V. 1. Mache dich auf usw. Damit bekräftigt der Prophet, was er bisher vorgetragen, um das Volk mehr aufzurütteln, das in Traurigkeit und Angst darniederliegt. Es muss hierdurch gewissermaßen gestachelt werden, damit das Wort in sein schlummerndes, unempfänglich gewordenes Gemüt gründlich eindringen könne. Jesaja redet die betäubte, wie vom Blitz getroffene Gottesgemeinde an, heißt sie, sich zu erheben, ihre Kräfte zusammenzunehmen und Mut zu fassen. Auch dass er zweimal sagt: „Mache dich auf! mache dich auf!“ ist nicht umsonst, weil es für die vom göttlichen Zorn ins Herz getroffenen und gedemütigten Menschen so schwer ist, sich wieder zu erheben und aufzuraffen.
Zeuch deine Stärke an usw. Das will etwa besagen: Die du entseelt in Schmutz und Lumpen daliegst, rüste dich zu dem glückseligen Stand, in den der Herr dich wieder einsetzen will. „Stärke“ ist der Gegensatz zu einem gebrochenen Mut, der sich verzweifelter Lage einzustellen pflegt; „Schmuck“ ist der Gegensatz zu Schmutz und Lumpen. Als Grund dieses Wandels wird hinzugefügt, dass Gott den Gottlosen fortan nicht mehr zulassen werde, nach ihrer üblen Lust mit Jerusalem zu verfahren. Schon die Befreiung von ihrer Tyrannei ist für die Kirche ein Grund zur Freude, die Sicherheit ihrer Zukunft aber macht sie wahrhaft freudig und fröhlich. Uns aber ermahnt Jesaja, uns mit ihr zu freuen, weil Gott sich wieder mit seiner Kirche verbindet. Und gewiss, sind wir noch irgendwie fromm, so muss ihr Zustand uns stark bewegen, ist er günstig, zur Freude, und ist er ungünstig, zur Trauer (Ps. 137, 6). – die „Unbeschnittenen“ und „Unreinen“ sind alle jene weltlich gesinnten Leute, die den Dienst Gottes zu Grunde richten und die Gewissen gewaltsam bedrücken. Es war in Israel geläufig, alle der Kirche Fremden Unbeschnittene zu nennen, denn ihr Abzeichen war die Beschneidung, womit alle ihre Angehörigen gekennzeichnet waren. Aber weil sehr viele, obgleich beschnitten, nicht besser waren als die Unbeschnittenen, fügt der Prophet „Unreine“ hinzu, um jeden Zweifel über das, was er sagen will, zu beseitigen. Denn die Beschneidung allein tut es nicht, sondern sie wird der Vorhaut gleich gerechnet, wo die Reinheit des Herzens fehlt (Gal. 5, 6; Röm. 2, 25). Für solche Leute ist weiter kein Raum in der Kirche, damit sie höchster Freude genießen könne nach Entfernung der Verderbnisse und Wiederherstellung des rechten Gottesdienstes. Solche unheiligen Menschen sollen nicht ferner in Gottes Gemeinde hineingehen: der Herr versperrt ihnen den Weg, damit sie nicht wie früher ungestraft hereinbrechen und wüten können.
V. 2. Schüttle den Staub ab usw. Nunmehr wird die Befreiung ausführlicher beschrieben und durch ein Bild erläutert. Dass wir den Staub abschütteln und aufstehen sollen, hat aber nicht die Meinung, dass die Freiheit in unserer eigenen Kraft stünde und dass wir sie gewinnen könnten, sobald es uns nur beliebte. Denn uns aus dem Staube zu erheben und uns aufzurichten, wenn wir darniederliegen, ist ausschließlich Gottes Werk, und ebenso unsere Bande zu brechen oder zu lösen und uns frei zu machen. Warum redet aber der Prophet in der Form des Befehls, wenn es doch durchaus unvernünftig ist, von uns zu fordern, was wir zu tun nicht vermögen? Er redet so, weil die Befehlsform uns viel kräftiger aufrüttelt, als eine erzählende Beschreibung des Tatbestandes es vermöchte. Unter dieser Form wird uns dargestellt, dass die Gottesgemeinde in ihre ursprüngliche Freiheit zurückversetzt und aus dem Schmutz erhoben werden soll.
Setze dich hin, Jerusalem! Das deutet auf Jerusalems Wiederherstellung hin und bildet einen Gegensatz zu seinem früheren Darniederliegen, welches ein Bild des äußersten Elends war. Die Anrede ist also hier in einem ganz anderen Sinne gemeint, als Babel zugerufen wurde (47, 1): „Setze dich in den Staub!“ Zuerst wird Jerusalem geheißen, aufzustehen; dann wird hinzugefügt, dass es sich hinsetzen soll. Es soll also in Zukunft nicht mehr am Boden liegen, sondern den früheren Zustand wiedererlangen und auch nicht wieder von den Feinden zu Boden geworfen werden.
V. 3. Ihr seid umsonst verkauft. Dieser Vers erinnert an das Wort (50, 1): „Wer ist mein Gläubiger, dem ich euch verkauft hätte?“ Das „umsonst“ bedeutet: Ich habe kein Entgelt bekommen, bin auch keinem Gläubiger verpflichtet gewesen, der auf euch als auf ein Pfand seine Hand hätte legen können. Dies trägt aber sehr viel zur Bekräftigung der Verheißung bei, da die Juden darum an ihrer Befreiung zweifeln konnten, weil die Chaldäer sie schon so lange gefangen hielten und auch damals das mächtigste Volk waren. Diesem Zweifel begegnet der Herr: Ich habe euch nicht verkauft, noch verstoßen, umsonst seid ihr verkauft; ich kann euch also mit vollem Recht zurückfordern und für mich in Anspruch nehmen. Darum berechnet nicht die Schwierigkeiten, wenn ich euch die Befreiung verspreche, und beredet nicht die menschlichen Mittel, denn die Chaldäer haben kein Recht, euch festzuhalten, und keine Macht, eure Befreiung zu verhindern! Wie der Herr vorher gesagt hatte, er sei kein zahlungsunfähiger Schuldner, der die Seinen in Schuldhaft zu geben oder zu verkaufen gezwungen sei, so gibt er hier an, er habe sie umsonst verkauft und den Feinden hingegeben nur darum, weil sie ihn mit ihren Sünden gereizt hätten; so gäbe es keine größere Schwierigkeit, sie zu befreien, als sie hinzugeben. Hier ist nicht die Rede davon, dass wir umsonst von Christus erlöst sind, der Prophet will lediglich dem Misstrauen der Juden entgegentreten: sie sollen an ihrer Befreiung nicht zweifeln. Der Wille Gottes genügt zu ihrer Befreiung, eine Verhandlung mit den Chaldäern über den Preis ist nicht nötig; Gott wird ihnen ohne Mühe auch wider ihren Willen ihren Besitz nehmen.
V. 4. Mein Volk zog hinab gen Ägypten usw. Hier wird er Schluss vom Geringeren auf das Größere gezogen. Gott hat sein Volk von den Ägyptern befreit, die es hart und unbillig behandelten: viel mehr wird er die Chaldäer strafen, die ihm grausam begegneten. Pharaos Herrschaft über die Juden hat doch mehr den Schein des Rechts für sich, als die der Chaldäer. Jakob war doch mit seiner Familie freiwillig nach Ägypten gezogen, also ohne Zweifel Pharaos Untertan geworden, der ihm um Josefs willen ein weites Land und gute Weiden anwies. Die undankbaren Nachfolger dieses Pharao, die nichts wussten von Josef, versetzten die ganze Nachkommenschaft Jakobs auf mancherlei Art in Betrübnis. Diese Undankbarkeit und Unbilligkeit hat Gott streng gerächt. Aber weit abscheulicher und grausamer war die Sünde der Chaldäer, welche die Juden aus ihrem rechtmäßigen Wohnsitz warfen und sie in Gefangenschaft abführten. Wenn also Gott die undankbaren und ungerecht herrschenden Ägypter, ob sie schon irgendwie ein Herrschaftsrecht beanspruchen konnten, nicht tragen konnte, so wird er viel weniger die gewalttätigen und trotzigen Chaldäer tragen, die ohne Recht sein Volk gefangen halten und unterdrücken. Unter „Assur“ sind die Chaldäer oder Babylonier mitverstanden, da beide Völker unter gleicher Herrschaft standen. Assur wird aber besonders genannt, weil es zuerst die Juden besiegte und den Anfang mit der Wegführung machte.
V. 5. Aber wie tut man mir jetzt allhie? Der Herr fährt fort und bestätigt das eben Gesagte, dass es durchaus nicht angehe für ihn, die Unterdrückung seines Volkes schweigend zu ertragen. Denn mit diesen Worten tadelt er gewissermaßen seine bisherige Zulassung, als wenn er sagte: Soll ich denn nicht meine Hand ausstrecken? Soll ich denn nicht mein Volk in Schutz nehmen? Wenn Pharao mich nicht hinderte, obwohl er der gesetzmäßige Herr war, sollten mich denn diese gewalttätigen Räuber hindern? Dann zählt er im Einzelnen auf, was ihn dazu treiben muss, sein Volk zurückzuführen. In dem Worte „hingerafft“ liegt ein unausgesprochener Gegensatz; denn von den Ägyptern war das Volk nicht „hingerafft“, sondern freiwillig, durch Hungersnot getrieben, hingezogen. Dennoch wurde es von ihnen erlöst; wie viel mehr soll es aus deren Hand erlöst werden, die es wider seinen Willen aus dem Vaterlande wegrissen und in Gefangenschaft führten! Empörender noch ist es, dass sie zu beständigem Heulen Anlass haben – so grausam werden sie von den Chaldäern behandelt. Ihre Herrschaft ist nicht nur unbillig, sondern unmenschlich. „Heulen“ ist eine stärkere Bezeichnung als seufzen und wehklagen; sehr bitter ist der Schmerz, der dem Menschen laute und heftige Schreie auspresst. Mit diesem von den wilden Tieren hergenommenen Vergleich wird die äußerste Verzweiflung bezeichnet.
Mein Name wird immer täglich gelästert. Der dritte und stärkste Grund, weshalb der Herr sein Volk befreien wird, ist der, dass sein Name der Lästerung und Beschimpfung durch die Gottlosen nimmer ausgesetzt sein soll. Um seiner Ehre willen bewahrt der Herr die Kirche und schützt den reinen Dienst seines Namens. Da aber die Gottlosen das Unglück der Kirche zum Anlass der Lästerung nehmen und frech Gottes spotten, heißt es mit Recht, dass Gott um sein selbst willen sein Volk erlösen werde.
V. 6. Darum soll mein Volk meinen Namen kennen. Hier wird aus dem Vorhergehenden die Schlussfolgerung gezogen: Gott muss sein Volk erlösen, weil er sich selbst gleichbleiben muss. Erlöste er die Väter, war er immer seiner Kirche nahe, so kann er den Untergang der Nachkommen, die er doch auch angenommen hat, nicht zugeben. Gottes Namen kennen heißt Gott selbst aus seinem Worte als aus dem echten Abdruck seines Bildes, darnach auch aus seinen Werken also erkennen, dass jede hohle Einbildung ausgeschlossen bleibt. Denn wir sollen Gott nicht nach Menschengedanken bilden, sondern so annehmen, wie er sich uns offenbart. Also schließt der Herr, dass er wahrhaftig da sein und alle seine Verheißungen erfüllen werde, damit sein Volk einsehe, dass es nicht vergeblich gehofft habe und mehr und mehr in der Erkenntnis seines Namens befestigt werde. Wir müssen uns dabei dessen erinnern, was andern Orts (zu 43, 10) von der erfahrungsmäßigen Erkenntnis gesagt wurde, durch welche der Glaube an das Wort seine volle Festigkeit gewinnt. Was Gott weiter sagt: Ich bin es, der da spricht, deutet auf seine Verheißungen. Wenn er hinzufügt: Hier bin ich!, so deutet dies auf seine wirksame Macht. Gott will sagen: Wenn jetzt auch nur mein Wort in eure Ohren tönt, womit ich kaum Wahrscheinliches verheiße, so werdet ihr doch bald die Sache selbst wahrnehmen, denn ich werde tatsächlich leisten, was ich verspreche. Im Allgemeinen ist hieraus die Lehre zu entnehmen, dass der Erfolg mit den Verheißungen Gottes ganz untrennbar verbunden ist. So oft uns also auch Satan bedrängt und zum Misstrauen reizt, als ob wir von Gott verlassen und preisgegeben wären, müssen wir hierauf zurückgehen und dem Herrn glauben, der nichts vergebens verheißt. Gibt er jetzt noch nichts, wird es doch zur rechten Zeit da sein.
V. 7. Wie lieblich sind usw. Wieder stärkt der Prophet die Frommen in der Zuversicht zur Gewissheit des göttlichen Wortes, damit sie doch ja nicht in irgendeiner Weise sich dem Zweifel daran hingeben, dass ihre frühere Freiheit wiederhergestellt werden wird, und ihren Mut in jener harten Knechtschaft durch die gewisse Hoffnung stützen. In glänzenden Redewendungen verkündet er aber diese Botschaft, damit die Frommen versichert sein können, dass die Hoffnung zukünftigen Heils ihnen im Unglück von Gott her dargeboten wird. Und sicherlich müssen sie, da es Gott ist, der redet, den Trost ergreifen, der ihnen hilft, ruhig und geduldig die Erfüllung der Verheißung zu erwarten. Diese Ausschmückung der Rede bedeutet also: Wollt ihr denn so undankbar sein, dass euch dieser herrliche Schatz nicht genügt, ein Wort, das so große Wohltaten einschließt? Wollt ihr verlangen, was euch nicht taugt? Wollt ihr Gott herausfordern? Denn der Prophet will eben das Volk vom Misstrauen heilen, da es sich durch allerlei Lockungen verleiten ließ und überhaupt sich nicht bei dem Worte Gottes beruhigte. Darum hebt er die Herrlichkeit der Verkündigung hervor und zeigt, dass der Herr mehr schenkt, als wir sagen und erdenken können. Es ist aber ersichtlich, dass hier nicht von jeglicher Verkündigung die Rede ist, sondern eben von der, welche Trost zu schaffen vermag. Drum heißt es, dass deren Kommen schön und erwünscht ist, die den Trost aus Gottes Munde verkündigen, wodurch nicht nur unsere Traurigkeit gehoben, sondern auch das Herz mit Freude erfüllt wird. Es handelt sich ja um die Verkündigung des Heils; darum sagt der Prophet, dass Friede, Gutes und Heil verkündigt wird. Mit dem Wort „Friede“ wird ein gedeihlicher und glücklicher Zustand bezeichnet, wie schon früher mehrfach bemerkt ist.
Die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König. Hier vernehmen wir das Hauptstück der prophetischen Predigt, das, was wir am meisten wünschen müssen, nämlich dass Gottes Herrschaft bei uns aufgerichtet werde. Denn bis er bei uns herrscht, muss alles für uns unglücklich gehen und wir also unglücklich sein, wie wiederum der ganze Inbegriff des Heils ist, dass Gott geruht, für uns Sorge zu tragen. Und nur so können wir zum Frieden kommen, so verwirrt und verkommen die Lage der Dinge auch sein mag. Wir wollen uns aber erinnern, dass diese Botschaft für die Kirche bestimmt ist; denn für weltlich gesinnte Leute, die Gott nicht kennen, passt sie nicht. Paulus zieht diese Stelle an (Röm. 10, 15), um zu beweisen, dass die Verkündigung des Evangeliums nicht von Menschen, sondern von Gott herkomme und die Boten des Heils von ihm gesandt werden. Diese Anwendung der Stelle ist richtig, obwohl Jesaja nicht sagt, dass die Prediger von Gott gesandt werden, sondern, dass ihr Kommen erwünscht ist. Denn Paulus setzt voraus, dass ein solcher Wunsch nur an Gott gerichtet sein kann. Also kann das Heil, diese einzigartige Wohltat, nur Gott zum Urheber haben, womit die Anwendung der Stelle gerechtfertigt ist.
V. 8. Deine Wächter rufen laut usw. Der Prophet verfolgt seinen Gegenstand noch weiter. Es wird die Wiederherstellung des Volkes so beschaffen sein, dass die Boten sie furchtlos verkündigen dürfen. Das laute Rufen in diesem Vers stimmt zu der Verkündigung „auf den Bergen“, von welcher der vorige Vers sprach. Es wird keine heimliche Sache sein, sondern so offenbar und berühmt, dass sie jedermann zur Verwunderung hinreißt. Über zweifelhafte Dinge flüstert man und wagt es nicht, laut zu reden, hier ist aber nichts zweifelhaft und ungewiss. Der Prophet entlehnt sein Bild von den Wachtposten, welche über eine Stadt verteilt zu werden pflegen. So werden die Propheten Wächter genannt, weil sie über des Volkes Heil zu wachen haben. Sie sollen laut mit ihrer Stimme rufen: die Zeit des Schweigens, da man die Stimme der Propheten nicht hörte, die Verbannung ist vorüber. Damals mögen sie in der Stille einzelnen zugesprochen haben, aber sie hatten nicht die Freiheit, offen zu reden. So heißt es bei Jeremia (Klagel. 3, 29), dass ein Verlassener seinen Mund in den Staub stecke. Aber nun, da der Herr sein Volk herausführen will, wird ihr Mund geöffnet sein; die vormals stummen Wächter sollen die freie Rückkehr verkündigen. Und sie werden nicht innerhalb der Wände des Hauses reden, noch zaghaft von Trost reden, sondern mit vollem Munde dies Heil verkünden. Wir haben darüber im Anfang des 40. Kapitels mehr vernommen.
Man wird es mit Augen sehen, wenn der Herr Zion bekehrt. Man pflegt bei diesem Ausdruck an eine innerliche Bekehrung zu denken. Immerhin darf man sich von dem buchstäblichen Sinne nicht so weit entfernen, dass die äußere Wohltat, welche Gott dem Volk des alten Bundes erwies, ausgeschlossen bliebe. Buchstäblich wäre zu übersetzen: „wenn der Herr Zion heimkehren lässt.“ Dies Wort wurde also erfüllt, als der Herr durch den Dienst Serubabel, Esra und Nehemia den Juden ihre Freiheit wiedergab. Diese Befreiung ist aber vorbildlich für die, die Christi Zukunft brachte, wodurch die Gemeinde Gottes aus aller Welt Enden gesammelt wurde. Ja, man muss das Wort selbst auf die Wiederkunft Christi beziehen, da alles seine volle Erfüllung finden wird.
V. 9. Lasset fröhlich sein usw. Diese Ermahnung zum Dank ist zugleich eine Festigung der Hoffnung und des Vertrauens auf die Rettung, die als so gewiss hingestellt wird, dass man danksagen soll, als wäre sie schon da. Es bewegt uns nicht tief genug, wenn man uns bezeugt, dass Gott uns einmal helfen wird, ja wir glauben wohl gar, dass man unsrer spottet, wenn die Sache nicht sofort handgreiflich da ist. Darum reden die Propheten so eindringlich davon, um der Frommen Herz fest zu machen, und stellen die Erfüllung fast vor Augen. Und obwohl des widersinnig und unzulässig scheint, die Trauernden zu Freudenliedern aufzufordern, sehen wir doch auch sonst, wie Leute, die unter der Last des Schmerzes, der Furcht und der Sorgen seufzen, durch solche Redeweise ermuntert werden. „Das Wüste zu Jerusalem“ wird aufgerufen: denn eben, da es so ganz und gar verstört und verwüstet ist, soll es vertrauen, dass es wiederhergestellt werden wird; und diese Anrede ist zur Bannung der Furcht zweckdienlicher, als wenn der Prophet Jerusalem glücklich und blühend genannt hätte. Denn da der Zustand der Stadt so sehr unglücklich war, konnte man diese Verheißungen nur dann auf sie beziehen, wenn man ihr Unglück ausdrücklich anerkannte. Denn es galt, die Herzen dagegen durch das sichere Vertrauen auf die Wiederherstellung zu stählen, während nichts als Verwüstung und traurige Ruinen zu sehen waren.
Denn der Herr hat sein Volk getröstet und Jerusalem gelöst. Die Trauer des Volkes wendet der Herr in Freude, macht die Gefangenen frei. Zwar war es noch nicht zu geschehen, aber was wir mit unseren Augen noch nicht sehen können, müssen wir erschauen in den Verheißungen Gottes, wie in einem Spiegel, mag es uns auch befremdlich vorkommen. Es ist eben Gottes eigenstes Werk die Erlösung der Kirche. Ist dies der Fall mit der Erlösung Israels aus Babel, die doch nur ein Schatten war, wie viel mehr mit der geistlichen Erlösung! Ist es nicht eine schwere Beleidigung Gottes, diese den Menschen zuzuschreiben? Wie es aber Gott allein zukommt, die Kirche zu befreien, so auch ihre Freiheit zu schützen.
V. 10. Der Herr hat offenbart seinen Arm. Das Bild ist hergenommen von den Kriegern,die zum Kampf den Arm vorstrecken, während sie im müßigen Zustande die Arme vielleicht verschränken. So lange Gott seine Macht nicht handgreiflich offenbart, meinen wir nach unseren groben Begriffen, dass er wie ein zusammengebrochener und träger Mensch keinen Finger rühre. „Heilig“ heißt Gottes Arm, weil er seine Macht zum Heil seines Volkes gebrauchen wollte. Denn hier tritt die Wechselbeziehung zwischen Gott und seiner Kirche hervor, die der Herr sich selbst geheiligt hat. Zwar „offenbart“ er seinen Arm in all seinem Walten über die Welt, aber „heilig“ heißt derselbe nur hier, da er seiner Kirche besondere Hilfe bringt. Denn nach zwei Seiten muss man Gottes Macht betrachten, einerseits allgemein bei der Erhaltung aller seiner Geschöpfe, dann insbesondere bei der Bewahrung seiner Kirche. Denn es ist eine besondere Fürsorge, die er für die Seinen aufwendet, wie die anderen sie nicht erfahren. Diese Erlösung ist so großer Bewunderung wert, dass sie vor den Augen aller Heiden kund, also auch den Blinden sichtbar wird. Wenn aber dies herrliche Schauspiel bis an aller Welt Enden ausgedehnt wird, so ist klar, dass nicht von der Herstellung Israels die Rede ist, die wenige Jahre nachher eintreten sollte, sondern von der Herstellung der ganzen Gottesgemeinde. Wir Christen haben ein Recht zu dieser Deutung; denn Gott hat wohl mit der Erlösung unter Cyrus angefangen, seine Macht den Medern und Persern zu offenbaren, sie aber sichtlich bis auf unsere Zeit allen Völkern kundgetan.
V. 11. Weicht, weicht usw. Nun wird das Volk ermahnt, sich stets zum Auszuge gerüstet zu halten und einstweilen sein Elend geduldig zu tragen. Musste einmal die Eilfertigkeit des Volkes gezügelt werden, so musste es dann wieder aus seinem Stumpfsinn aufgerüttelt werden. Denn bevor die Zeit der Befreiung gekommen war, brannte es vor unzeitiger Begier, davonzuziehen; als aber die Verbannungszeit um war, war es durch die lange Verzögerung lässig geworden und hatte alle Hoffnung und allen Willen zur Rückkehr aufgegeben, so dass sich nur wenige nach Judäa zurückbegaben. Sie hatten sich mit den Babyloniern vermischt, und, verlockt und verdorben durch deren Sitten, vergaßen sie der Heimat. So war es nötig, sie aufzurütteln und zu erinnern, damit sie durch die lange Wartezeit nicht entkräftet würden und nicht weiter sich durch den Schmutz der Babylonier verderben ließen. – Rühret kein Unreines an. Diese Worte machen vollends deutlich, was wir soeben schon sagten: die Juden sollen sich rein und unbefleckt von dem Schmutz halten, womit die Chaldäer sich verunreinigten. Denn es bestand die Gefahr, dass sie durch die Abgötterei der Heiden verderbt würden, da wir alle zum Bösen geneigt sind und von bösen Beispielen uns leicht hinreißen lassen. Ferner will der Prophet die Gefangenen mahnen, dass sie nicht ihren Herren etwas zu lieb tun, um ihre Lage zu erleichtern, und so sich von dem rechten Gottesdienst abziehen lassen; dass sie sich nicht mit ihren gottesdienstlichen Gebräuchen beflecken, auch nicht zum Schein die Götzen anbeten oder ihrer Verehrung zustimmen. Dies ist die fluchwürdige Unreinigkeit, welche der Prophet zu meiden befiehlt. Es kommen dazu solche Versuchungen, denen die Gefangenen und von Gewaltherrschaft Unterdrückten oft so unterliegen, dass sie sich manches Schlechte und Unerlaubte gestatten unter dem Vorwande, die Wut der Gewaltherren zu mildern. Aber wie matt ihre Entschuldigung ist, sehen wir hier. Denn der Prophet ermahnt die Juden nicht zur Reinigkeit, wenn sie frei sein werden, sondern so lange sie Gefangene sind und sogar in Gefahr des Lebens stehen. Das geht ohne Zweifel auch uns an, die Paulus (2. Kor. 7, 1) ermahnt, uns nicht nur am Geiste, sondern auch am Leibe unbefleckt zu erhalten. Insbesondere redet der Prophet die Priester und Leviten an: die ihr des Herrn Geräte tragt. Sie als Anführer mussten sich noch unbescholtener halten – nicht als ob anderen gestattet wäre, sich zu verunreinigen, aber der Prophet treibt sie am meisten an, damit sie den anderen ein Vorbild gäben, denen sie zu Führern bestimmt sind. Hierzu muss man sich erinnern, was wir schon früher gesehen haben und was Jesaja am Ende des Buches (66, 21 f.) wiederholt, dass es bei dem erlösten Volk ein neues Priestertum geben wird. Doch ist es auch zulässig, unter den Priestern und Leviten, welche des Herrn Geräte tragen, das ganze Volk zu verstehen. Dann bezieht sich der Spruch nicht nur auf die Diener am Wort, sondern heute auf alle Christen insgesamt, die auch das königliche Priestertum genannt werden und nicht nur bestimmt sind, des Tempels Geräte zu tragen, sondern selbst Tempel Gottes sind. Da also der Herr alle zu solch hoher Würde erhebt, so folgt, dass diese Reinigkeit von allen ohne Ausnahme gefordert wird. Darum wandte Paulus auch diese Stelle auf die ganze Gemeinde an (2. Kor. 6, 17).
V. 12. Denn ihr sollt nicht mit Eile ausziehen. Wieder rühmt der Prophet die Wohltat der Erlösung, weil sie unglaublich schien: so sehr hatte Verzweiflung aller Herzen erfasst. Denn er redet zumeist solche an, die später einmal Gefangene sein würden, dass sie in jenem traurigen Zustande den Mut nicht sinken lassen sollten. Er verheißt, dass die zukünftige Befreiung nicht wieder wie die ägyptische einer Flucht ähnlich sein werde. Denn die Worte enthalten einen stillschweigenden Vergleich zwischen beiden Befreiungen. Zur Nachtzeit flohen sie aus Ägypten unter dem Vorgeben einer dreitägigen Opferfahrt und zogen eilig und in Unruhe aus, wie ihnen gesagt war, verfolgt von Pharao, der alle mit dem Untergang bedrohte. Jetzt soll es aber anders gehen: sie werden wie Obliegende fortziehen, niemand wird wagen, ihnen Schwierigkeiten zu bereiten; mit fliegenden Fahnen werden sie gleichsam ziehen, soviel herrlicher und wunderbarer wird diese Erlösung sein. – Der Herr wird vor euch herziehen, d. h. euer Führer auf dem Zuge sein. Zwar war es das auch, da er sie aus Ägypten herausführte, aber er zeigte seine Herrlichkeit nicht so offenbar, wie es hier der Fall sein wird, wo er wie ein Feldherr nach Besiegung der Feinde sein Heer zurückführt. Darauf deutet auch der Ausdruck, dass Gott die Seinen „sammeln“ wird. Es soll keine Zerstreuung mehr geben, wie bei ängstlicher Eilfertigkeit, und sie werden nicht einzeln in der Irre umherschweifen, sondern in wohl geordneten Scharen wie unter den Fahnen einher ziehen, - eine gesammelte Mannschaft und ein Heer Gottes, nicht einer nach dem andern sich heimlich wegstehlend, sondern öffentlich versammelt werden sie ohne jede Furcht davonziehen. Der Prophet ruft ihnen zu: Niemand wird euch ein Hindernis bereiten, weil ihr euch unter Gott als Führer sammeln werdet, um ins Vaterland zurückzukehren.
V. 13. Siehe, mein Knecht usw. Nachdem Jesaja von der Erlösung gesprochen hat, geht er zu Christus über, in dem alles zusammengefasst wird. „Weislich tun“ schließt den beabsichtigten Erfolg ein, der, so unerkennbar er damals war, sie zum höchsten König zurückruft, der alles wiederherstellen muss und sie heißt, ihn zu erwarten. Man muss hier auf die Gegensätze merken, deren sich der Prophet bedient. Denn die Erhabenheit dieses Königs, den der Herr erhöhen wird, stellt er der elenden, gedrückten Lage des fast mutlosen Volkes entgegen. Und er verheißt, dass dieser König das Haupt des Volkes sein wird, so dass es selbst durch seinen Führer gedeihen wird, ob es schon jetzt in tiefster Betrübnis, im größten Elend darniederliegt; denn ihm wird alles wohl gelingen. „Knecht“ wird Christus genannt, weil ihm ein Dienst von Gott auferlegt ist. Christus darf nämlich nicht als Privatperson betrachtet werden, sondern nur in seiner Stellung, die der Vater ihm gegeben hat, Führer des Volkes und Hersteller aller Dinge zu sein, so dass wir alles, was von ihm ausgesagt wird, als auch uns angehend erkennen müssen. Denn uns ist Christus gegeben, darum geht sein Amt auch uns an. Der Prophet hätte ja kurz sagen können, Christus werde erhöht und zu Ehren gebracht werden, aber, da er ihm die Bezeichnung des Knechtes gibt, deutet er an, dass er unsertwegen erhöht wird.
V. 14. Gleichwie sich viele über dir ärgern werden usw. Weil Christi Erhabenheit nicht beim ersten Anblick zu sehen war und man ihn unter diesem Vorwand zurückweisen konnte, wird dieser Einwand vorweg beseitigt. Der Prophet erinnert also, dass Christus zuvor verworfen und erniedrigt werden muss; so begegnet der dem Zweifel, der aus diesem seinem so verachteten und hässlichen Zustande hervorgehen konnte. Er will sagen: die Menschen haben keinen Grund, um dieser Hässlichkeit und Niedrigkeit willen sich von ihm abzuwenden, da doch beständiges Glück alsbald folgen wird. Dass man sich an Christo „ärgern“ oder, wie buchstäblich zu übersetzen wäre, über ihn entsetzen wird, will besagen, dass man ihn mit Widerwillen von sich stößt. Denn Christus zeigte sich so in der Welt, dass er sich überall verachtet sah; seine Herrlichkeit verbarg sich unter der Niedrigkeit des Fleisches. Obwohl die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater von ihm ausstrahlte, wurde sie von den meisten Menschen doch nicht erkannt, sondern vielmehr die Selbstentäußerung verkannt, sie seine Herrlichkeit verschleierte oder verhüllte. Und dies war die Ursache des Ärgernisses, weil er ohne Glanz unter den Menschen verkehrte und sich die Juden nicht denken konnten, dass ein Erlöser in solchem Zustand und solcher Haltung auftreten würde. Als er zum Kreuze kam, gab es noch weit mehr Ärgernis. Auf diese Niedrigkeit und die ihr nachfolgende Erhöhung deuten die bekannten Worte des Paulus im Philipperbrief (2, 5 ff.). Also musste Christus zuerst erniedrigt und verachtet werden, und seine Erhabenheit, zu der er erhöht werden sollte, war zunächst nicht sichtbar, sondern erst der Schande des Kreuzes folgte die herrliche Auferstehung mit der höchsten Ehre.
V. 15. Also wird er viel Heiden besprengen. Das will besagen, dass der Herr sein Wort über viele Völker sich ergießen lassen wird. Es ist auch sofort von dem Erfolg dieser Belehrung die Rede: Könige werden ihren Mund vor ihm zuhalten, nämlich zum Zeichen ihrer Verwunderung, nicht des Entsetzens und Ärgernisses, von welchem der vorige Vers redete. Denn die Menschen schweigen voll Erstaunen, weil sie seine Größte nicht in Worte fassen können, die alles übertrifft, was davon gesagt werden könnte. „Die nichts davon gehört haben“ – die Verwunderung wird nicht aus dem bloßen Anblick Christi, sondern vielmehr aus der Verkündigung des Evangeliums entstehen. Denn wäre er auch auferstanden, so hätten doch alle ihn für einen Toten gehalten, wäre nicht der Ruhm der Auferstehung verkündigt worden. Also ist durch die Verkündigung des Evangeliums offenbar geworden, was vorher nicht gesehen und nicht gehört worden war. Denn zu den entferntesten Königen und Völkern, bis ans Ende der Welt ist diese Verkündigung gelangt. Paulus bezieht unsere Stelle auf seinen Dienst und rühmt sich aus dem Grunde, dass er das Evangelium denen verkündigt habe, die nie etwas davon gehört hatten (Röm. 15, 21). Denn dies ist das Amt eines Apostels, nicht jedes Dieners am Wort. So will also diese Stelle sagen, dass das Reich Christi weit über das Land der Juden hinausgehe und nicht in so enge Grenzen eingeschlossen sei; es musste unter allen Völkern ausgebreitet und bis an der Welt Enden ausgedehnt werden. Die Juden aber hatten aus dem Gesetz und den Propheten etwas von Christus gehört, den Heiden dagegen war er völlig unbekannt. Daraus folgt, dass diese Worte sich ganz eigentlich auf die Heiden beziehen.
Die werden es merken. Diese Worte zeigen, dass der Glaube auf dem Grunde der Gewissheit und sicheren Erkenntnis beruht. Wo also eine solche Erkenntnis fehlt, fehlt ganz sicher auch der Glaube. Es ist darum ein leeres Gerede, von Glauben zu sprechen, wenn nur die Zustimmung zur Kirchenlehre, ob man sie kenne oder nicht, gemeint ist; darunter verbirgt sich die völlige Unwissenheit.