V. 1. Rühme usw. Nach der Erörterung über den Tod Christi kommt der Prophet mit gutem Grunde auf die Gemeinde zu sprechen. Wir sollen dadurch den Wert und die Wirkung dieses Todes noch besser verstehen lernen. Das wäre nicht möglich, wenn man Christum nur für sich betrachtete. Seinen Leib, d. h. seine Gemeinde, muss man ins Auge fassen, da ja Christus für sie, nicht für sich gelitten hat. Diese Reihenfolge wird auch in unserem Glaubensbekenntnis beobachtet. Denn mit dem Bekenntnis des Glaubens an Christus, der für uns gelitten hat und gestorben ist, verbinden wir den Glauben an die Gemeinde, die gleichsam aus seinem Leibe entsprossen ist. Somit wendet sich Jesaja nach der Besprechung des Todes, der Auferstehung und des Triumphes Christi mit Recht der Gemeinde zu, die niemals von ihrem Haupte getrennt werden darf, damit jeder Gläubige durch eigene Erfahrung erkenne, dass Christus nicht vergeblich gelitten hat. Ohne diesen Hinweis hätten die Frommen nicht so durch die Hoffnung auf Wiederherstellung der Gemeinde sich stärken können.
Der Glückwunsch in diesem Verse zeigt offenkundig, dass Christus durch seine siegreiche Auferstehung aus dem Tode nicht lediglich für sich siegen, sondern zugleich seinem Leibe das Leben spenden wollte. „Du Unfruchtbare“ wird die Gemeinde angeredet, weil keine Nachkommenschaft von ihr erwartet werden konnte, solange sie in elender Sklaverei schmachtete; denn wenn jemand sie nach der äußeren Lage beurteilt hätte, hätte er ihren Untergang als nahe bevorstehend hingestellt. Und wirklich, sie besaß neben der jammervollen äußeren Lage keine innerliche Reinheit, alles war verdorben, mit Aberglauben besudelt; man war entartet durch Abfall zu den gottlosen Gebräuchen der Heiden. Der Prophet nennt aber die Gemeinde nicht bloß eine Unfruchtbare, sondern auch eine Einsame, d. h. eine Witwe. Es hätte eine von diesen beiden Bezeichnungen genügen können, um die Hoffnung auf Nachkommenschaft zu zerstören. Wenn nun aber diese beiden Umstände zusammentreffen, dann kann vollends nur noch ein elender Untergang erwartet werden. Aber trotz solch trauriger Aussichten wird die Gemeinde geheißen, guten Mutes zu sein, denn sie solle mehr Kinder haben als eine Verheiratete. Damit wird angedeutet, dass diese ganz außergewöhnliche Fruchtbarkeit der Gemeinde nicht auf der gewöhnlichen Naturordnung beruht, sondern dass sie ein herrliches und wunderbares Zukunftswerk Gottes ist. In der Gegenwart glich Gottes Gemeinde jedoch einer Witwe; denn Gott hatte ihr sowohl vormals durch seine Knechte die Ehe aufkündigen lassen, als auch tatsächlich sich von jenem Volke geschieden, als er es in die Verbannung schickte. Aber der Prophet erklärt diese Strafe für eine nur zeitweilige, die wir alsbald noch deutlicher sehen werden.
V. 2. Mache den Raum deiner Hütte weit. Indem der Prophet seine Ausführungen unter anderen Bildern fortsetzt, verheißt er, dass der Herr seine Gemeinde nicht nur wiederherstellen, sondern sie noch viel herrlicher machen werde. Das bezieht sich auf das Reich Christi und hat erst seine Erfüllung gefunden, seitdem das Evangelium sich auszubreiten begann. Daraus folgt aber nicht, dass der Prophet nicht zugleich jene Zeit im Auge gehabt hat, die der Ankunft Christi vorherging. Denn die Erfüllung dieses Weissagungswortes hob unter der Regierung des Cyrus an, der dem Volke die Möglichkeit der Rückkehr gewährte; dann wuchs sie bis zur Zeit Christi, in welchem sie endlich zur vollen Reife kam. Die Empfängnis ward der Gemeinde geschenkt, als das Volk in sein Vaterland zurückkehrte: denn damals wurde jener Volkskörper gesammelt, aus dem Christus hervorgehen sollte, damit der reine Gottesdienst und die wahre Religion wiederum erblühe. Damals freilich war diese Fruchtbarkeit noch nicht sichtbar; die Empfängnis war wie im Mutterschoß verborgen und nach außen nicht sichtbar. Dann aber vermehrte sich das Volk und wuchs heran, gleichsam wie ein Kind nach seiner Geburt, bis dann endlich das Evangelium geoffenbart wurde. Dies war die eigentliche Jugendzeit der Gemeinde. Ihr folgt die Manneszeit, die bis zur Wiederkunft Christi dauert, wo alles völlig erfüllt wird. Dies alles muss man zusammenhalten, wenn man die eigentliche Meinung des Propheten erkennen will. So haben auch Haggai, Sacharja und Maleachi, als sie die geringen Fortschritte beim Tempelbau sahen, das Volk durch die Hoffnung auf die zukünftige Gestaltung belebt. Denn sie verhießen, dass die Herrlichkeit dieses Tempels größer sein werde als die des früheren. Dies war aber noch gar nicht sichtbar. Also dehnten sie jene Verheißungen aus bis auf Christus. Durch die Hoffnung und das Vertrauen auf ihn mussten jene zum Tempelbau ermuntert werden. Somit hatten die Juden, die unter dem Gesetze lebten, diesen Trost gemeinsam mit uns, die wir diese Wiederherstellung der Gemeinde in Christo völliger erkennen. – Die Gemeinde wird mit einer Hütte oder einem Zelt verglichen, wie solche in jener Gegend viel gebraucht wurden. Dieser Vergleich ist sehr passend, weil Gottes Gemeinde auf Erden keine feste Wohnung hat. Unstet und flüchtig scheint sie zu sein, weil sie infolge mannigfacher Wechselfälle so oft bald hierhin bald dorthin sich verpflanzen lassen muss. Dabei hat der Prophet zweifellos jene frühere Erlösung im Auge, als das Volk bei dem Zuge durch die Wüste vierzig Jahre in Zelten wohnte, weswegen ja auch auf Anordnung Gottes jährlich ein Fest gefeiert wurde. Sollte jemand behaupten, dass das Gebäude, das von den Dienern am Wort aufgeführt wird, ein festes sei und nicht mit einem Zelte verglichen werden könne, so antworte ich, dass die Ähnlichkeit mit den Zelten sich mehr auf die äußere Gestalt der Gemeinde als auf ihr geistliches und inneres Wesen bezieht. Denn das wirkliche Gebäude der Gemeinde ist nichts anderes als das Reich Gottes; und dieses ist nicht hinfällig noch einem Zelte ähnlich. Dabei aber hört die Gemeinde nicht auf, bald hierhin bald dorthin verpflanzt zu werden, denn sie hat nirgends einen festen und dauernden Wohnsitz. Und doch übertrifft sie die stärksten Burgen an unerschütterlicher Festigkeit; denn im Vertrauen auf die unüberwindliche Kraft Gottes vermag sie jeder Gefahr zu trotzen. Einem Zelte aber gleicht sie, weil sie in keiner Weise durch irdische Machtmittel gestützt wird.
V. 3. Denn du wirst ausbrechen usw. Damit wird der Grund angegeben, weshalb zur Ausbreitung der Zelte die Stricke verlängert werden sollen. Der gewöhnliche Raum würde ja die große Volksmenge nicht fassen, die Gott von allen Seiten versammeln will. Weil aber Judäa bereits geplündert und verwüstet war, redet der Prophet von verwüsteten Städten, die wieder bewohnt werden sollen.
V. 4. Fürchte dich nicht, denn du sollst nicht zu Schanden werden. Hier sucht der Prophet, wie auch schon vorher, die Gläubigen zu ermuntern und redet die ganze Gemeinde an. Denn allgemein war die Not, und mit ihr selbst schien es ganz aus zu sein. Er heißt sie guten Mutes sein, denn ihr werde ein solches Los zu teil werden, dass sie sich nicht mehr zu schämen brauche. Er will damit sagen: Wenn du auch augenblicklich elend bist, so wird sich doch deine Lage gut gestalten. Auch anderwärts (Ps. 25, 3) wird uns eingeprägt, dass keiner zu Schanden wird, der des Herrn harrt. Der Prophet wiederholt seine Mahnung: Werde nicht blöde, d. h. fasse guten Mut und habe Vertrauen! Blöde sind ja diejenigen, die sich ihrer selbst schämen und die, in ihrer Hoffnung getäuscht, den Mut sinken lassen. In den beiden Versgliedern finden wir die Verheißung einer frohen und glücklichen Zukunft: das Elend soll ein Ende nehmen.
Du wirst der Schande deiner Jungfrauschaft vergessen. Diese Aussage dient zur Bestätigung des soeben Gesagten. Die Schande, die hier vorschwebt, sind die Nöte, welche der Gemeinde zugestoßen sind, als sie heranwuchs. Alle Erinnerungen daran soll das Glück, das sie nachher genießen wird, tilgen. Eine Witwenschaft wird, wie wir schon sagten, der Gemeinde zugeschrieben, weil sie damals von Gott verlassen und gleichsam verschmäht war.
V. 5. Denn der dich gemacht hat, ist dein Mann. Dieser Satz gibt den Grund an, weshalb die Gemeinde alle einst erlittenen Leiden vergessen werde: Gott selbst will sie wiederum in seine Gnade aufnehmen. Denn die Gefangenschaft war gleichsam eine Art Ehescheidung, wie wir früher hörten (50, 1). Nunmehr sagt der Herr: „der dich gemacht hat, wird dein Mann sein.“ So nämlich ist der Satz zu konstruieren. Den Schöpfer seiner Gemeinde nennt sich der Herr, nicht so sehr, weil er sie ebenso wie die übrigen Menschen erschaffen hat, sondern weil er sie würdigte, seine Kinder und sein Eigentum zu werden. Dies Vorrecht ist so viel als ein neues Leben. Wenn auch die Juden ihre Vorzugsstellung verloren hatten, - werden ja doch die Menschen alsbald abtrünnig, wenn sie nicht durch den Geist der Stärke wiedergeboren sind – so war doch ihre geistliche Erwählung nicht völlig vernichtet, weil die Erinnerung an den Bund blieb. Daher kam es, dass Gott sie wieder neuschaffen konnte. Wenn er sich Herr Zebaoth, d. h. Herr der Heerscharen, nennt, so bezieht sich das auf seine Macht; wir dürfen uns ihrer rühmen, weil wir seine Kinder sind. So groß die Macht Gottes ist und so herrlich sein Name, so groß ist auch unser Rühmen, weil wir Gottes Kinder sind, und wir rühmen uns nicht eines inhaltlosen Titels. Der Prophet preist diese Güte Gottes, weil der Herr sich herablässt, uns wie sein Eheweib zu halten, damit wir uns seiner Macht und Größe rühmen könnten.
„Erlöser“ nennt er sich, um sein Volk in dieser Hoffnung desto mehr zu befestigen. Obgleich die frühere Erlösung unwirksam schien, weil ja das Volk wiederum in die Gefangenschaft geführt war, so soll es doch wiederhergestellt werden, damit es die Kraft der göttlichen Gnade erkenne. „Aller Welt Gott“ wird der Herr genannt, weil sein Name bis dahin gleichsam in Judäa eingeschlossen war. Als aber das Evangelium kundgemacht wurde, sind auch die Heiden zu derselben Heilshoffnung berufen. Der Herr ist ja wie der Juden so auch der Heiden Gott. Neben den Juden hat er die Heiden, mögen sie auch noch so ferne wohnen, unter seine Herrschaft gestellt.
V. 6. Der Herr hat dich zu sich gerufen wie ein verlassen Weib. Der Prophet tritt dem Zweifel entgegen, der in dem so großen Unglück bei den Gläubigen entstehen konnte. Denn sie schienen so sehr vom Herrn verworfen zu sein, dass sie nur noch völligen Untergang zu erwarten hatten. Darum zeigt ihnen der Prophet, dass sie keineswegs zu verzweifeln brauchten, als wären sie verlassen, sondern dass Gott in seiner Huld zur Versöhnung bereit sei, ja sogar die Kraftlosen aufrichten wolle. Er redet von einem jungen Weib, um durch dies Bild die Gemüter desto mehr in dieser Hoffnung zu befestigen. Denn junge Gatten versöhnen sich leichter als ältere, die leichter zugängliche Jugend und die zartfühlende Liebe lockt, ja drängt sie gewissermaßen dazu. So, sagt der Prophet, wird auch Gott zur Versöhnung geneigt sein: du bist zwar verstoßen, aber die Trennung wird nicht immer dauern, der Herr wird sich versöhnlich zeigen, ja zuerst wird er dich zur Versöhnung einladen.
V. 7. Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen usw. Diese Sätze erläutern die vorangehende Aussage und zeigen, welche Bewandtnis es mit der Ehescheidung hat: nach kurzer Frist soll der frühere Zustand wiederhergestellt werden. So wird Gottes Barmherzigkeit hoch erhoben, dagegen das Leid, welches das Herz der Frommen beklemmen konnte, vermindert. Die Hoffnung der Gläubigen auf irgendwelche Wiederherstellung genügt nicht, wenn sie nicht hoffen konnten, Gottes Zorn würde nur von kurzer Dauer sein. Wir brechen sofort zusammen und lassen den Mut sinken, wenn der Herr nicht nahe ist und uns schnell seine Hand darreicht. Darum macht Jesaja bei dieser Rede über die Wiederherstellung der Gemeinde den Zusatz, dass die Verwerfung nur eine zeitweilige, die Barmherzigkeit aber eine ewig währende sei. Der Ausdruck, dass Gott sein Volk verlassen habe, soll als ein Zugeständnis angesehen werden. Denn wir werden von Gott in der Weise als Kinder angenommen, dass wir nicht wegen menschlicher Untreue von ihm verstoßen werden können. Er ist treu, sodass er niemals die Seinigen zurückweist oder verstößt. Die Worte des Propheten müssen wir hier also auf unser Empfinden und das äußere Ergehen beziehen. Wir scheinen von Gott verraten zu sein, wenn wir seine Gegenwart und seinen Schutz nicht empfinden. So müssen wir auch den Zorn Gottes auffassen. Wie ein von ihrem Manne zurückgewiesenes Weib sein Schicksal beklagt, so sollen auch wir die Rechtmäßigkeit unserer Züchtigung erkennen. Aber zugleich müssen wir Barmherzigkeit zu erlangen suchen. Da diese ewig und unendlich ist, werden wir finden, dass im Vergleich mit ihr alle Leiden zeitlich und leicht sind. Sobald wir also vom Unglück heimgesucht werden, müssen wir zu diesem Troste unsere Zuflucht nehmen.
V. 8. Ich habe mein Angesicht usw. Gott wiederholt und verstärkt seine Aussage, um sie desto fester den Frommen einzuprägen und sie vor einem Zusammenbrechen beim Unheil zu bewahren. Und mit Recht, denn in jener schrecklichen Trübsal war es für die Verbannten nicht leicht, das gnädige Antlitz Gottes zu schauen. Wenn nun aber von dem nur einen Augenblick währenden Zorn Gottes besonders hier die Rede ist, weil Gott die Gefangenen bald in ihr Vaterland zurückführte, so entnehmen wir daraus die allgemeine Lehre, dass die Leiden der Gemeinde immer nur zeitweilige sind, sobald wir nur unsere Augen emporheben zu ihrer ewigen Herrlichkeit. Denn wir müssen jene Mahnung des Paulus (2. Kor. 4, 17) festhalten, dass alle Leiden für die Gläubigen leicht und erträglich, und mit Recht als zeitliche anzusehen sind im Hinblick auf den ewigen Wert der Herrlichkeit. Wenn wir diesen Vergleich nicht anstellen dürften, würden uns die einzelnen Tage zu Jahren werden. Vollends die siebzig Jahre, welche die Juden in der Verbannung zubrachten, mit einem Augenblick zu vergleichen, wäre ganz ungereimt, wenn sie eben nicht in Kontrast stünden gegen die ewige Dauer der Gnade.
V. 9. Denn solches soll mir sein wie das Wasser Noah´s usw. Es liegt eine doppelte Lesung des hebräischen Textes vor, sodass man auch allenfalls übersetzen könnte: „wie in den Tagen Noahs.“ Doch macht dies für den Sinn wenig aus. Was aber die eigentliche Absicht des Propheten angeht, so scheinen die Ausleger den Gedanken nicht hinreichend scharf erfasst zu haben. Denn sie erklären nur im Allgemeinen, Gott habe durch einen ewig währenden Eidschwur dem Noah verheißen, dass eine Sintflut niemals wiederkommen werde. Es könnte ja irgendein Mensch sich ängstigen und bei drohenden Regengüssen einen solchen Untergang befürchten, wenn nicht der Herr geschworen hätte, dass das niemals sich ereignen würde. Also könnten wir auch bei drohenden Trübsalen unseren Untergang befürchten, wenn nicht der Herr die Rettung seiner Gemeinde verhieße. Ich glaube dagegen, dass man die Aussage in scharfer Beschränkung auf die babylonische Gefangenschaft beziehen muss. Denn Gott vergleicht jene Gefangenschaft mit der Sintflut, durch welche die Oberfläche der Erde vernichtet wurde. Schien doch auch die Gemeinde völlig untergegangen zu sein. Das Volk war beinahe in eine fremde Nation übergegangen, es hatte kein Königtum, kein Reich mehr, es befand sich in der härtesten Knechtschaft, sein Name galt für völlig ausgelöscht. Da traf ein, was der Prophet im ersten Kapitel sagte: „Wenn der Herr uns nicht einen Samen übrig gelassen hätte, wir wären wie Sodom und Gomorra geworden.“ Mit Recht vergleicht der Herr also jenes Unglück mit den Wassern Noahs, d. h. mit der Sintflut. Und sorgfältig, glaube ich, müssen die Worte „solches soll mir sein“ erwogen werden, was die Ausleger nicht genügend tun. Mit diesen Worten gibt Gott zu erkennen, dass dies Unglück für ihn dieselbe Bedeutung wie die Sintflut haben soll: wie er damals mit der einen Flut sich begnügte und sie nicht wiederholen will, so begnügt er sich, wenn man so sagen soll, mit dieser einen Zerstörung der Gemeinde und will ihre Gestalt nie wieder vernichten lassen. So, glaube ich, muss man diese Stelle erklären und das Gleichnis dahin verstehen, dass die Verwüstung Judäas von Gott angesehen wird wie die Sintflut zur Zeit Noahs; wie er damals schwur, dass er niemals wieder Freveltaten in der Weise bestrafen werde, dass er die Erde ihrer Bewohner beraubt, so will er fernerhin die Gemeinde nicht umkommen lassen, wie er es in der babylonischen Gefangenschaft getan hatte. Und fürwahr, mochten auch immer in der Folgezeit mannigfache Verheerungen eintreten, irgendein Teil der Gemeinde blieb doch am Leben, irgendein Stück blieb doch bestehen, bis nach der Erscheinung Jesu Christi der Same des Evangeliums überallhin gestreut wurde, der dem Herrn aus allen Völkern Söhne hervorbringen sollte. Gott verheißt somit, dass er in Zukunft seinen Zorn mäßigen und nicht so streng mit seinem Volke verfahren will. Sollte jemand entgegnen, seit jener Zeit habe die Gemeinde die schlimmsten Schläge erlitten, und man könne daraus folgern, dass dieser Eidschwur unwirksam sei, oder dass dies die Meinung des Propheten nicht sein könne, so antworte ich: Die Gemeinde hat niemals so schwere Schläge erlitten, dass sie völlig vernichtet gewesen wäre; das geschah nur, als das Volk nach Babylonien weggeführt wurde. Wenn auch Antiochus und die übrigen Gewaltherrscher ihr fürchterliche Schläge versetzten, wenn auch später jener Abfall eintrat, den Paulus vorhersagte (2. Thess. 2, 3 ff.), und wenn auch alles mit abergläubischen Dingen so sehr befleckt war, dass das Christentum fast verschüttet schien, dennoch blieb irgendeine, wenn auch noch so kümmerliche Gestalt der Gemeinde übrig; das Gebäude war keineswegs so zerstört, dass nicht Reste des Christentums über die Flut emporragten.
Dass ich nicht über dich zürnen will. Das ist nicht allgemein, sondern vergleichsweise zu verstehen. Die Worte stehen im Gegensatz zu der vorangehenden Erinnerung. Gott verheißt, er wolle niemals so streng gegen die Seinigen verfahren, dass er nicht die harten Strafen milderte. Wie sehr also auch die Tyrannen in zügelloser Wut toben, wie sehr auch Satan mit allen Mitteln die Gemeinde zu vernichten sucht und der Herr ihm die Zügel lässt, um unsere Undankbarkeit zu bestrafen, so wird er doch niemals ihre völlige Vernichtung zulassen.
V. 10. Denn es sollen wohl Berge weichen usw. Der Herr bestätigt die vorhergehende Aussage und erklärt, dass eher die ganze Welt umstürzen werde, als dass seine Barmherzigkeit aufhöre. Unnötigerweise fragt man hier, wie denn die Berge weichen oder Hügel hinfallen werden. Die Vergleichung ist hergenommen von solchen Dingen, die sehr fest sind und auf unerschütterlichem Grunde zu stehen scheinen, um darzutun, dass das Fundament der Gemeinde noch viel fester ist. Die Berge stehen ja sehr fest, und auf ihnen gibt es nicht so zahlreiche Erdbeben wie in der Ebene. Der Herr will also sagen: wenn auch jene ungeheure und schwere Bergesmasse sich einmal bewegen oder der Himmel einstürzen sollte, dass dennoch sein Bund unerschütterlich bleiben und sein Erbarmen seiner Gemeinde niemals fehlen werde. So heißt es auch im Psalm (93, 1): „Der Herr wird König sein und fest gegründet der Erdkreis.“ Und anderswo (Ps. 102, 27) heißt es sogar: Wenn auch die Himmel vergehen, die Gemeinde Gottes wird bleiben, wie sie ist. Bei dem Worte „Gnade“ wollen wir daran gedenken, was die Grundlage des Bundesverhältnisses ist. Wir können ja keinen Verkehr haben mit Gott, wenn er uns nicht aus Erbarmen mit uns, aus Gnaden zu sich treten lässt. Vom Bund des Friedens ist die Rede, weil der Herr uns alles darbietet, was zum höchsten Glück gehört, wie denn die Hebräer unter dem Wort „Frieden“ alle Wohlfahrt verstehen. Da also dieser Bund ein festes und sicheres Glück in sich fasst, so müssen alle diejenigen unglücklich sein, die von ihm ausgeschlossen sind. Der Herr bestätigt wiederum nur die früheren Ausdrücke, wenn er sich den Erbarmer nennt. Denn nicht anders und aus keinem anderen Grunde will er gnädig sein, als weil er sich erbitten lässt und gerne zum Verzeihen bereit ist.
V. 11. Du Elende usw. Dieser Vers führt denselben Gedanken weiter aus und verheißt, dass die Gemeinde nicht bloß ihren früheren Glanz wiedererhalten, sondern auch durch eine göttliche Tat noch viel herrlicher erstrahlen werde, als ob sie ganz aus Edelsteinen erbaut wäre. Das Gleiche sagt Haggai (2, 9) mit dem einen Wort, dass der Glanz des zweiten Tempels größer sein werde als der des ersten. Hinsichtlich der Namen der Edelsteine sind die Erklärer verschiedener Meinung. Wir brauchen uns darüber nicht den Kopf zu zerbrechen, sondern nur den Sinn der Stelle zu beherzigen. Sie ist eine kräftige, nachdrückliche Aufmunterung zur Linderung der Schmerzen der Frommen. Gott will gleichsam seine in die Tiefe geschleuderte Gemeinde aus dem Schiffbruch retten. So oft wir sie also von Stürmen heftig erschüttert oder durch eine Masse von Übeln bedrängt oder jedes Trostes beraubt sehen, sollen wir daran denken, dass gerade diese Dinge den Herrn zur Hilfeleistung veranlassen.
V. 12. Und deine Zinnen aus Kristallen machen usw. Durch diese Bilder will der Prophet den Zustand der Gemeinde als einen die Vergangenheit weit übertreffenden, glänzenden schildern. Er vergleicht die Gemeinde, wie es in der Schrift allgemein geschieht, mit einem Gebäude; hier stellt er uns das Bild eines kostbaren, wertvollen Baues vor Augen. Bemerkenswert aber ist, dass der Prophet Gott zum Erbauer dieses Gebäudes macht. Ihm allein muss dies Werk zugeschrieben werden. Man kann fragen, was mit den Kristallen, Saphiren und den anderen Edelsteinen gemeint ist. Paulus (1. Kor. 3, 10) denkt dabei an die Predigt des Evangeliums: Ich habe, sagt er, den Grund gelegt als ein weiser Baumeister, so aber jemand auf diesen Grund baut Gold, Silber, Edelsteine, Holz, Heu, Stoppeln, so wird eines jeglichen Werk offenbar werden. Ob der Prophet dasselbe meint, wird der nächste Vers zeigen.
V. 13. Und alle deine Kinder gelehrt vom Herrn. Hier wird ganz klar, dass Jesaja nicht von der Predigt, sondern von den Menschen spricht, aus denen das geistliche Gebäude der Gemeinde errichtet wird. Zwar wird sie durch die Predigt gebaut, aber eben in der Weise, dass Menschen in sie aufgenommen und zum Gehorsam gegen Gott gebracht werden. Zwischen Paulus und Jesaja besteht also der Unterschied, dass jener die Edelsteine auf die Predigt bezieht, dieser aber auf die Gaben des heiligen Geistes, die den Menschen zugewendet werden, um aus ihnen die Gemeinde zu erbauen. Man muss sich dabei die Verschiedenheit der Gaben vor Augen halten, mit denen der Herr seine Gemeinde ausrüstet. Es sind nicht alle Smaragde oder Rubine, sondern der Herr teilt einem jeglichen sein Maß zu nach seinem Wohlgefallen. Dabei muss man daran denken, dass alles, was sich auf die Ausrüstung der Gemeinde bezieht, nur von der Gnade des Herrn herrührt. Sind wir nun Saphire oder Rubine, weil der Herr uns unterwiesen hat, dann folgt daraus, dass wir das nicht von Natur sind. Der Herr aber unterweist uns in doppelter Weise: durch die äußere Predigt und durch die verborgene Offenbarung des heiligen Geistes. Welche Art der Unterweisung der Prophet meint, zeigt Christus (Joh. 6, 45) bei der Erwähnung dieser Stelle. Man braucht also keinen besseren Ausleger zu suchen. Es steht geschrieben in den Propheten, sagt er: sie werden alle von Gott gelehrt sein; wer es nun hört vom Vater und lernt es, der kommt zu mir. Wenn unsere Stelle nur von der äußeren Predigt zu verstehen wäre, dann wäre, was Christus aus ihr folgert, nicht hinreichend begründet. Denn es folgt nicht: das Evangelium wird verkündigt, also glauben alle. Viele sind ja Gegner, die einen sind offenbare Spötter, die anderen Heuchler. Nur die, die vorher verordnet sind zum Leben aus dem Geiste, sind gelehrt, sodass sie mit Recht zu den Jüngern gezählt werden können. Das Evangelium wird den Auserwählten und Verworfenen ohne Unterschied verkündigt, aber nur die Auserwählten kommen zu Christus, weil sie von Gott gelehrt sind. Diese also meint zweifellos der Prophet. Daraus erhellt, wie wir lebendige Steine werden, wertvoll für die Erbauung des göttlichen Tempels, - dadurch nämlich, dass der Herr uns mit seinem Geiste gestaltet und ausrüstet und mit der äußeren Predigt des Wortes die innere Wirksamkeit des Geistes verbindet. Wir erkennen daran die große Verderbtheit des menschlichen Geistes, der nur umgewandelt und erneuert werden kann, wenn der Herr mit der Kraft und Wirksamkeit seines Geistes den Anstoß gibt. Jesaja verbindet somit beide Arten des Lehrens, die innere und äußere. Die vom Herrn gelehrt sind, nennt er Söhne der Gemeinde. Sind sie Söhne, dann müssen sie auch von ihr geboren und ernährt werden, zunächst mit Milch, dann mit fester Speise, bis sie heranwachsen und Männer werden, wie auch Paulus (1. Kor. 3, 2) sagt. Darum ist der äußere Dienst am Wort erforderlich, wenn wir Jünger sein wollen. Daraus ergibt sich, wie unverständig jene Schwärmer sind, welche das Zeugnis unserer Stelle missbrauchen zur Zerstörung der Predigt des Wortes und des Predigtamtes, dessen die Gemeinde sich bedient. Denn nur diejenigen können Söhne der Gemeinde sein, die sich in ihr erziehen lassen. Ganz vergeblich werden die anderen sich brüsten mit heimlichen Offenbarungen, denn der Geist lehrt nur die, die sich dem Predigtdienst der Gemeinde unterwerfen wollen. Des Teufels, aber nicht Gottes Jünger sind also Leute, welche die von ihm eingesetzte Ordnung verachten. Denn diese beiden Begriffe, Kinder der Gemeinde und von Gott Gelehrte, sehen wir derartig verbunden, dass diejenigen nicht Kinder Gottes sein können, die sich in der Gemeinde nicht lehren lassen wollen. Freilich muss man diese Begriffe auch wieder gehörig auseinanderhalten, wie es auch Jesaja tut; das, was der Wirksamkeit des Geistes gebührt, darf nicht den Menschen zugeschrieben werden, - aber doch muss man sie auch wieder so verbinden, dass wir erkennen, wie Gott in dieser Sache die Mithilfe der Menschen gebrauchen will. Außerdem aber lernen wir aus dieser Stelle, dass Gottes Berufung bei seinen Auserwählten kräftig und wirksam ist. – Man könnte nun fragen, ob nicht bereits die Propheten und Patriarchen und andere Gläubige unter dem Gesetz von Gott gelehrt waren. Sicher! Aber diese Worte des Propheten sind als eine Steigerung gemeint. Die Offenbarung in Christo ist reicher und so klar, dass der Herr nunmehr handgreiflich als Lehrer seiner Gemeinde erscheint. Überdies gewinnt er jetzt eine viel größere Zahl von Jüngern. Unsere Stelle steht in Einklang mit Jer. 31, 34: „Und wird keiner den anderen, noch ein Bruder den anderen lehren, sondern sie sollen mich alle kennen, beide klein und groß, spricht der Herr.“ Wenn also einst alle Kinder Gottes vom heiligen Geist gelehrt sein mussten, dann gilt dies heute umso mehr, weil diese Weissagung sich recht eigentlich auf das Reich Christi bezieht.
Und großen Frieden deinen Kindern. Das Wort „Friede“ bezeichnet das Glück, d. h. das gesamte Wohlergehen. Hieraus kann man entnehmen, worin das wahre Glück des Menschen besteht; nämlich darin, dass Gott uns erleuchtet und wir das in Christo geoffenbarte Heil annehmen. Solange wir diese Erkenntnis nicht haben, sind wir die unglücklichsten Geschöpfe: denn sogar die Gaben Gottes werden zum Fluche, bis sie durch Glauben geheiligt werden.
V. 14. Du sollst durch Gerechtigkeit bereitet werden. Gott erscheint hier als der Bereiter oder Baumeister seiner Gemeinde. Bei der Gerechtigkeit dürfen wir nicht an unsere guten Werke denken. Die Meinung ist vielmehr, dass die Gemeinde unter der Leitung Gottes wiederhergestellt werden soll, der ihr Schutzherr und Verteidiger sein will. Seine Gerechtigkeit steht im Gegensatz zu einer gewaltsamen Unterdrückung und Zerstörung der Gemeinde. Der Prophet deutet auf ihre Festigkeit. Sie ist kein hinfälliges Gebäude, das durch ein täuschendes Aussehen auf kurze Zeit vielleicht Gefallen erregt; vielmehr wird Gott sein Werk in Treuen schützen und in seiner Gerechtigkeit seine Gemeinde nach ihrer Wiederherstellung lange unversehrt erhalten. Wie sehr also auch die Menschen auf irgendeine Weise die Gemeinde zu vernichten suchen – sie werden nichts erreichen, denn der Herr schützt sie mit seiner Gerechtigkeit.
V. 15. Siehe, wer sich wider dich rottet usw. Die Summe des Gedankens ist: Wie viele sich auch erheben zur Unterdrückung der Gemeinde, alle ihre Versuche und Angriffe werden vergeblich sein. Und Gott scheint seine Hilfe nicht bloß gegen äußere, sondern auch gegen innere Feinde zu verheißen. Viele nämlich begeben sich in den Schoß der Gemeinde, als wenn sie ihr angehören wollten, aber sie erregen später inneren Streit. Zweifellos wird hier dasselbe beschrieben, wie im zweiten Psalm, nämlich die Beratschlagungen und Empörungen der Völker gegen Christus und die Gemeinde Gottes; nicht ein Volk nur, sondern verschiedene erheben sich wider sie. Alles in allem: der Prophet will zeigen, dass die Gemeinde nicht Ruhe haben, sondern von vielen Gegnern fortwährend in Atem gehalten werden soll. Dies scheint ein Widerspruch zu sein, denn nach seiner früheren Aussage sollte sie frei sein von Furcht und Unterdrückung, - nun aber sollen Zusammenrottungen in ihrer Mitte stattfinden! Indessen macht der Prophet diesen Zusatz in der Absicht, damit sich die Frommen in dieser Welt nicht einen solchen Zustand der Ruhe versprechen, dass sie nicht Bedrängnisse von Gottlosen und Heuchlern zu erwarten hätten. Die Gemeinde hat also unter Unterdrückung und Schmähungen dermaßen zu leiden, dass sie fortwährend Krieg mit ihren Feinden führen muss. Tag für Tag erregt Satan neue Kämpfe, sodass sie niemals Ruhe haben kann. Hier liegt also gleichsam eine Richtigstellung des vorhergehenden Verses vor, damit die Frommen immer zum Kriege bereit seien und niemals sich in Sicherheit wiegen. Es wird aber die Verheißung hinzugefügt, dass der Herr sie nichtsdestoweniger mitten in den Gefahren erhalten wird. – Wenn Gott sagt: die Feinde werden sich „ohne mich“ rotten, so will dies besagen: vergeblich oder mit unglücklichem Ausgang. Die Versuche der Gottlosen werden fruchtlos sein, wenn sie auch alles in Bewegung setzen. In ihrem blinden Wüten bereiten sie sich selbst den Untergang. Die Hand des Herrn allein gibt einen glücklichen Ausgang. Übrigens liegt eine Anspielung an die früheren Aussagen (42, 24; 47, 6) vor, dass die Babylonier unter der Führung Gottes zur Zerstörung Judäas heranrücken würden. Damals kam das Volk um, weil es Gott beleidigt hatte. Aber weil jetzt die Feinde ohne Gott, d. h. ohne seine Leitung, ihn selbst angreifen werden, müssen sie beschämt zurückweichen. Dies drückt der zweite Satz noch deutlicher aus: Wer sich wider dich rottet, wird in dir zu Fall kommen, d. h. was alles auch jemand gegen dich unternehmen mag, es wird alles auf sein Haupt zurückfallen. Wenn auch die ganze Welt sich gegen dich erhebt, sie wird in ihrer eigenen Wucht zusammenbrechen. Das Wörtchen „in dir“ ist beachtenswert. Denn solange der Herr unsere Feinde fern von uns hält, haben wir Vertrauen; sobald sie aber nahe an uns herankommen, lassen wir den Mut sinken. Der Prophet will also sagen: Auch wenn sie bis in dein Inneres gedrungen sind, dennoch wird der Herr sie vernichten und dich erretten.
V. 16. Siehe, Ich schaffe es usw. Der Herr zeigt, wie rasch und leicht er die Gemeinde aus den verruchten Unternehmungen der Gottlosen wird erretten können. Denn sie können nur so weit etwas ausrichten, wie der Herr es zulässt; auch gebraucht er sie als Werkzeuge, um die Seinen zu züchtigen. Dies kann ganz gut sowohl auf die Chaldäer bezogen werden, als auch auf die anderen Feinde, die später dem auserwählten Volke Schaden zufügten. Nimmt man das erstere an, so erwägt Gott bei sich, dass er Mittel hat, die er herbeigeführt, niederzuschlagen und die, die er erhob, zu vernichten. Denkt man aber an Antiochus oder andere Feinde, so ist der Sinn nicht viel anders; auch diese werden den Plänen des Herrn nicht schaden können, da sie ja ohne ihn keinen Finger rühren dürfen. – Aber der Prophet scheint sich zu widersprechen. Denn im vorigen Vers sagte er, dass die Gottlosen die Gemeinde „ohne Gott“ bedrängen; hier aber heißt es, dass sie gleichsam unter der Leitung Gottes kämpfen, um auf seine Veranlassung und unter seiner Führung zu plündern und zu verwüsten. Aber der Prophet will nur dem Gedanken widersprechen, als hätte Gott die Babylonier zur Vernichtung seiner Gemeinde erweckt. Eine Zeitlang bediente er sich derselben. Aber nachher bezeugt er, er wolle seinen Zorn mäßigen und niemals seine Gemeinde von ihren Feinden vernichten lassen, wenn er sie auch durch deren Hand züchtige. Denn darnach trachten die Feinde der Gemeinde mit aller Macht, sie völlig zu vernichten, aber der Herr hemmt ihre Angriffe, da sie das ja ohne ihn tun, d. h. ohne seinen Befehl.
V. 17. Eine jegliche Waffe usw. Die früheren Aussagen werden noch einmal zusammengefasst: die Gottlosen werden, auch wenn sie alles in Bewegung setzen, doch nichts erreichen, ihre Angriffe werden nach dem verborgenen Plan Gottes gelenkt und gezügelt. Die Worte „jegliche“ und „alle“ wollen andeuten, dass die Gottlosen viele und verschiedene Mittel zur Vernichtung der Gemeinde zur Hand haben, sie werden aber alle nutzlos und vergeblich sein, da der Herr sie in Schranken hält. Vom Himmel her wird ihnen viele Freiheit gelassen, um die Geduld der Frommen auf die Probe zu stellen, aber sobald es Gott gefällt, werden sie der Kräfte und Waffen beraubt. Nachdem der Prophet im Allgemeinen die Mittel erwähnt hat, mit denen die Gottlosen die Gemeinde bedrängen, führt er besonders die Zunge an, weil sie die allerverderblichste und giftigste Waffe ist. Denn die Feinde schmähen nicht allein die Knechte Gottes mit ihren Spott- und Hohnreden, sondern suchen auch die göttliche Wahrheit möglichst zu vernichten und die Menschen ihr abwendig zu machen. Das muss uns mehr Schmerz bereiten, als wenn uns hundertmal das Leben genommen würde. Überdies ist für fromme und edel denkende Menschen eine Schmähung schmerzlicher und verletzender, als irgendeine durch Waffen verursachte Wunde. Darum durfte dies todbringende Werkzeug nicht übergangen werden. Wenn es heißt, dass die Zunge sich im Rechtsstreit wider dich setzt, so schildert dies die anmaßende Frechheit, mit welcher die Gottlosen ohne jeden Grund Gottes Kinder reizen und quälen. Wenn dies im Gericht oder im Rechtsstreit geschieht, so wollen sie den Dingen einen schönen Anstrich geben und den Schein erwecken, als ob sie im Recht wären. Wenn nun aber auch unsere Feinde uns mit der Zunge und mit Waffen aller Art bedrohen, so hoffen wir doch im Vertrauen auf diese Weissagung zu überwinden. Denn hier wird uns der Sieg verheißen, und wenn wir dessen gewiss sind, dann können wir unverzagt und ungebrochen kämpfen.
Das ist das Erbe der Knechte des Herrn. Dies, so meint der Prophet, wird gleichsam nach dem Erbrecht den Frommen vom Herrn gegeben; darin werden sie niemals getäuscht. Wie das Erbrecht den allersichersten Anspruch begründet, so ist für die Knechte Gottes sein beständiger Schutz und Schirm gegen alle Gefahren das Allersicherste. „Gerechtigkeit“ heißt so viel wie ihr Recht. Kurz und gut, der Prophet bezeichnet den Herrn als den Rächer, der die Unschuld der Seinen schützt. So oft wir also von Menschen bedrückt werden, wollen wir lernen, geradeswegs zu Gott unsere Zuflucht zu nehmen. Wenn wir eine andere Hilfe suchen, gehen wir seines väterlichen Schutzes verlustig.