Calvin, Jean – Das Evangelium des Johannes - Kapitel 2.

V. 1 u. 2. Es ward eine Hochzeit zu Kana in Galiläa. Da diese Geschichte das erste von Christo verrichtete Wunder enthält, so muss schon dieser eine Umstand unsere Aufmerksamkeit bei ihrer Betrachtung aufs höchste spannen, obwohl, wie wir nachher sehen werden, noch andere Gründe hinzukommen, die der Erzählung einen besonderen Wert verleihen. –

Der Evangelist nennt als Schauplatz das in Galiläa gelegene Kana, - also nicht das in der Nähe von Sarepta, zwischen Tyrus und Sidon liegende, das man im Vergleich mit unserem Kana auch Groß-Kana genannt hat, welches nach den einen auf dem Gebiete des Stammes Sebulon, nach den anderen auf dem des Stammes Asser sich befand. Dies Kana war noch im fünften Jahrhundert nach Christo eine kleine Stadt. Das unsrige lag wahrscheinlich in der Nachbarschaft von Nazareth; denn die Mutter Jesu konnte leicht zur Hochzeit dorthin kommen. Nach 4, 46 f. war es eine Tagereise von Kapernaum entfernt.

Und die Mutter Jesu war da. Vermutlich war es einer aus der Blutsverwandtschaft Christi, der ein Weib heimführte; denn Jesus erscheint hier als eine Art Begleiter seiner Mutter. Wenn die Jünger mit genannt werden, so geht daraus hervor, dass seine Lebensweise äußerst anspruchslos gewesen sein muss, da er mit seinen Jüngern in Gemeinschaft lebte. Aber es könnte seltsam erscheinen, dass ein nicht sehr vermögender Mann, dem es zur Bewirtung der Gäste hinterher an Wein gebrach, Christo zu Gefallen noch vier oder fünf andere einlud. Doch laden arme Leute leichter und unbedenklicher Gäste ein, da sie ja die Schande nicht zu fürchten haben, wie die Reichen, wenn sie ihre Gäste weniger köstlich und herrlich bewirten. Die alte Sitte, dass einer beim anderen mitisst und umgekehrt, wird mehr bei den Armen beibehalten. Doch scheint der Umstand recht wenig gute Sitte bei dem Bräutigam zu verraten, dass er es dahin kommen lässt, dass mitten im Fest kein Wein mehr vorhanden ist. Es zeugt von wenig Überlegung seinerseits, dass er nicht für den nötigen Weinvorrat gesorgt hat. Meine Meinung ist: es wird hier ein Vorgang berichtet, der in solchen Gegenden, wo man täglichen Weingenuss nicht kennt, häufig vorkommen mag. Ferner geht aus dem Zusammenhang hervor, dass doch erst gegen Ende des Gastmahls der Weinmangel eintrat, wo man der Sitte gemäß hätte satt sein können. Der Speisemeister sagt ja: Andere Leute setzen Trunkenen einen geringeren Wein vor; du aber hast deinen besten bisher behalten. Übrigens ist unzweifelhaft der ganze Vorfall durch die göttliche Vorsehung so gelenkt worden, damit das Wunder stattfinden könnte.

V. 3. Spricht die Mutter Jesu. Man kann Zweifel daran hegen, ob Maria überhaupt mit ihren Worten eine Erwartung oder ein Begehren ausdrückt, da Jesus ja ein Wunder noch gar nicht verrichtet hatte. Es ist möglich, dass sie eine derartige Hilfe zwar nicht erwartete, aber ihn mahnen wollte, irgendwie mit freundlichem Wort die Verdrießlichkeit der Hochzeitsgäste zu verscheuchen und zugleich dem Bräutigam aus seiner Verlegenheit und Scham herauszuhelfen. Das ängstliche Mitgefühl redete aus ihr. Sie sah, dass das Fest eine arge Störung erleiden werde. Die Anwesenden wären voll Erbitterung gegen den Bräutigam geschieden, im Glauben, dass er ihnen nicht genug Ehre widerfahren lasse. Da suchte die fromme Frau Trost bei ihrem Sohne. Aber weshalb stößt er sie so rau zurück? Sie hat nicht aus Ehrgeiz gehandelt, - dass sie sich hätte beliebt machen wollen, wie ein Ausleger grundlos vermutete, - überhaupt nicht aus unreinen Beweggründen; aber sie hat in dem einen Punkte gefehlt, dass sie über die ihr gezogenen Grenzen hinausgegangen ist. Dass sie sich über den Schaden beunruhigte, der, wie sie fürchtete, anderen erwachsen würde, und ihn auf alle Weise zu verhüten wünschte, war schön von ihr und muss ihr von uns hoch angerechnet werden. Aber es war Gefahr vorhanden, dass sie sich vordrängte und dadurch Christi Herrlichkeit in Schatten stellte. Doch ist hervorzuheben: Christi Entgegnung war in erster Linie nicht für Maria, sondern für die anderen berechnet. Maria war eine so bescheidene, aufrichtig fromme Seele, dass sie eine so strenge Zurechtweisung nicht nötig gehabt hätte. Sie hat einen Fehler begangen, aber ohne Wissen und Willen. Wenn nachher Christus sein Wunder tat, dann hätte man das Wort seiner Mutter so ausdeuten können, als habe der Sohn auf ihren Befehl gehandelt. Diesem verhängnisvollen Missverständnis musste mit Schärfe begegnet werden.

V. 4. Weib, was habe ich mit dir zu schaffen? Das ist eine freiere Übersetzung der griechischen Worte, die buchstäblich lauten: Was mir und dir? Man darf sich nicht zu dem Irrtum verführen lassen, als sollte das heißen, wie man häufig gemeint hat: Was liegt mir und dir daran, dass sie keinen Wein mehr haben? Was mir und dir? ist eine gebräuchliche Redensart, die den in der Übersetzung ausgesprochenen Sinn hat. Dass es Jesu so wenig gleichgültig ist, wie der Maria, dass sich die Gastgeber in Verlegenheit befinden, sagt er selbst mit den Worten: Meine Stunde ist noch nicht gekommen.

Zweierlei ist festzuhalten: Jesus plant schon, was geschehen soll, und will doch in dieser Sache nichts auf den Antrieb der Mutter hin unternehmen. Eine äußerst wichtige Stelle! Warum verwehrt er seiner Mutter, was er später so oft anderen ganz freundlich erlaubt hat? Ferner: weshalb begnügt er sich nicht mit einer einfachen Abweisung? Weshalb stellt er die Maria mit anderen Frauen ganz in eine Linie, da er sie nicht einmal „Mutter“ anredet? Christus will hiermit ein für allemal erklärt haben, dass es Unrecht ist, deswegen, weil sie seine Mutter ist, ihr eine abergläubische Verehrung zuzuwenden, und was allein Gott zukommt, auf sie zu übertragen. Hätte man sich hieraus zu allen Zeiten die so nötige Lehre genommen, wie es ja leider nicht der Fall ist, so wäre die Mutter unseres Herrn niemals genannt worden: Himmelskönigin, Hoffnung, Leben, Heil der Welt. Durch diese Namen raubt man Christo seine Ehre und überträgt sie auf Maria. Wir wollen wahrlich von der Ehre, welche ihr gebührt, nicht das Mindeste abbrechen. Aber es wird ihr nichts vorenthalten, wenn man sie nicht zur Göttin macht. Im Gegenteil, man tut ihr Unrecht, wenn man ihre heilige Gestalt mit erlogenen Lobsprüchen verunziert und Gott nimmt, was Gottes ist.

Meine Stunde ist noch nicht kommen. Damit deutet er an, dass er seine Zeit bisher nicht gedankenlos und gleichgültig verbracht hat. Er wird Sorge tragen, sobald die rechte Stunde geschlagen hat. Während er der Mutter zu verstehen gibt, dass sie unzeitig eile, erweckt er zugleich die Hoffnung auf eine Wundertat. Sie hat verstanden, was er ihr sagen will, und drängt ihn nicht noch einmal. Indem sie die Diener anweist, seinen Befehlen Folge zu leisten, zeigt sie, dass sie von froher Hoffnung beseelt ist. Wir entnehmen aus dieser Geschichte, dass der Herr, wenn er auch uns manchmal warten lässt und mit seiner Hilfe säumt, deswegen nicht ohne Herz für uns ist, sondern vielmehr sein Tun danach einrichtet, dass er erst dann handelt, wenn die rechte Stunde da ist. Wenn man aus unserer Stelle hat beweisen wollen, dass ein unerbittliches Schicksal Zeit und Stunde fest geordnet hat, so ist das lächerlich und keiner Widerlegung wert. Die Stunde Christi, von der bisweilen die Rede ist, ist die, welche ihm der Vater bestimmt hat. In diesem Sinne sagt Jesus später einmal (Joh. 7, 6): „meine Zeit ist noch nicht“, d. h. die Zeit, in welcher es sich schicken wollte, die Aufträge seines himmlischen Vaters auszuführen. An unserer Stelle nimmt er die Entscheidung darüber, welche Stunde er zum Handeln wählen soll, ausdrücklich für sich in Anspruch.

V. 5. Seine Mutter spricht zu den Dienern. Hier gibt Maria ein Beispiel des rechten Gehorsams, den sie dem Sohne schuldete, wo es sich nicht um seine menschlichen Verpflichtungen, sondern um seine göttliche Machtstellung handelte. Bescheiden gibt sie sich zufrieden mit seiner Antwort und ermahnt die anderen, dass auch sie geradeso seinem Gebote gehorchen. Sie redet ersichtlich genau dem entsprechend, was vorangegangen ist, als ob sie den Ton darauf legen wollte: Es steht mir in dieser Hinsicht keinerlei Anrecht zu; Jesus wird unabhängig von mir nach eigenster Entscheidung tun, was ihm gefällt. Am Beispiel der Maria lernen wir, dass wir bei Bitten, die wir an Christus richten, auf keinem anderen Wege Erhörung finden werden, als wenn wir ganz und gar uns von ihm abhängig machen, auf ihn schauen und in allen Stücken tun, was er uns heißt. Er schickt uns nicht zu seiner Mutter hin, sondern lädt uns nur zu sich selber ein.

V. 6. Es waren aber allda Wasserkrüge. Man weiß ungefähr, wie viel ein solcher großer Wasserkrug fasste, wenn nach jüdischem Hohlmaß in jeden zwei oder drei Maß gegangen sind: zwischen achtzig und neunzig Liter. Christus hat demnach ein stattliches Geschenk zur Hochzeit dargereicht: etwa fünfhundert Liter Wein. Sie allein würden zur frohen Bewirtung einer stattlichen Schar von Gästen ausreichen. Sowohl die Angabe der Zahl der Krüge als das bedeutende Maß des geschenkten Wunderweines trägt zur Bestätigung für die Tatsache bei, dass das Wunder wirklich geschehen ist. Wären es nur zwei oder drei kleinere Gefäße gewesen, so hätten viele Verdacht schöpfen können: man hat sie eingeschmuggelt und vertauscht. Wäre nur in einem Wasserbehälter die Verwandlung von Wasser in Wein vor sich gegangen, so würde ebenfalls das Wunder nicht so deutlich und gut beglaubigt gewesen sein. Der Evangelist erwähnt also mit gutem Grunde sowohl die Zahl als das Gemäß der Krüge. Dass sie freilich so zahlreich und so geräumig waren, hing mit einem Aberglauben zusammen. Die Reinigungsgebräuche stammen zwar aus dem Gesetze Gottes. Aber wie die Welt sich in äußerlichen Dingen ja nie genug tun kann, so waren die Juden mit den einfachen, von Gott vorgeschriebenen Waschungen nicht zufrieden, sondern trieben ihr kindisches Spiel mit so und so vielen Besprengungen. Deshalb: je größer die Krüge, desto größer der Ruhm außerordentlicher Frömmigkeit. Zweierlei ist also an dieser jüdischen Sitte auszusetzen: dass man ohne ausdrückliches Gottesgebot sich eine leere Frömmigkeit ausdachte, um sich damit große Mühe zu machen, und dann, dass man unter dem Vorgeben, man wolle den lebendigen Gott verehren, doch der Hauptsache nach nur die eigene Ehre suchte.

V. 7. Füllet die Wasserkrüge mit Wasser. Dass der Herr das befahl, kam vielleicht den Dienern lächerlich vor. Wasser war ja mehr als genug da. Aber so macht es der Herr gewöhnlich mit uns. Umso herrlicher soll seine Macht aus dem unverhofften Erfolg hervorleuchten. Auch dieser Umstand dient dazu, jede natürliche Erklärung unmöglich zu machen. Die Diener haben das Wasser eingegossen, die Diener schöpfen den Wein. So kann der Verdacht nirgends einen Anhalt finden.

V. 8 bis 10. In der gleichen Absicht, in welcher Christus den Dienern das Wasser zu holen befahl, wünschte er auch, der Speisemeister solle den Geschmack des Weines prüfen, ehe er selbst oder sonst jemand von den Hochzeitsgästen kostete. Ohne jede Widerrede gehorchen die Diener ihm bei all seinen Anordnungen. Wir machen daraus die Folgerung, dass er etwas Ehrfurchtgebietendes, Würdevolles hatte. Speisemeister nennt der Evangelist den Mann, der das Gastmahl einzurichten und die Festtafel zu besorgen hatte, - nicht als wäre es ein besonders köstliches und glänzendes Mahl gewesen; aber solche Ehrentitel, die aus den Häusern der Reichen mit ihrem Prunk und ihren Schmausereien herrühren, werden dann auch übertragenerweise bei den Hochzeiten der Armen angewendet. Dass Christus, der Meister in Einfachheit und Sparsamkeit, weine so große Menge Wein, und noch dazu vom edelsten, zum Geschenk macht, kann uns freilich verwunderlich erscheinen. Meine Antwort ist: und wenn Gott jeden Tag uns eine reiche Weinernte machen ließe, so wäre es nicht seine, sondern lediglich unsere Schuld, wenn wir durch seine Freigebigkeit uns zu üppiger Schwelgerei hinreißen ließen. Das ist vielmehr die rechte Probe darauf, ob wir die Herrschaft über uns selber haben, wenn wir mitten im Überfluss zurückhaltend und mäßig bleiben. Wie ja Paulus sich rühmt (Phil. 4, 12), er habe beides gelernt, satt sein und hungern.

V. 11. Das ist das erste Zeichen, das Jesus tat. Wenn Engel den Hirten seine Geburt in Bethlehem ankündigten, wenn den Weisen der Stern erschien, und der heilige Geist in Gestalt einer Taube auf ihn herabfuhr, so waren das allerdings auch schon Wunder, aber er hatte sie nicht selbst verrichtet. Hier handelt es sich um die Wunder, deren Urheber er selber war. Ein sonderbarer Einfall, der nicht ernst genommen werden kann, ist es, wenn einige der Meinung sind, dies sei Numero Eins unter den Wundern, die Christus in Kana in Galiläa getan habe. Als hätte er sich diesen Ort, an dem er unseres Wissens nur zweimal gewesen ist, so recht zur Betätigung seiner Wundermacht ausgesucht! Der Evangelist will mit seiner Bemerkung nur auf die zeitliche Reihenfolge, welche Christus mit seinen Wundertaten inne gehalten hat, aufmerksam machen. Er hat sich bis zu seinem dreißigsten Jahre, sich von anderen nicht sonderlich unterscheidend, in seiner Heimat aufgehalten, ohne etwas Auffallendes zu tun. Durch die Taufe zur Übernahme seines Amtes eingeweiht, ist er dann erst ins Licht der Öffentlichkeit getreten und hat begonnen, mit klaren Beweisen kund zu tun, wozu der Vater ihn gesandt hatte. Deshalb ist es nicht zu verwundern, wenn er die erste Probe seiner Gottheit auf diese Zeit verschob. Für den Ehestand ist es eine besondere Ehre, dass Christus nicht nur ein Hochzeitsmahl seiner persönlichen Gegenwart gewürdigt hat, sondern das Fest noch dazu mit seinem allerersten Wunder verherrlichte. In alten kirchlichen Satzungen findet sich das Verbot für Geistliche, Hochzeiten zu besuchen. Die Veranlassung dieses Verbots lag darin, dass sie die vielfachen Ausgelassenheiten, welche dabei vorzukommen pflegen, nicht durch ihre Gegenwart billigen sollten. Es wäre indes weit besser gewesen, sie hätten so viel Ernst dorthin mitgebracht, dass dadurch freche Ausgelassenheit im Zaum gehalten worden wäre, wie sie unverschämte und leichtsinnige Menschen sich in ihren Schlupfwinkeln erlauben. Uns soll vielmehr das Beispiel Christi zum Gesetze dienen. Wir sollen uns nicht einbilden, irgendetwas besser machen zu können, als er es nach den Erzählungen unserer Evangelien gemacht hat.

Und offenbarte seine Herrlichkeit. So heißt es, weil er damals ein der Erinnerung würdiges, herrliches Probestück sehen ließ, an dem man erkennen konnte, dass er der Sohn Gottes ist. Alle die Wunder, welche er der Welt zeigte, waren ebenso viele Zeugnisse seiner göttlichen Macht. Damals war eine günstige Zeit, seine Herrlichkeit zu zeigen, gekommen, als er nach des Vaters Auftrag den Wunsch hatte, bekannt zu werden. Daraus lässt sich auch der Zweck der Wunder ersehen: Christus hat dies Wunder getan, um seine Herrlichkeit zu offenbaren. Was muss man dann aber über solche Wunder urteilen, welche die Herrlichkeit Christi verdunkeln?

Seine Jünger glaubten an ihn. Der Jüngername sagt uns, dass sie schon irgendwie Glauben gehabt haben müssen. Der Glaube jedoch, vermöge dessen sie bisher mit Jesu gingen, war noch unbestimmt und unentwickelt. Damals erst haben sie begonnen, sich ihm zu übergeben als dem Messias, der ihnen bereits gepredigt worden war, und den sie nun klar erkannten. Wie groß ist doch die Nachsicht Christi, dass er schon solche Leute als seine Jünger ansieht, in denen der Glaube noch so winzig ist! Wir alle haben uns aus dieser Stelle eine Lehre zu nehmen. Auch der Glaube, welcher herangereift ist, hat einmal seine Kindheit durchgemacht. Ja, bei keinem ist er zu einem solchen Grade der Vollendung gekommen, dass man nicht noch von jedem Christen ohne Ausnahme Fortschritte im Glauben fordern müsste. Wer schon ein Glaubensleben mit immer kräftigeren Schritten auf das Ziel zu hinter sich hat, hat trotzdem noch neue Glaubensanfänge vor sich. Umso mehr müssen die, welche überhaupt erst Anfänger im Glauben sind, unablässig vorwärts streben. Welchen Erfolg die Wunder haben sollen, ist hier zu ersehen: den schon vorhandenen Glauben sollen sie stärken und mehren. Wer ihren Zweck in etwas anderes setzt, macht sich der Verfälschung schuldig. Dieser Vorwurf trifft die römische Kirche, welche mit ihren Lügenwundern nur in der Absicht prahlt, die Herzen von Christo ab und auf das Geschöpf hinzuwenden.

V. 12. Danach zog er hinab gen Kapernaum. Der Evangelist geht zu einer neuen Geschichte über. Er hatte sich vorgenommen, einiges Denkwürdige, was die anderen drei übergangen hatten, zusammenzustellen. Deshalb gibt er so genau die Zeit an, in der das, was er erzählen will, sich zugetragen hat. Auch die ersten Evangelisten berichten von einer Tempelreinigung. Ihre Zeitbestimmung jedoch belehrt uns, dass wir es bei ihnen mit einem ähnlichen, nicht aber mit eben demselben Ereignis zu tun haben. Zweimal hat Christus den Tempel von dem unwürdigen Treiben der Krämer befreit; das erste Mal zu Beginn seines Auftretens, das zweite Mal, ehe er die Welt verließ und zum Vater ging. Um nun der Sache auf den Grund zu gehen, müssen wir das einzelne der Reihenfolge nach durchdenken. Wenn Ochsen, Schafe und Tauben im Tempel zum Verkauf standen, wenn Geldwechsler dort ihre Plätze hatten, so fehlte es dafür nicht an einem Vorwande mit gutem Schein. Die Händler konnte sich in die Brust werfen und sagen: unser Geschäft hier im Tempel ist nicht im Mindesten ein unwürdiges; wir betreiben es ja nur mit Rücksicht auf den heiligen Dienst Gottes, damit jeder zur Hand habe, was er dem Herrn darbringen kann. Es war auch zweifellos frommen Leuten recht bequem, jede Art von Opfergaben ohne weiteres vorzufinden und auf diese Weise der Mühe enthoben zu sein, in der Stadt bei verschiedenen Geschäften herumzulaufen. So nimmt es uns Wunder, dass Christus in so hohem Grade sein Missfallen daran gehabt hat. Indes sind zwei Gründe dafür namhaft zu machen. Die Priester haben diesen Handel zu habgieriger Bereicherung missbraucht; deshalb war eine solche Verhöhnung Gottes nicht zu dulden. Ferner, was die Menschen auch immer zu ihrer Entschuldigung vorbringen mögen, sobald sie nur etwas von Gottes Gebot abweichen, haben sie Tadel verdient und müssen auf andere Wege geleitet werden. Aus diesem Grunde vornehmlich ist Christus zur Reinigung des Tempels geschritten: er wollte die unmissverständliche Erklärung abgeben: Gottes Tempel ist kein Handelsplatz.

Indes bleibt noch die Frage zu beantworten: Weshalb hat er denn nicht mit Belehrung den Anfang gemacht? Seine Handlungsweise erscheint als eine aufrührerische und verkehrte; er geht mit tatkräftiger Hand an die Abstellung eingerissener Fehler und hat gar nicht zuvor das Heilmittel der Lehre angewendet. Machen wir uns anschaulich, was ihn dazu antrieb!

Die Zeit war gekommen. Jetzt sollte er das vom Vater ihm übertragene Amt öffentlich übernehmen. So beschloss er denn, gewissermaßen vom Tempel Besitz zu ergreifen. Er bezeugte durch diese Tat, dass er mit göttlichem Ansehen, göttlicher Machtvollkommenheit ausgerüstet war. Um die gespannte Aufmerksamkeit aller auf sich zu lenken, tat es not, die Herzen aus ihrer Stumpfheit und ihrem Schlafe aufzuwecken durch etwas ganz Neues, Unerhörtes. Der Tempel war die heilige Wohnstätte himmlischer Lehre und wahrer Frömmigkeit. Da Jesus nun die Reinheit der Lehre wiederzustellen beabsichtigte, war es der Mühe wert, sich als den Herrn des Tempels zu beweisen. Nehmen wir hinzu, dass es nur durch Beseitigung der Missbräuche möglich war, die Opfer und andere fromme Bräuche ihrem ursprünglichen Zwecke zurückzugeben. Was er damals tat, war das Vorspiel der durchgreifenden Verbesserung der Gottesverehrung, die der Vater von ihm durchgeführt haben wollte. Kurz gesagt, die Juden sollten an dieser einen Tat Christi zum Aufmerken kommen, sodass sie von ihm etwas von der bisherigen Gewohnheit Abweichendes, Überraschendes erwarten mussten; zugleich sollte ihnen vor die Augen gestellt werden, dass ihr Gottesdienst voll von Fehlern und Verkehrtheiten war, damit sie sich nicht gegen seine bessernde Hand sträubten.

Seine Brüder. Es ist ungewiss, weshalb sich die „Brüder“ Christo als Begleiter angeschlossen haben. Sie werden zufällig zur gleichen Zeit die Reise nach Jerusalem geplant haben. Übrigens werden im Hebräischen bekanntlich auch irgendwelche Blutsverwandte als Brüder bezeichnet.

V. 13 bis 15. Der Juden Ostern war nahe, und Jesus zog hinauf. Das Wörtchen „und“ hat hier die Bedeutung von „deshalb“. Weil Ostern nahe war, und er dies Fest in Jerusalem feiern wollte, zog Jesus dorthin. Der Zweck, den er dabei im Auge hatte, war ein doppelter. Der Sohn Gottes ward um unsertwillen unter das Gesetz getan und wollte dadurch, dass er alle Gebote des Gesetzes genau befolgte, in eigener Person das Muster eines vollkommenen Gehorsams abgeben. Ferner hat er eine derartige Gelegenheit immer benutzt, da er, je mehr Volk da war, umso mehr Nutzen stiften konnte. So oft also im Verlauf des Evangeliums uns berichtet wird, dass Christus in festlicher Zeit nach Jerusalem hinaufging, mögen die Leser beachten, dass er das tat, einmal, um mit den anderen zusammen die von Gott angeordneten Übungen der Frömmigkeit im Tempel auszuführen, sowie zweitens, um bei reichlicherem Zusammenströmen der Volksmenge seine Lehre zu verkünden.

V. 16. Machet nicht meines Vaters Haus zum Kaufhause. Als Jesus die Krämer zum zweiten Male verjagte, hat er, wie die Evangelisten erwähnen, strenger und schärfer geredet: er sprach dabei von einer Mördergrube oder Räuberhöhle (Mt. 21, 13). So muss verfahren werden, wenn eine gelindere Züchtigung nichts ausgerichtet hat. Hier bezieht sich die Ermahnung einfach darauf, dass man den Tempel Gottes nicht zu etwas gebrauchen soll, wozu er nicht da ist. Den Tempel nannte man das Haus Gottes, weil Gott dort vorzüglich angerufen werden wollte, weil er dort seine Macht offenbarte, endlich, weil er ihn für die heiligen Gebräuche des Gottesdienstes bestimmt hatte. Wenn nun Jesus sich in diesem Zusammenhange deutlich als den Sohn Gottes bezeichnet, so schreibt er sich damit die rechtliche Vollmacht zur Reinigung des Tempels zu. Christus legt also hier über seine Handlungsweise Rechenschaft ab. Wenn wir den vollen Gewinn von unserer Geschichte haben wollen, dann müssen wir auf diesen Ausspruch das Hauptgewicht legen.

Weshalb vertreibt Jesus die Käufer und Verkäufer aus dem Tempel? Um den durch menschliche Sündhaftigkeit verfälschten Gottesdienst in seiner Reinheit wieder herzustellen und um auf diese Weise die Heiligkeit des Tempels zu erneuern und zu schützen.

Wir wissen, dass jener Tempel gebaut worden war als schattenhaftes Nachbild dessen, was als lebendiges Urbild in Christo vorhanden ist. Deshalb durfte er, wenn er gottgeheiligt bleiben sollte, ausschließlich zu geistlichem Gebrauche verwendet werden. Das ist der Grund, weswegen Christus es verwehrt, dass er in einen Handelsplatz umgewandelt wird. Er geht aus von der göttlichen Vorschrift, die wir jederzeit beachten müssen. Was uns auch Satan vorgaukeln mag, einerlei, ob es viel oder nur ein klein wenig von Gottes Gebot abweicht, wir müssen wissen, es darf nicht sein. Mit unseren gottesdienstlichen Gebäuden hat es nicht mehr genau die gleiche Bewandtnis; doch lässt sich, was von dem Tempel des alten Bundes gesagt wird, mit Fug und Recht auf die christliche Kirche übertragen. Sie ist das himmlische Heiligtum Gottes auf Erden. Deshalb muss uns die Hoheit Gottes immer vor Augen stehen, die in der Kirche wohnt, damit sie durch keinerlei Befleckung entweiht werde. Aber erst dann wird ihre Heiligkeit in voller Reinheit dastehen, wenn nichts in ihr Eingang gefunden hat, was dem Worte Gottes zuwiderläuft.

V. 17. Seine Jünger aber gedachten usw. Einige Ausleger machen sich viel unnötige Mühe mit der Frage: Wie sind wohl die Jünger auf diese Stelle der Schrift gekommen, in der sie doch damals noch keinen Bescheid wussten? Aber man braucht unseres Satz gar nicht so zu verstehen, als wäre ihnen gerade damals dieser Spruch ins Gedächtnis gekommen; das geschah vielleicht erst hinterher, als sie, von Gott belehrt, darüber nachdachten, was für eine Bedeutung diese Tat Christi habe, und der heilige Geist sie gerade auf diesen Spruch hinwies. Bei dem, was Gott tut, leuchtet uns nicht immer alsbald auch die Ursache ein. Oftmals enthüllt er uns erst später seinen Rat. Und das ist der trefflichste Zügel für unseren Eigenwillen, damit wir nicht murren, wenn wir sein Tun nicht recht verstehen. Wenn uns Gott so in der Ungewissheit lässt, soll uns das ein Fingerzeig dafür sein, dass wir die Zeit eines vollkommeneren Verständnisses seiner Wege in Geduld abzuwarten haben und die uns angeborene Hast und Ungeduld bezähmen müssen. Die volle Belehrung über das, was er tut, schiebt Gott auf, damit wir lernen, uns zu bescheiden. Der Sinn unserer Stelle ist der: die Jünger sind früher oder später einmal zu der Einsicht gelangt, dass Christus sich damals von brennendem Eifer um das Haus Gottes hat antreiben lassen, das zu beseitigen, wodurch der Tempel geschändet wurde. In dem angeführten Psalmworte will David gewiss zusammenfassend den gesamten Gottesdienst mit dem Namen des Tempels bezeichnen. Die Stelle lautet nämlich vollständig (Ps. 69, 10): „Denn der Eifer um dein Haus hat mich gefressen; und die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen“.

Das zweite Glied des Verses entspricht dem ersten, ja, es ist zugleich eine Wiederholung und Auslegung dazu. Der Inhalt der beiden Versteile lässt sich so zusammenfassen: David hat sich dermaßen beunruhigt und abgesorgt um die Verteidigung der Ehre Gottes, dass er das eigene Haupt mit Freuden allen Schmähungen, welche verworfene Menschen gegen Gott schleuderten, hinhielt; der Eifer, von welchem er dabei glühte, war so groß, dass dagegen jede andere Empfindung völlig verschwand. Der Psalmist bezeugt, dass es dem David selbst so zu Mute gewesen ist; aber ohne Zweifel hat er in seiner Person ein Bild gezeichnet, dessen Züge bei dem Messias wiederkehren. Deshalb sagt der Evangelist, dies sei eines von den Merkmalen gewesen, an denen Jesus von seinen Jüngern als der Verteidiger und Wiederhersteller des Gottesreiches erkannt wurde. Beachtenswert ist übrigens, dass sie sich bei ihren Gedanken über Christum von der Schrift haben leiten lassen. Und sicherlich wird kein Mensch je erfassen, wer eigentlich Christus ist, oder worauf sein Tun und Leiden zielt, der nicht voll gläubigen Vertrauens die Schrift zur Führerin und Lehrmeisterin erwählt. Wer von uns also Christum immer besser kennen lernen möchte, muss emsig und ohne Unterlass die Schrift betrachten. Das Haus Gottes erwähnt David mit Bedacht, wo es sich um die Ehre Gottes handelt. Gott will, obschon er sich selbst genug ist, dennoch, dass in der Gemeinde seine Ehre verherrlicht werde. Er gibt uns einen einzigartigen Beweis seiner Liebe dadurch, dass er in unauflöslichem Verbande seine Ehre und unser Heil vereinigt. Nun gilt es, dass die Christen sich wetteifernd bemühen, Christo nachzuahmen, da ja aus dem Beispiele dessen, der das Haupt ist, für jedes der Glieder eine Lehre hervorgeht (Röm. 15, 2f.).

Dulden wir nicht, so viel an uns ist, dass der heilige Tempel Gottes irgendwie befleckt wird! Indes hat ein jeder sich zu hüten, dass er die Grenze seines Berufes nicht überschreitet. Heiliger Eifer muss uns alle, wie einst den Sohn Gottes, beseelen; aber es ist nicht ohne weiteres uns allen erlaubt, die Geißel zu schwingen und mit unserer Hand eingerissene Fehler abzustellen. Es ist uns weder die gleiche Vollmacht verliehen, noch auch das gleiche Amt übertragen.

V. 18. Was zeigst du uns für ein Zeichen? Wenn in einer so zahlreichen Menschenmenge niemand Hand an Christum legte, keiner von den Viehhändlern und Geldwechslern ihn mit Anwendung von Gewalt vertrieb, so kann man daraus schließen: sie waren sämtlich von einem gottgewirkten Schrecken dermaßen erfasst, dass sie, wie vom Donner gerührt, nur zu staunen vermochten. Und wären sie nicht so verblendet gewesen, sie hätten sich mit diesem hervorragenden Wunder begnügt, dass ein einzelner gegen viele, ein Waffenloser gegen kräftige Männer, ein Unbekannter gegen so angesehene Leute ein derartiges Wagstück unternahm. Weshalb leisteten sie ihm denn keinen Widerstand, da sie doch weit überlegen waren? Offenbar waren ihnen die Hände wie gelähmt und zerbrochen. Indes ist einiger Grund für ihre Frage vorhanden. Ist es doch keineswegs jedermanns Aufgabe, wenn sich im Tempel Gottes ein Fehler eingeschlichen hat, oder wenn ihm dort etwas missfällt, das alsbald zu ändern. Allen steht es frei, das Schlechte zu verdammen; aber einem Menschen ohne besonderes Amt wird, wenn er die Hand anlegt, um das Schlechte zu beseitigen, der Vorwurf allzu kühner Eigenmächtigkeit nicht erspart bleiben. Es war feste Sitte geworden, dass im Tempel verkauft wurde; so hat denn Christus etwas sehr Auffallendes unternommen, und wir können es wohl verstehen, wenn man verlangt, dass er sich als Gottgesandten ausweise. Galt doch der Grundsatz, dass nur der im öffentlichen Leben des Volkes Gottes eine Änderung treffen darf, der dazu Beruf und Auftrag von Gott hat. Ganz richtig! aber der Fehler liegt darin, dass man die Berufung Christi nicht eher gelten lassen wollte, als bis er eine Wundertat vollbracht hätte. Weder haben die Propheten und sonstigen Diener Gottes immerfort Wunder getan, noch hat Gott selbst sich zu etwas derartigem verpflichtet. Wenn die Juden also ein Zeichen begehren, machen sie willkürlich Gott Vorschriften.

Der Evangelist sagt, die Juden hätten diese Frage gestellt. Darunter versteht er jedenfalls die umstehende Volksmenge, sozusagen die gesamte Körperschaft der jüdischen Gemeinde. Er will sagen: das war nicht etwa nur die Rede des einen oder anderen, sondern die des ganzen Volkes.

V. 19. Brechet diesen Tempel. Diesen Worten liegt ein tieferer Sinn zugrunde. Absichtlich hat Christus so dunkel geredet, weil er die Juden einer offenen Antwort für unwürdig hielt. Er spricht ja auch gelegentlich den Grundsatz aus (Mt. 13, 13), dass er in Gleichnissen rede zu denen, die die Geheimnisse des Himmelreiches nicht zu fassen vermögen. Die Zeichenforderung schlägt er ihnen rundweg ab, - sei es, weil ein Zeichen doch nichts geholfen hätte, sei es, weil er wusste, dass der Zeitpunkt ungeeignet war. In anderen Fällen hat er zudringlichen Bitten auch wohl kleine Zugeständnisse gemacht. Es muss also hier ein gewichtiger Grund zur Ablehnung vorgelegen haben. Andeutungsweise redet er indes davon, dass seine Vollmacht einmal durch ein nicht alltägliches Zeichen werde bestätigt und beglaubigt werden; der Vorwand, die Juden seien durch den abschlägigen Bescheid, den sie empfangen haben, entschuldigt, wird ihnen dadurch genommen. Man hätte sich in der Tat keine größere Bestätigung der göttlichen Vollmacht Christi wünschen können, als seine Auferstehung von den Toten. In einem Bilde nur spricht er von ihr; er würdigt die Juden nicht einer klaren Verheißung. Alles in allem: Jesus behandelt die Ungläubigen, wie sie es verdienen, und zugleich verwahrt er sich gegen jegliche Verachtung. Doch kann man fragen: Was ist der Grund, dass er, der so viele und mancherlei Wunder getan hat, hier nur das eine berührt? Die Antwort ist: er hat von den anderen Wundern nichts gesagt, weil die Auferstehung allein genügte, die Gegner zum Schweigen zu bringen, und weiter, weil er die wunderwirkende Kraft Gottes ihrem Gespötte nicht preisgeben wollte. Aus diesem Grunde hat er auch von seiner glorreichen Auferstehung nur in verhüllter Rede gesprochen. Die Antwort, die Christus gab, passte vorzüglich zu der gegebenen Lage. Obschon nun der Ausdruck „Tempel“ den Umständen angepasst erscheint, so ist er doch eine vollkommen zutreffende Bezeichnung des Leibes Christi. 2. Kor. 5, 4 heißt der Leib eines jeden von uns eine Hütte, weil die Seele darin wohnt; der Leib Christi aber war die Wohnstätte seiner Gottheit. Der Sohn Gottes hat ja unsere Natur so angenommen, dass in seinem Fleische, als in einem Heiligtume die ewige Majestät Gottes wohnte. Wenn also auch unsere Leiber Tempel Gottes genannt werden (1. Kor. 6, 19), so geschieht dies doch in anderem Sinne: Gott wohnt in uns durch die Gnadenwirkung seines Geistes, in Christo aber wohnt die Fülle der Gottheit leibhaftig, sodass er in Wahrheit ist „Gott, geoffenbart im Fleisch“.

Ich will ihn aufrichten. Hier spricht sich Christus selber seine Auferweckung zu, während doch die Schrift an verschiedenen Stellen sie ein Werk Gottes des Vaters nennt. Ein Widerspruch liegt trotz des Anscheins jedoch nicht vor. Um die Macht Gottes zu betonen, schreibt die heilige Schrift das Werk der Auferweckung des Sohnes vom Tode dem Vater zu; hier aber predigt Christus seine Gottheit. Auch Paulus vereinigt beides, wenn er (Röm. 8, 11 vgl. 9) den Geist, den er als den Urheber der Auferweckung bezeichnet, abwechselnd „Geist Christi“ und „Geist des Vaters“ nennt.

V. 20 u. 21. In sechsundvierzig Jahren. Hiermit stimmt die Berechnung bei Daniel (9, 25) überein. Er zählt nämlich sieben Wochen, die einen Zeitraum von neunundvierzig Jahren bedeuten. Ehe die letzte Woche ganz beendet ist, soll der Tempel zerstört sein. Wenn bei Esra ein weit kürzerer Zeitraum angegeben wird, so streitet das durchaus nicht mit den Worten des Propheten, ungeachtet des gegenteiligen Anscheines. Als das Heiligtum eben errichtet war, ehe noch die anderen zum Tempel gehörigen Räumlichkeiten sämtlich vollendet waren, begann man schon Opfer darzubringen; nachher wurde der Ausbau infolge der Trägheit des Volkes lange hinausgeschoben, - wie aus den Klagen Haggais (1, 4) deutlich hervorgeht. Derselbe erhebt ernste Anklagen gegen die Juden, dass sie übermäßigen Eifer anwenden bei dem Bau ihrer eigenen Häuser und dagegen den Tempel Gottes als eine Ruine unvollendet stehen lassen. Aber was hat es denn für einen Sinn, dass die Juden jetzt von jenem alten Tempel aus Esras und Haggais Zeiten reden? War derselbe doch vor ungefähr vierzig Jahren von Herodes abgerissen worden. Den Tempel, welchen sie zu Jesu Zeiten hatten, - ein Gebäude von der größten Pracht, mit ungeheurem Kostenaufwand hergestellt, - hatte Herodes in der fast unglaublich kurzen Zeit von nur acht Jahren völlig ausgebaut, wie wir aus sicheren Geschichtsquellen wissen. Vermutlich haben die Juden alles, was von dem von Herodes abgebrochenen Tempel in Schrift und Überlieferung gesagt war, einfach auf den neuen Tempel übertragen, als wäre nie ein alter Tempel abgebrochen und ein neuer aufgebaut worden, - die Absicht dabei war dann: es sollte auch die ganze Verehrung, mit der man einst das alte Tempelgebäude umgab, unverkürzt auf den neuen Prachtbau übertragen werden. So entspräche es also dem künstlich gepflegten Volksglauben, wenn die Juden hier von sechsundvierzig Jahren sprechen. So lange haben in der Tat die Väter einst unter den äußersten Schwierigkeiten an dem alten Tempel gebaut. –

Die Antwort der Juden zeigt nun hinlänglich, was sie bei der Zeichenforderung im Sinne hatten. Wären sie bereit gewesen, einem von Gott gesandten Propheten ehrfurchtsvoll zu gehorchen, so hätten sie nicht so hochmütig weit von sich gewiesen, was Jesus von der Bestätigung seines Amtes gesagt hatte. Ein Zeugnis seiner göttlichen Vollmacht wollen sie haben. Aber es darf nicht göttlich groß ausfallen, sondern muss ihrem kleinen Menschenmaßstabe entsprechen. Ähnlich verlangen in unseren Tagen die Gegner der evangelischen Kirche Wunderzeichen zum Ausweise dafür, dass die Reformation den Auftrag zu einer neuen Tempelreinigung von Gott empfangen habe. Sie denken aber nicht daran, der Macht Gottes bei sich Raum zu gestatten. Sie haben nun einmal die vorgefasste Absicht, das, was Menschen sagen, dem vorzuziehen, was Gott sagt: sie wollen nicht ein Haar breit von den im Laufe der Jahrhunderte in der römischen Kirche angenommenen Sitten und Gebräuchen abgehen. Auch sie hängen, um nur einen scheinbaren Grund zu haben und sich nicht offen als Gottes Widersacher bloßzustellen, mit der Zeichenforderung ein schönes Mäntelchen um ihre Halsstarrigkeit.

V. 22. Da er nun auferstanden war usw. Mit dieser Erinnerung, welche den Jüngern aufstieg, verhält es sich ähnlich, wie mit der vorigen (V. 17): auch hier geht das Verständnis erst später auf. Was Christus damals sagte, schien in den Wind gesät, und brachte doch späterhin Frucht. Mag also auch uns immerhin noch so vieles an den Taten und Worten des Herrn zur Zeit dunkel sein, - deswegen brauchen wir die Hoffnung nicht aufzugeben, noch das gering zu achten, was uns nicht alsbald verständlich ist.

V. 23. Diese Mitteilung schließt sich gut an die vorhergehende Geschichte an. Ein Zeichen, wie es die Juden wünschten, hatte Christus nicht gegeben. Danach aber vollbrachte er eine Reihe von Wundern. Und was erreicht er mit ihnen? Nur, dass sie zu einem Glauben ohne Kraft und Wärme kommen. Dieser Erfolg gibt dem Herrn hinlänglich Recht in seiner vorigen Handlungsweise. Sie waren es tatsächlich nicht wert, dass er sich ihrem Ansinnen fügte. Es war zwar eine Art Erfolg seiner Zeichen, wenn viele an Christum glaubten. Ihr Glaube an seinen Namen (d. h. an seine Vollmacht) bestand offenbar darin, dass sie offen erklärten, sie wollten seine Lehre befolgen. Das ist ja schon etwas, wenn auch noch nichts Rechtes. Dieser Beinah-Glaube konnte bei aller ihm anklebenden Ohnmacht doch eines Tages in wirklichen Glauben ausmünden und eine brauchbare Vorbereitung zum Preis des Namens Christi gegenüber anderen sein. Es fehlte jedoch die Aufrichtigkeit des Herzens; und ohne dieselbe ist es unmöglich, in geistlichen Dingen vorwärts zu kommen. Trotzdem war der Glaube dieser Leute nicht Verstellung, darauf gerichtet, Bewunderung bei anderen zu erregen. Sie waren überzeugt: Christus ist ein großer Prophet. Vielleicht zollten sie ihm auch messianische Ehre, - wurde doch der Messias damals allgemein erwartet. Aber weil sie das eigentlich messianische Amt nicht im Auge hatten, sondern die Wunder, so war ihr Glaube ein verkehrter, der an der Welt und am Irdischen hing. Er war ohne Wärme und ohne Tiefe, ein bloßes äußerliches Mitmachen. Solche Menschen geben dem Evangelium ihren Beifall, nicht um Christo als gehorsame Diener anzugehören, auch nicht um in lauterer Frömmigkeit dem Rufe Gottes zu folgen, sondern weil sie die Wahrheit erkennen und nicht den Mut haben, sie stracks zu verwerfen, zumal, wenn gerade kein Anlass vorliegt, sich gegen ihre Annahme zu sträuben. Aus freien Stücken erklären sie Gott allerdings nicht den Krieg; sobald sie dann aber merken, dass seine Lehre ihrem Fleisch und ihren sündlichen Lüsten im Wege steht, geraten sie in Erbitterung oder geben doch wenigstens ihren Glauben auf. Die Leute also, von denen der Evangelist sagt „sie glaubten“, sehe ich nicht als solche an, die sich, ohne Glauben zu haben, anstellten, als ob sie solchen hätten. Sie sind vielmehr gewissermaßen in einer Zwangslage gewesen; sie mussten Christo den Messias-Namen geben. Dass ihr Glaube nicht recht und redlich war, ist daran ersichtlich, dass Christus sie von der Zahl der Seinigen ausschließt. Und wie er urteilt, so ist es recht. Man nehme hinzu, dass jener Glaube sich nur an die Wunder anklammerte und bislang noch keine Wurzel in dem Boden des Evangeliums getrieben hatte. So konnte er unmöglich von Bestand sein. Die Wunder des Gottessohnes sollten jenen Leuten behilflich sein, zum Glauben zu kommen; aber das heißt noch nicht Glauben, wenn sie Gottes Wunderkraft anstaunen und daraus den Schluss ziehen: also glauben wir, dass die Lehre wahr ist. Zum wahren Glauben fehlt dabei noch, dass sie nun auch mit Leib und Seele den Worten Christi untertänig werden. Wenn so gemeinhin von Glauben gesprochen wird, dürfen wir nicht vergessen, dass es einen Glauben gibt, der nur mit dem Verstande ergriffen wird und nachher leicht vergeht, weil er nicht im Herzensgrunde haftet. Das ist der von Jakobus (2, 17. 26) beschriebene tote Glaube; der wahre, lebendige Glaube stammt immer aus dem Geiste, welcher neue Menschen macht.

Merkt: was Gott tut, wirkt nicht bei allen Menschen das Gleiche. Einige kommen durch die Taten Gottes in die Gemeinschaft Gottes hinein. Andere werden dadurch nur von Schrecken erfasst; aber obgleich sie in Bewegung kommen und Gottes Machtwirkung bemerken, bleiben sie doch blind und hören nicht auf, sich von ihres eigenen Herzens Gedanken umtreiben zu lassen.

V. 24 u. 25. Jesus vertraute sich ihnen nicht. Christus zählte sie nicht zu seinen echten Jüngern. Er schätzte sie gering als solche, die er zu leicht erfunden hatte, und denen es am nötigen Ernst gebrach. Eine sehr merkwürdige Stelle. Nicht alle, die sich als Jünger Christi ausgeben, sieht er selbst für solche an. Doch wir müssen das Folgende noch hinzunehmen: denn er kannte sie alle. Die Heuchelei ist so außerordentlich gefährlich, aller anderen Ursachen zu schweigen, schon allein deshalb, weil sie so sehr häufig vorkommt. Fast jeder Mensch hat Gefallen an sich selber. Und weil wir mit leeren Schmeicheleien uns betrügen, meinen wir, Gott sei gerade so blind wie wir selbst. Hier aber werden wir daran erinnert, wie grundverschieden sein Urteil von dem unsrigen ist. Was uns um der Hüllen willen, mit denen es bedeckt ist, entgeht, das durchschaut er; was durch Flitterputz uns die Augen blendet, das beurteilt er nach der verborgenen Quelle, das heißt nach den geheimsten Herzensgedanken.

Das meint Salomo, wenn er (Spr. 21, 2) sagt: „Einen jeglichen dünkt sein Weg recht, aber der Herr wägt die Herzen“. Bedenken wir also wohl, dass das erst wahre Jünger sind, die ihm selber recht sind. Ihm steht allein die Entscheidung darüber zu. Weil also Jesus jene Halbgläubigen durchschaute, vertraut er sich ihnen nicht an. Er wusste, als der Herzenskündiger, wie es in ihrer Gesinnung und in ihrem Herzen aussah und konnte beurteilen, dass sie ihm innerlich fernstanden. Wenn etliche nun die Frage aufwerfen, ob wir denn auch diejenigen, welche noch keine Probe ihrer aufrichtigen Gesinnung abgelegt haben, nach Christi Vorbild vorerst für verdächtig ansehen sollen, so ist unserer Stelle dafür keine Bejahung zu entnehmen. Unsere Lage ist, mit der unseres Herrn verglichen, eine ganz andere. Christus wusste, bildlich geredet, auch, wie die Wurzeln der Bäume liefen; wir vermögen nur an den an den Ästen hängenden Früchten zu erkennen, was an einem jeden Baume ist. Da außerdem die Liebe, wie Paulus (1. Kor. 13, 4) bezeugt, nicht argwöhnisch ist, dürfen wir gegen Menschen, die wir nicht kennen, kein verkehrtes Misstrauen hegen. Damit wir übrigens nicht immerzu von heuchlerischen Menschen betrogen werden, und damit die christliche Kirche ihren gottlosen Betrügereien nicht ganz schutzlos ausgesetzt sei, kann Christus uns die Gabe verleihen, die Geister zu unterscheiden.