine Jünger. Beobachten wir das hohe Alter dieser kirchlichen Einrichtung! Wie wir hier sehen, ist der Missbrauch des Bannes auch nicht erst vor kurzem aufgekommen; nicht bloß die Blätter eines einzelnen Zeitraumes der Kirchengeschichte sind damit befleckt worden, dass gottlose Menschen mit tempelschänderischer Hand ehrwürdige Einrichtungen entweihten. Gottes ursprünglicher Wille war, es sollte in dem Bann ein Zuchtmittel für Widersetzliche liegen. Priester und Schriftgelehrte nahmen ihn in ihre Hand, nicht bloß, um Unschuldige dadurch zu plagen, sondern sogar, um frevlerischer Weise Gott selbst und die göttliche Lehre anzugreifen. Die von Christo verkündigte Wahrheit war so mächtig, dass sich ihr nicht mit geringeren Mitteln begegnen ließ: so griff man zu den Bannstrahlen, um durch sie den Kampf siegreich zu Ende zu bringen. Wie in Israel, so ging es nachher auch in der Christenheit. Der Zunge fehlen die Worte, um es auszusprechen, mit welcher Grausamkeit und Tyrannei unwürdige Bischöfe das Volk eingeschüchtert haben, damit es sich nicht zu regen wage. Ja, noch heute fliegt der Bannstrahl gegen alle wahren Anbeter Gottes. Das eine ist sicher: wo er von menschlicher Willkür gehandhabt wird, wozu ihn Gott nicht gab, da ist er völlig verächtlich. Als Gott der Kirche das Recht gab, in den Bann zu tun, da wollte er damit nicht den Tyrannen und ihren Henkersknechten ein Schwert in die Hand drücken, womit sie Seelen morden sollten, sondern er wollte nur einen Weg zeigen, wie unter gewissen Umständen sein Volk zu regieren sei. Bei der Handhabung des Bannes behielt er sich jedoch die oberste Entscheidung vor; was Gott beschloss, hatten die Menschen dann als seine Diener auszuführen. Wer sich Christo nicht völlig untergibt, der hat keinerlei Recht, den Bann auszuüben. Übrigens hebt der Missbrauch des Bannes seinen rechten Gebrauch nicht auf. Christus hat nicht daran gedacht, ihn abzuschaffen, er hat ihn vielmehr in seiner Reinheit wieder hergestellt. In der rechten Weise muss er bei uns in Übung sein. Satan vermag alles zu besudeln. Er würde bei dem Bann sein letztes Ziel erreicht haben, wenn er ihn gänzlich beseitigt hätte. Wer ihn also abschaffen wollte, täte Satan damit keinen geringen Gefallen. Auch Taufe, Abendmahl, ja alles, was zur christlichen Religion gehört, hat er schon mit seinen schmutzigen Händen verunreinigt. Wäre das ein Grund zur Abschaffung, so würde uns nicht mehr bleiben.
V. 24. Da riefen sie zum anderen Male. Ohne Zweifel riefen die Pharisäer den Blinden bloß deshalb noch einmal vor, weil sie sich sonst bloßgestellt hätten. Freiwillig würden sie es nicht getan haben. Es war ihnen zu frischem Gedächtnis, wie kühn und unverzagt er gesprochen hatte. Je größere Anstrengungen sie gegen Gott machen, desto mehr verwickeln und verstricken sie sich selbst. Man beachte die Fragestellung! Sie soll dem Gefragten unmittelbar die Antwort, auf die es ihnen ankam, in den Mund legen. Ach, wie hörte es sich zunächst so schön an: Gib Gott die Ehre! Aber hinterdrein kommt die herrische Forderung, er solle wider sein besseres Wissen und Gewissen reden. Unter Zuhilfenahme einer frommen Redensart verlangen sie von ihm ein willenloses Sichfügen.
Gib Gott die Ehre. Man hat diese Worte so gedeutet, als hätten sie dadurch den Blindgewesenen beschworen, doch nicht einem Menschen zuzuschreiben, was allein Gott getan haben könne. Allein mir scheint die andere Auslegung vorzuziehen, wonach die Worte eine Formel waren, vermittelst deren man jemandem einen Eid zuschob. Als Josua von Achan das Geständnis verlangte, dass er etwas von dem Gebannten entwendet habe, brauchte er dieselben Worte (Jos. 7, 19). Sie sollten den Betreffenden daran erinnern: Es ist eine schwere Versündigung gegen Gott, wenn du bei seinem Namen die Unwahrheit sagst! Deshalb eignet sich diese Formel auch heute noch zur Einleitung eines Schwures. Gottes Ehre und die Wahrheit müssen uns gleich kostbar sein. Wäre das der Fall, so würden keine Meineide geschworen. Wie viele Gottesleugner gibt es aber heutigen Tages, die sich gar nichts daraus machen, den Namen Gottes anzurufen, damit man ihnen ihre Lüge glaubt! Wie leichtfertig werden so viele Eide geschworen! Wie wimmelt es von Meineidigen im Lande! –
Die Juden hier stellen sich an, als wären sie voll der höchsten Ehrerbietung gegen Gott. Das ist nicht nur elende Verstellung: sie trieben sogar frechen Spott mit dem Heiligsten; denn in einem Atem lassen sie den feierlichen Beschwörungsworten die Aufforderung an den Geheilten folgen, er solle, Gott trotzig die Stirn bietend, eidlich beteuern, was sie verlangen. Aber Gott zieht ihre frevelhaften Pläne ans Licht, mögen sie dieselben noch so bunt einkleiden und mit Flitterputz zu vermummen suchen.
V. 25. Ist er ein Sünder, das weiß ich nicht. Hier sieht es aus, als ob der gewesene Blinde von seinem bisherigen freimütigen Bekenntnis einen nicht unbedeutenden Schritt zurückginge. Es ist nicht glaublich, dass er tatsächlich über Christum im Zweifel gewesen sein sollte. Ich vermute jedoch, dass er seine Worte gar nicht so gemeint hat, wie sie klingen. Das wird schon der Ton, in dem er redete, haben erkennen lassen. Er wollte ihnen einen Stich mit diesen Worten geben. Eben erst hatte er gesagt: Er ist ein Prophet; jetzt gibt er, weil er sieht, dass es doch nichts hilft, kein Urteil über die Person Christi ab. Er stellt nur den Tatbestand hin. So ist der Schritt rückwärts, den er tut, nur scheinbar ein Rückschritt; in Wirklichkeit will er die Pharisäer nur zum Besten haben.
V. 26 u. 27. Da sprachen sie wieder zu ihm. Wie geschäftig sind doch diese gottlosen Menschen bei der Betreibung ihres schändlichen Vorhabens! Ihr Eifer muss uns beschämen, wenn wir oft gar so lässig sind, wo es das Werk Christi zu treiben gilt. Wie jagen sie hinter dem geringsten Anhalt zur Verleumdung Christi her! Sie möchten ja so gerne das geschehene Wunder in schlechtes Licht setzen. Die Mannhaftigkeit des Geheilten jedoch lässt alle ihre Pläne scheitern. Er bleibt nicht nur unentwegt bei seiner ersten Aussage, er geht sogar zu freimütigem und ernstem Tadel gegen ihr Verhalten über, dass sie, obwohl ihnen der wahre Sachverhalt zur Genüge bekannt ist, sodass jede weitere Frage überflüssig sein sollte, doch noch weiter fragen, in der Absicht, das Wunder aus der Welt zu schaffen.
In der Frage (V. 27): Wollt ihr auch seine Jünger werden? liegt der Vorwurf: Es ist doch schändlich von euch, Christum zu hassen! Er will sagen: Und wäret ihr hundertmal überführt, es würde nichts helfen; ihr seid ganz voll von Bosheit und Feindschaft gegen ihn! Man muss sich freilich über den Freimut wundern, mit dem dieser unbeachtete, geringe Mann, dem noch dazu der Makel eines Bettlers anhaftete, in aller Seelenruhe das Wetter der Wut der gesamten Priesterschaft über sich heraufbeschwört. Kaum zum Glauben notdürftig durchgedrungen, muss er schon in einen solchen Kampf hinein. Und doch: welche Zuversichtlichkeit! Wahrlich, da bleibt denen keine Entschuldigung, welche weit vom Schuss den Mund voll nehmen in der Verkündigung des Evangeliums, aber wie auf den Mund geschlagen sind, sobald sich Gefahr zeigt. Natürlich ist eben die besprochene Frage auch nicht ernst gemeint, sondern ein Spott. Der Grund, weshalb sie so emsig forschen, - das weiß der Blindgeborene gar wohl, - ist nicht ehrliches Suchen nach der Wahrheit, sondern lediglich böser Wille.
V. 28 u. 29. Da schalten sie ihn. Wahrscheinlich haben sie hier allerhand Scheltworte gebraucht, die ihnen gerade der Anfall von Wut und Jähzorn eingab, sodass es nur eine Probe ist, von der aus wir auf das Übrige schließen können, wenn sie ihn als vom Gesetze Abtrünnigen bezeichnen. Christi Jünger und Gesetzesverächter war ja in ihren Augen ein und dasselbe. Fein berechnend stellen sie die Gegensätze auf: Christi Jünger – Moses Jünger. Ihr Verfahren wissen sie in ein schönes Gewand zu hüllen. Sie fürchten sich, auch nur handbreit von Moses Lehre abzuweichen. Wirklich fromme Menschen nehmen es sich zur Lebensregel, Gottesmänner, die ganz gewiss göttliche Offenbarung vermittelt haben, zu hören, aber nicht jeder beliebigen Behauptung Glauben zu schenken. Diesen Grundsatz bekennen auch die Pharisäer und stellen sich deshalb entschlossen auf Moses Seite. Und doch sind sie nicht Moses Jünger. Das ist eine Lüge, - denn als der kommt, auf welchen das Gesetz abzielte, wenden sie sich von ihm ab. So machen es die Heuchler je und je. Sie reißen die Offenbarung Gottes in Stücke und behaupten kecklich, sie hätten Gott für sich. Ist Christus, wie Paulus (Röm. 10, 4) lehrt, die Seele des Gesetzes, - was wird dann das Gesetz, wenn man es von ihm trennt? Eine Leiche! Der also ist kein rechter Hörer auf Gottes Stimme, der nicht bereit ist, alles, was er zu sagen hat, willig anzunehmen. Wenn sie sagen, sie wüssten nicht, von wannen Christus sei, so ist das nicht auf sein Vaterland oder auf seinen Geburtsort zu beziehen, sondern auf sein prophetisches Amt. Sie schützen vor, keine Kenntnis davon zu besitzen, dass er zum Propheten berufen sei; sie könnten ihn deswegen nicht als einen von Gott Ausgegangenen aufnehmen.
V. 30. Das ist ein wunderlich Ding. Der Mensch nimmt die Pharisäer scharf her, weil sie unwahrhaftiger Weise sagen, sie wüssten nichts von einer Berufung Christi. Weshalb entnehmen sie denn dem geschehenen Wunder darüber keine Belehrung? Er will sagen: es ist kein Sinn und Verstand darin, dass ihr einen solchen Beweis göttlicher Begabung so völlig missachtet, und dass ihr an die Berufung Christi nicht glauben wollt, wo sie doch durch eben dies Wunder so glänzend verbürgt ist! Um ihnen nun ihre vorsätzliche Unbelehrbarkeit desto besser zu Gemüte zu führen, zeigt er, wie groß und herrlich das Wunder ist, durch Hinweis darauf, dass so weit auch Menschen sich zurückerinnern können, noch keiner erlebt oder auch gehört hatte, dass ein Mensch etwas Derartiges getan hätte. Daraus folgt, dass Leute, die bei einer solchen Gottestat sich anstellen, als sei sie nichts Besonderes, boshafte, undankbare Menschen sind. Für ihn ergibt sich der Schluss von selbst: wer so etwas fertig bringt, ist von Gott gesandt; Gott hat ihm solche Macht verliehen, damit er umso leichter für sich und seine Lehre Glauben finde.
V. 31 bis 33. Wir wissen aber, dass Gott die Sünder nicht hört. Im Irrtum sind die, welche meinen, der Blindgewesene habe so nur nach der im Volke herrschenden Meinung geredet. „Sünder“ bezeichnet hier (wie V. 16) einen gottlosen Menschen und Frevler. Allenthalben lehrt die Schrift, dass Gott nur diejenigen erhört, welche ihn in Wahrheit und mit lauterem Herzen anrufen. Der Glaube allein öffnet uns die Tür zu Gott. So ist es sicher, dass kein Gottloser bei ihm Zutritt haben kann. Die Schrift bezeugt im Gegenteil, dass er ihre Bitten verabscheut, wie ihm auch ihre Opfer zum Ekel sind (Spr. 28, 9; Jes. 1, 11 – 15). Nur seinen Kindern gibt er das Vorrecht, ihm im Gebete zu nahen. Der Geist der Kindschaft ruft in unseren Herzen: „Abba, lieber Vater!“ Kurz, nur der ist zum Beten recht beschaffen, dessen Herz durch Glauben gereinigt ist. Gottlose Leute entweihen in ihrem Gebet nur den heiligen Namen Gottes, weswegen sie eher verdient haben, für ein solches Beten bestraft, als durch göttliche Wohltaten belohnt zu werden. Der Geheilte hat es sich also ganz richtig überlegt: Christus muss von Gott ausgegangen sein, - geht doch Gott so freundlich auf seine Bitten ein.
V. 34. Du bist ganz in Sünden geboren. Das soll eine Anspielung auf seine angeborene Blindheit sein. So machen es ja hochmütige Menschen: ist jemand im Unglück, so plagen sie ihn noch obendrein. Sie wollen ihm recht weh damit tun, dass sie sagen: dass du ein ganz verworfener Mensch bist, das beweist ja der Makel, den du von Geburt an dir trugst. Nicht wenig Schriftgelehrte waren Anhänger der Irrlehre, als wanderten die Seelen, wenn der Leib stürbe, jedes Mal in einen neuen Leib, um darin für in einem früheren Leibe begangene Übeltaten zu büßen. Insofern können sie hier dem Geheilten vorwerfen: von Geburt an bist du mit großen Missetaten befleckt. Dies grundverkehrte Urteil sollen wir uns zur Warnung dienen lassen: dass wir nicht den, der viel zu leiden hat, deswegen für einen besonders großen Sünder ansehen (Vgl. zu V. 1 f.). Nicht genug damit, dass diese Heuchler das Unglück eines Menschen zur Zielscheibe ihrer boshaften Worte machen, weisen sie auch unter Beschimpfungen seine Ermahnungen ab, so gut und wohl angebracht sie waren. So geht es ja gemeiniglich her: niemand lässt sich belehren von dem, den er verachtet. Auf Gottes Stimme muss man aber immer hören, einerlei durch wen er gerade reden will.
Lasst uns lernen, niemanden zu verachten! Gott will uns immer sanft und lernbegierig finden, mag er sich auch eines ganz verachteten und nichtsnutzigen Menschen bedienen, um uns zu belehren. Es gibt kaum eine Krankheit des Menschengeistes, die schlimmer wäre, als die, dass man vor lauter Hochmut nicht zuhören will, selbst wenn uns jemand nützliche Ermahnungen erteilt. Mit weiser Absicht wählt Gott öfter gewöhnliche, ja missachtete Menschen, durch die er uns Mahnung oder Belehrung zukommen lässt, um auf diese Art unseren hochfahrenden Sinn zu beugen.
Und stießen ihn hinaus. Möglicherweise soll das heißen: sie legten Hand an ihn und warfen ihn aus dem Tempelraum hinaus. Ich glaube jedoch, der Evangelist will damit sagen: sie taten ihn unter Anwendung der gebräuchlichen Rechtsformeln in den Bann. Diese Auslegung passt auch besser zu dem Fortgang der Erzählung. Hätte man ihn nur, um ihm eine Schmach anzutun, hinausgeworfen, so wäre das nicht so bedeutungsvoll gewesen, dass das Gerücht davon hätte zu Jesu dringen müssen. Daraus, dass Christus davon gehört hat, schöpfe ich die Vermutung: es ist in feierlicher Weise über den Geheilten der Bann verhängt worden. Übrigens lehrt uns diese Geschichte, wie hohl und durchaus nicht furchtbar die Bannsprüche der Feinde Christi sind. Werden wir von der Gemeinschaft, in welcher Christus herrscht, ausgeschlossen, so bringt dies ein schauerliches Gericht über uns; damit werden wir dem Satan übergeben als solche, die aus dem Reiche des Gottessohnes verstoßen sind. Dagegen soll man sogar freiwillig von da, wo Christus nicht durch sein Wort und seinen Geist den Vorsitz führt, fortlaufen, wenn gleich niemand uns vertreibt.
V. 35. Und da er ihn fand. Hätte man den Menschen in der jüdischen Gemeinschaft behalten, so wäre Gefahr vorhanden gewesen, dass er, allmählich von Christo entfremdet, mit den Feinden Jesu wieder gemeinsame Sache gemacht hätte. Außerhalb des Tempels irrt er umher. Da kommt ihm Christus entgegen. Die Priester hatten ihn ausgestoßen. Er nimmt ihn liebevoll auf. Dem am Boden Liegenden hebt er empor. Dem, der feierlich dem Tode übergeben ist, bietet er das Leben an. Genauso ist es in unseren Tagen ergangen. Als Luther und seinesgleichen anfänglich die gröbsten Missbräuche des Papsttums tadelten, da hatten sie kaum ein wenig von dem reinen Christentum geschmeckt. Alsbald schleuderte der Papst seine Blitze gegen diese Männer. Rom verstieß sie durch Bannbullen, vor denen alles zitterte. Da reichte Christus ihnen die Hand, und nun lernten sie ihren Heiland erst richtig kennen. Deshalb ist es ein großes Glück für uns, wenn wir recht weit weg sind von den Feinden des Evangeliums. Dann kommt der Heiland uns ganz nahe.
Glaubst du an den Sohn Gottes? Jesus spricht hier mit einem Juden, der, von Kind auf im Gesetz unterwiesen, es gelernt hatte, dass nach Gottes Verheißungen ein Messias zu erwarten war. Folglich hat die Frage Christi für ihn die Bedeutung einer Ermahnung: Folge dem Messias nach und gib dich ihm hin! Dabei bediente sich Jesus aber eines ehrenvolleren Namens, als die Juden dem Messias zu geben pflegten. Sie erwarteten nur den Sohn Davids.
V. 36. Welcher ist es? auf dass ich an ihn glaube. Diese Antwort zeigt, dass der Mensch, der bisher über Christum nichts Sicheres und Rechtes wusste, willig und lernbereit war. Seine Worte hören sich an, als wollte er sagen: Zeige ihn mir nur, so bin ich bereit, ihn mit Freuden zu begrüßen! Zu beachten ist, dass der Geheilte von dem belehrt zu werden wünscht, in welchem er einen gottgesandten Propheten erkannt hat. Das stand ihm fest. Deswegen baut er so zuversichtlich auf Christi Wort.
V. 37. Du hast ihn gesehen usw. Durch diese Worte Christi konnte der gewesene Blinde nur einen geringen Teil des gesamten Christenglaubens erlangen. Mit keinem Wort erwähnt Christus die ihm zustehende Machtbefugnis, den Zweck seiner Sendung, die Gaben, die er den Menschen gebracht hat.
Die vorzüglichsten Glaubensartikel sind folgende: wir müssen Gewissheit haben, dass durch das Opfer seines Todes unsere Sünden gesühnt, dass wir wieder mit Gott versöhnt sind, dass er in seiner Auferstehung den Triumph davongetragen hat über den völlig besiegten Tod, dass wir durch seinen Geist erneuert werden, um, dem Fleisch und der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit zu leben, dass er unser einziger Mittler ist, dass der Geist das Unterpfand für unsere Annahme als Gotteskinder ist, und endlich, dass in Christo alles das unser eigen wird, was zum ewigen Leben gehört.
Entweder gibt also der Evangelist hier bloß ganz kurz den hauptsächlichsten Inhalt dessen wieder, was Christus ausführlicher zu dem Blindgeborenen gesagt hat, oder – und dies ist mir wahrscheinlicher – der ganze Bericht ist so gemeint, dass der Mensch jetzt im Allgemeinen ein Anhänger Christi wurde, um von diesem Glaubensanfang an in bleibender Jüngerschaft eine völligere Erkenntnis zu gewinnen.
V. 38. Und bete ihn an. Hat er ihm damit göttliche Ehre erwiesen? Das Wort, das der Evangelist hier anwendet, besagt nichts anderes, als dass er seine Knie beugte oder auf andere Weise Jesu zeigte, wie sehr er ihn verehrte. Jedenfalls aber ist hier von etwas die Rede, was selten vorkam und Jesu nicht oft erwiesen worden ist. Der Geheilte hat Christo weit mehr Ehre erzeigt, als er es einem gewöhnlichen Menschen oder auch einem Propheten getan hätte. Doch glaube ich nicht, dass er damals schon das klare Bewusstsein hatte, dass in Christo der im Fleisch geoffenbarte Gott vor ihm stand. Was ist aber dann der Sinn der Anbetung? Der frühere Blinde ist überzeugt: Jesus ist Gottes Sohn. Er gerät außer sich vor Bewunderung und wirft sich, dem augenblicklichen Antriebe folgend, vor ihm zu Boden.
V. 39. Ich bin zum Gerichte auf diese Welt gekommen. „Gericht“ kann hier nicht einfach „Strafe“ bedeuten. Es handelt sich hier nicht nur um die Bestrafung der Gottlosen und Gottesverächter, sondern der Ausdruck begreift auch die Gnade der Erleuchtung in sich. Christus „richtet“ und schlichtet also, wenn er in verworrene Angelegenheiten wieder Ordnung bringt. Er deutet zugleich mit diesem Worte an, dass, was da geschieht, nach Gottes wunderbarem Rate geschieht, gegen die gewöhnlichen Gedanken der Menschen. Menschlicher Verstand wäre nie darauf gekommen, dass Leute welche ihn sehen, durch dies Licht der Welt blind werden könnten. Dies ist eins von den heimlichen Gerichten Gottes. Er wirft den Übermut der Menschen damit darnieder. Man beachte, dass die hier erwähnte Blindheit nicht eigentlich von Christo stammt, sondern von der Sünde der Menschen selbst. Es ist nicht Jesu Natur, dass er jemanden blind macht. Aber die Verworfenen haben keinen heftigeren Wunsch, als den, sein Licht zum Erlöschen zu bringen. Deshalb nehmen die Augen ihres Verstandes, die ja von bösem Willen und Schlechtigkeit krank sind, Schaden bei dem Strahl seines Lichtes. Es ist also nur eine Begleiterscheinung der Tatsache, dass Christus das Licht der Welt ist, wenn sie bei der Begegnung mit ihm blind werden.
Doch nun fragt es sich, wenn alle ohne Ausnahme unter das Urteil fallen, dass sie blind sind, wer dann die Sehenden sein sollen. Diese Frage ist dahin zu beantworten, dass Jesus sich einmal in die eingebildeten Gedanken der Ungläubigen hineinversetzt; sie vermögen zwar nicht, zu sehen, halten sich aber selbst für sehr scharfsichtig. Weil sie sich das einbilden, halten sie es für unter ihrer Würde, auf Gott zu hören. Wenn man ganz von Christo absieht, nimmt sich ja auch die fleischliche Menschenweisheit gar nicht übel aus; die wahre Weisheit dagegen ist der Welt unergründlich. Es ist also nicht im Ernste gemeint, sondern nur eine ironische Einräumung, wenn Jesus hier sagt, sie sähen. Sie bilden sich ein, weise zu sein und andere glauben es auch, obwohl sie, in ihren eigenen Gedanken befangen, von der wirklichen Weisheit ferne sind. Dergleichen Leute büßen angesichts des Evangeliums ihre Sehkraft ein. Das ist nicht bloß so gemeint, dass ihre Torheit, von der man vorher im Dunkel des Unglaubens nichts merkte, nun an den Tag kommt, nein, zufolge eines Verhängnisses der göttlichen Gerechtigkeit versinken sie immer mehr in Finsternis: denn nun kommen ihnen auch die früher ihnen noch gebliebenen Fünkchen wahren Lichtes abhanden. Wir kommen alle als blinde Leute auf die Welt, aber so verderbt und sündhaft wir auch von Natur sind, - die Verfinsterung wird doch von kleinen Lichtfunken durchbrochen; darin besteht der Unterschied zwischen Mensch und Tier. So wird man, so lange man von Christo absieht, einen Menschen, dessen aufgeblasener Hochmut sich Gott nicht unterwerfen will, unter Umständen für einen weisen Mann ansehen. Vom Lichte Christi bestrahlt, steht er jedoch als Tor da.
Die Eitelkeit aller menschlichen Gedanken wird erst da offenbar, wo ihr die Weisheit vom Himmel her gegenübertritt. Doch wird man, wie schon berührt, mit dieser Betrachtung noch nicht die ganze Meinung Christi erschöpfen. Ehe Christus strahlend vor ihnen steht, wagen die Heuchler noch keinen offenen Widerstand gegen Gott. Erst, wenn ihnen das Licht ganz nahe kommt, lassen sie die Friedensmaske fallen und zeigen als ihr wahres Angesicht das der Feinde Gottes. Boshaft und undankbar, sind sie nun schuld daran, dass ihre Blindheit noch einmal so arg wird, wie zuvor. Jetzt sind sie völlig des wahren Lichtes beraubt, und Gott straft sie dadurch, dass er ihre Sehkraft völlig vernichtet. Kurz lässt sich der Inhalt unseres Verses so zusammenfassen: Christus ist in die Welt gekommen, um die Blinden zu erleuchten, diejenige dagegen, welche sich selbst für klug halten, ganz unsinnig zu machen. Trotz dieser letzteren Wirkung kann sich aber Jesus einfach als das Licht der Welt bezeichnen (V. 5), wobei ihm eben nur der eigentliche Zweck seines Kommens vorschwebt. Er ist nicht gekommen, um die Welt zu richten; er will das Verlorene retten. Welche Verantwortung also, wenn wir uns durch törichten Weisheitsdünkel selbst die Strafe zuziehen, von der Christus hier doch nur sagt, was auch unsere Erfahrung bestätigt! Es gibt sehr viele Menschen, denen sofort alle vernünftige Besinnung schwindet, wenn nur ein Strahl der Sonne der Gerechtigkeit sie berührt. Sie sind dann wie rasend. Adam hatte doch seiner Zeit wahres Leben und war begabt mit dem vollen mit dem vollen Lichte des Verstandes, so dass man hätte meinen sollen, dass er wahrlich hätte sehen können. Und doch gelüstete es ihn, und er ging seiner göttlichen Begabung verlustig. Wie viel tiefer stehen wir als er damals! Wir sind in Finsternis versunken und nach dem Willen Gottes in einem Zustande tiefer Erniedrigung. Haben wir nun mitten in unserer elenden Lage dennoch Gefallen an uns, wagen wir es, unsere armen eigenen Gedanken frech der himmlischen Weisheit entgegenzustellen, so ist es kein Wunder, wenn die Rache Gottes in aller Schwere über uns hereinbricht, und wir in zwiefache Blindheit geraten. Genau dasselbe widerfuhr schon den Gottlosen zur Zeit des Gesetzes. Die Sendung des Jesaja an das alte Bundesvolk hat dessen völlige Erblindung zum Zweck (Jes. 6, 9).
V. 40 u. 41. Und solches hörten etliche der Pharisäer. Sie merkten alsbald, dass diese Worte sie treffen sollten. Und doch scheinen sie nicht zu der schlimmsten Sorte gehört zu haben. Die offen erklärten Feinde Christi werden ihn in ihrem Abscheu völlig gemieden haben. Sie dagegen brachten es über sich, Christo zuzuhören. Einen Nutzen hatten sie freilich nicht davon. Erst der eignet sich zum Jünger Christi, der das eigene Ich ganz abgelegt hat. Davon waren jene Pharisäer weit entfernt. Ihre Frage ist eine entrüstete. Sie meinten: uns geschieht Unrecht, wenn man uns mit Blinden in eine Reihe stellt! Gleichzeitig klingt aus ihrer Frage die Geringschätzung der Gnade Christi hervor, mit Spott gepaart, als wollten sie sagen: Glänzen willst du? Aber du bringst es nicht fertig, ohne uns zu schmähen! Sollen wir es ruhig mit ansehen, dass du auf dem Grabe unserer Ehre deine Ehre aufbauen willst? Und wenn du denen, die du als Blinde bezeichnest, das Augenlicht schenken willst, so packe dich nur mit samt deiner überflüssigen Wohltäterei! Um den Preis, dass du dich rühmst, wir seien bis dahin blind gewesen, mögen wir nicht von dir uns die Augen öffnen lassen! –
Wir sehen aus diesem Gebaren, wie hochmütig und gifterfüllt die Heuchelei stets ist. Wie hochmütig sind sie doch, dass sie, als Christus auf ihre Wunde den Finger legt, das als eine schwere Beleidigung aufnehmen und gegen ihn aufbegehren. Auf dem Wörtchen „auch“ liegt ein besonderer Nachdruck. Sie geben gern zu, dass alle anderen blind sind, wollen jedoch um keinen Preis mit dem allgemeinen Maße gemessen werden. O, wie verbreitet ist diese Sünde bei allen, die sich über die anderen erhaben dünken! Sie sind dermaßen hingenommen von der Verachtung gegen andere, dass sie fast vergessen, dass auch sie selbst nur Menschen sind.
Wäret ihr blind. Eine doppelte Deutung dieser Worte ist möglich. Entweder will Jesus ihnen zu verstehen geben: Unwissenheit würde eure Verschuldung sehr mildern; ihr wäret auch dann nicht klar über die Tragweite eures Tuns, ließet euch also nicht absichtlich in einen Kampf mit der Wahrheit ein.
Oder aber er meint: Wie leicht wäre dem Leiden, das euch anhaftet, der Unwissenheit, beizukommen; wolltet ihr es nur fühlen, wie bald solltet ihr es los sein! Für die erste Auslegung spricht die Stelle (15, 22): „Wenn ich nicht kommen wäre und hätte es ihnen gesagt, so hätten sie keine Sünde“ usw.
Aber hier folgen gleich die Worte (V. 41): Ihr sprecht: Wir sind sehend. Die scharfen Gegensätze, in denen sich die Rede bewegt, sprechen doch mehr für die zweite Auslegung. „Blind“ heißt hier der, welche in schmerzlicher Erkenntnis seiner Blindheit gern gesund werden möchte. So ist denn der Sinn unserer Stelle: Wenn ihr merktet, wo es euch fehlt, wäre euer Übel durchaus nicht unheilbar; jetzt aber, wo ihr euch für gesund haltet, bleibt ihr in einer verzweifelten Lage. Wenn Jesus sagt, diejenigen, welche blind seien, hätten keine Sünde, will er die Unwissenheit nicht etwa als unverschuldet und also ganz schuldlos hinstellen, er will nur sagen: für diese Krankheit gibt es, sobald sie nur als solche richtig empfunden wird, ein Heilmittel.