V. 1. Zu der Zeit wird man ein solch Lied singen im Lande Juda. Der Prophet beginnt wieder mit dem Hinweis darauf, dass das Volk, wenn es einst aus der Verbannung zurückgekehrt ist, unter der schirmenden Hand Gottes Schutz finden wird. Jerusalem wird dann durch Gottes Bewahrung sicher dastehen, als wäre es von Wall, Gräben und doppelter Mauer umgeben, sodass den Feinden kein Zugang offen steht. Auf die Zeit ist zu achten, in welcher der Prophet dieses Lied gesungen hat. Er hatte den Untergang der Gottesgemeinde vorausgesagt; dieser stand aber noch nicht so nahe bevor, sondern trat erst nach seinem Tode ein. Das wäre nun in der Verbannung sicher der Verzweiflung anheim gefallen, wenn derartige Verheißungen es nicht aufgerichtet hätten. Die Juden sollten also die Hoffnung auf Freiheit haben und sollten selbst im Tode das Leben schauen. Deshalb hat der Prophet ihnen dieses Lied gesungen, bevor noch jene Heimsuchung hereinbrach. Sie sollten dann imstande sein, dieselbe zu ertragen und auf bessere Zeiten zu hoffen. Das Lied wurde ihnen, wie ich glaube, nicht dazu allein gegeben, dass sie nach ihrer Befreiung mit demselben ihren Dank zum Ausdruck brächten, sondern auch dazu, dass sie in der Verbannung selber, obschon sie da wie tot waren, ihre Herzen stärkten im Vertrauen auf solche Verheißungen. Ihre Kinder sollten sie in solcher Hoffnung erziehen und diese Verheißungen von Geschlecht zu Geschlecht überliefern. Wenn sie auch in Babylon trauerten und der Trauer fast erlagen (daher auch Ps. 137, 4 jene Frage: Wie sollen wir des Herrn Lied singen in fremden Landen?), so sollten sie dennoch die Hoffnung festhalten, dass sie einst nach Judäa zurückkehren, dem Herrn danken und ihn preisen würden. Daher zeigt ihnen der Prophet den Tag der Freiheit in der Ferne, damit sie sich in seiner Erwartung stärkten.
Wir haben eine feste Stadt. Mit diesen Worten wird die vollständige Wiederaufrichtung Jerusalems und des Volkes verheißen. Gott wird einst nicht nur die Gefangenen erlösen und die Zerstreuten sammeln, sondern dieselben nach ihrer Rückkehr in die Heimat auch wieder zu ihrer alten Kraft und Macht bringen. Nicht lange nach dieser Verheißung sahen die Gläubigen Jerusalem zerstört und den Tempel geschleift. Und als sie später aus der Verbannung zurückkehrten, fanden sie nichts als traurige Trümmer. So hatte Jesaja es ja im Voraus geweissagt. Von der hohen Warte des Glaubens also sollten sie die Erneuerung Jerusalems schauen.
Heil setzte er zu Mauern und Wehren. Diese Übersetzung ziehe ich der anderen vor: „Mauern und Wehre sind Heil.“ Gottes Heil nämlich ist Jerusalems Mauer und Wehr. Der Prophet setzt auseinander, welcher Art die Festigkeit der Stadt sein wird; an Stelle der Mauern, Türme, Gräben und Dämme wird das Heil Gottes treten. Er will sagen: andere Städte bauen ihre Befestigungswerke, Gott allein wird eure Burg und Feste sein. So heißt es auch im Psalm (63, 4): „Deine Güte ist besser, denn Leben“. Wie dort David rühmt, dass er unter dem Schatten der Flügel Gottes sicherer und ruhiger wohne, als hinter allen möglichen menschlichen Befestigungswerken, so sagt hier Jesaja, da sei die rechte Sicherheit, wo Gott für sein Volk zu dessen Schutz Partei ergriffen habe. Da diese Verheißung sich auf das ganze Erlösungswerk bezieht, so müssen wir auch heute daran festhalten, dass Gott der Schutz seiner Kirche ist, und sein kräftiger Schutz gilt mehr, als wenn sie mit allerlei äußern Machtmitteln ausgerüstet wäre. Wollen wir daher sicher ruhen, dann müssen wir in der Kirche Gottes ausharren. Wenn wir auch keine äußeren Schutzmittel haben, so sollen wir doch lernen, uns zu bescheiden mit dem Schutz und dem festen, sichern Heil des Herrn, die mehr wert sind, als alle irdischen Schutzmittel.
V. 2. Tut die Tore auf. Ohne Zweifel wurde dies prophetische Lied, als es Jesaja bekannt machte, von vielen verachtet. Zu Lebzeiten des Propheten war Jerusalem von gottlosen Frevlern bewohnt; die Frommen waren selten. Als sie aber nach seinem Tode für ihre Gottlosigkeit ihre Strafe empfingen, erschien ihnen diese Weissagung doch nicht so ganz nichts sagend. So lange die Gottlosen im Glücke leben, fürchten sie nichts und meinen, sie könnten nicht gestürzt werden. So wähnten die Juden, sie würden niemals aus Judäa vertrieben und in die Verbannung geführt werden; sie glaubten dort für ewig einen festen Sitz zu haben. Darum musste ihnen der Grund zu frechem Übermut genommen werden. Darauf zielen des Propheten Worte, die Einwohner der erneuerten Stadt würden von den früheren ganz verschieden sein, weil sie Gerechtigkeit und Glauben lieben und pflegen. Übrigens konnte damals auch diese Verheißung wie ein Scherz erscheinen. Denn wenn die Bewohner Jerusalems vertrieben und in die Knechtschaft geführt waren, blieb doch kein Trost mehr übrig. Der Tempel zerstört, die Stadt geschleift, alles auf den Kopf gestellt und vernichtet – da konnten sie wohl einwerfen: Wo sind denn jene Tore, die auf des Propheten Befehl geöffnet werden sollen? Wo ist das Volk, das hineingehen soll? Jedoch wir wissen, dass es erfüllt wurde und dass keine Weissagung vom Herrn unerfüllt geblieben ist.
Dass herein gehe das gerechte Volk. Mit diesen Worten weist der Prophet auf den Erfolg jener Züchtigung hin. Wenn die Gemeinde Gottes von ihrem Schmutz gereinigt ist, wird Heiligkeit und Gerechtigkeit reiner hervor leuchten. Damals wog die Menge der Gottlosen vor; der Guten waren nur sehr wenige, sie wurden von den andern niedergehalten. Jene Menge musste also hinweg getan werden, welche keine Gottesfurcht und keine heilige Scheu kannte, damit der Herr einen heiligen Rest sammeln könnte. Jerusalem, welches durch die Gottlosigkeit seiner Bürger befleckt war, wurde wieder in Wahrheit dem Herrn geweiht und so jenem Untergang wieder entrissen. Es hätte aber nicht genügt, wenn es nur seine frühere Stellung wiedererlangt hätte; ein neues Leben in Gerechtigkeit und Heiligkeit musste in ihm glänzen. Der Prophet verkündigt Gottes Gnade, er ermahnt aber auch das erlöste Volk zu einem neuen, heiligen Leben. In Summa: der Prophet weist darauf hin, dass den Heuchlern die Verheißungen nichts nützen, dass nicht ihnen, sondern den Heiligen und Gerechten die Tore geöffnet werden. Sicherlich ist die Gemeinde Gottes immer einer Tenne ähnlich gewesen, auf der Weizen mit Spreu vermengt ist, ja der Weizen von der Spreu überschüttet wird. Ohne jeden Zweifel war jedoch nach der Rückkehr der Juden in ihr Vaterland die Kirche Gottes reiner, denn zuvor. Denn die Zurückkehrenden mussten doch von einem guten Geist getrieben werden, dass sie einen so weiten Weg mit soviel Mühen, Schwierigkeiten und Gefahren unternahmen, während viele andere lieber in der Verbannung bleiben, als zurückkehren wollten. Die Letzteren gingen dabei von der Ansicht aus, die in Babylon Zurückbleibenden wären in einer sichereren und ruhigeren Lage, wie die nach Judäa Zurückkehrenden. In jenen musste also ein Same von Frömmigkeit vorhanden sein, der sie antrieb, die einst ihren Vätern gegebene Verheißung im Glauben zu erfassen. So verhielt es sich auch. Obwohl damals die Kirche viele Schäden aufwies, war doch ein heiliger Rest vorhanden, der unter Gottes Strafruten sich gebessert hatte.
Das den Glauben bewahret. Einige Ausleger machen hier den Unterschied, dass sie in dem Ausdruck „das gerechte Volk“ das Wort „gerecht“ auf Gott beziehen, gerecht vor Gott; der Glaube oder die Treue aber, die es bewahrt, richte sich auf die Menschen. Ich fasse die Worte einfacher. Nachdem der Prophet das Volk ein gerechtes genannt hat, zeigt er, worin diese Gerechtigkeit besteht, nämlich in der Rechtbeschaffenheit eines Herzens, das keinen Schein und keine Heuchelei kennt. Nichts steht der Gerechtigkeit mehr entgegen als Heuchelei. Zwar ist niemand je so weit gekommen, dass bei ihm von einer vollkommenen Gerechtigkeit die Rede sein könnte. Aber dennoch dürfen Kinder Gottes, welche von ganzem Herzen zu dieser Gerechtigkeit zu gelangen suchen, Bewahrer derselben genannt werden. Auch die Auslegung lässt sich hören, hier werde die wahre Art der Gerechtigkeit aufgezeigt, dass dieselbe nämlich da ist, wo Menschen frei von Trug und böser List aufrichtig und wahrhaftig gegeneinander handeln. Wenn aber jemand hieraus ein menschliches Verdienst ableiten will, so kann man dem leicht entgegen treten. Denn der Prophet redet hier nicht von dem Grund unseres Heils, auch nicht davon, wie die Menschen von Natur sind, sondern davon, wie Gott sie durch seine Gnade macht und wie er die Glieder seiner Kirche haben will. Er macht aus Wölfen Lämmer, wie wir früher (11, 6) hörten. Solange wir aber auf Erden leben, sind wir von der Vollkommenheit weit entfernt und befinden uns in einem beständigen Werden. Der Herr beurteilt uns jedoch nach dem, was er in uns angefangen hat, und da er uns einmal in ein Leben der Gerechtigkeit eingeführt hat, hält er uns auch für gerecht. Sobald er angefangen hat, uns von unserer Heuchelei frei zu machen und uns zu bessern, nennt er uns auch wahrhaftig und gerecht.
V. 3. Du erhältst stets Frieden nach gewisser Zusage; denn man verlässet sich auf dich. Einige übersetzen so: Du erhältst stets Frieden dem, der sich auf dich verlässt, - als wollte der Prophet sagen: Menschen, die mitten im Getriebe der Welt im Vertrauen auf Gott fest bleiben, werden allezeit sicher sein. Andere übersetzen: Du erhältst Frieden dem festen Sinn. Das kommt ungefähr auf dasselbe heraus. Diejenigen sollen nämlich bis an` s Ende glücklich bleiben, welche ihre Sinne und Gedanken fest auf Gott allein gerichtet haben. Denn Gott will nur dann ein Beschützer der Seinen sein, wenn sie mit ganzem Herzen sich auf seine Gnade werfen und darin nicht wanken und schwanken. Aber auch die angenommene Übersetzung: Du erhältst stets Frieden nach gewisser Zusage – gibt einen guten Sinn. Der Sinn ist dieser: Auf Gottes gewisser Zusage, auf seinem ewigen und unveränderlichen Ratschluss ist der Friede der Kirche begründet. Das ist sehr wichtig, auf Gottes Ratschluss zu schauen, damit nicht unter den mannigfachen Erschütterungen der Welt fromme Herzen ins Wanken geraten. Freilich ist jenes richtig, dass wir fest auf Gott vertrauen müssen, wenn wir seine beständige Treue, mit der er uns schützt, erfahren wollen. Es ist wahr, dass das immer von den Gläubigen verlangt wird, damit sie nicht von einer ungewissen, zweifelsüchtigen Unentschlossenheit hin und her geworfen werden, sondern fest an Gott hangen. Doch tritt hier der Sinn leichter zu Tage und der ganze Zusammenhang wird mehr gewahrt, wenn wir übersetzen: Es ist Gottes fester und unverletzlicher Ratschluss, es ist seine gewisse Zusage, dass die einen ewigen Frieden genießen sollen, die auf ihn hoffen. Denn wenn man übersetzen wollte: Du erhältst Frieden der Gewissheit der Frommen, d. h. ihrer Festigkeit im Glauben und Vertrauen, dann wäre der Zusatz überflüssig: denn man verlässt sich auf dich. Zudem wäre die Ausdrucksweise hart: du erhältst Frieden der Gewissheit oder dem festen Sinn. So passt am Besten die Auslegung: Wenn wir auf Gott uns verlassen, dann wird er niemals unsere Hoffnung täuschen, weil er beschlossen hat und es seine gewisse Zusage ist, uns mit ewigem Schutz und Frieden zu umgeben. Das Heil der Kirche ist also nicht abhängig von der Weltlage, es wankt und schwankt nicht hin und her entsprechend den mancherlei Erschütterungen, die Tag für Tag eintreten. Vielmehr weil es auf Gottes Rat und Zusage gegründet ist, so ruht es auf einer sichern, zuverlässigen Stütze; niemals kann es hinfallen. – Nach meinem Dafürhalten besteht hier auch ein stillschweigender Gegensatz zwischen Gottes festen Gedanken und Zusagen und unsern schwankenden, irrenden Gedanken. Uns überrascht fast jeden Augenblick irgendetwas Neues, was unsere Gedankenwelt hierhin und dorthin wirft; eine Veränderung mag noch so leicht sein, sie bringt uns doch irgendwie in Zweifel hinein. Darum müssen wir das festhalten: Wir handeln töricht, wenn wir an Gottes unabänderlichen Ratschluss unsere flüchtigen, veränderlichen Gedanken als Maßstab anlegen. So heißt es: (55, 9): „So viel der Himmel höher ist denn die Erde, so sind auch meine Wege höher, denn eure Wege und meine Gedanken höher, denn eure Gedanken.“ Darum tut es Not, darauf hinzuweisen, dass unser Heil keiner Veränderlichkeit unterworfen ist, weil Gottes Gedanken nicht veränderlich sind. – Unter „Frieden“ verstehe ich nicht allein die Ruhe der Seele, sondern alle Seiten eines glücklichen Lebens. Der Prophet will sagen: Nur in Gottes Gnade liegt die Quelle zu einem glücklichen, seligen Leben.
V. 4. Verlasset euch auf den Herrn ewiglich; denn Gott der Herr ist ein Fels ewiglich. Die doppelte Bezeichnung „Gott der Herr“ ist mit Bedacht gewählt, um Gottes Macht umso stärker hervorzuheben. Der Prophet ermahnt das Volk, Gott fest zu vertrauen. Nachdem eine Belehrung vorangegangen ist, ist nun eine Ermahnung am Platze. Dass unser Friede in Gottes Hand ruhet, dass er für uns der treue Hüter dieses Friedens ist, das wäre umsonst geredet, wenn wir nach solcher Belehrung uns nicht von einer ernsten Ermahnung bestimmen ließen. Der Prophet regt uns aber nicht einfach zu einer getrosten Hoffnung an, sondern will uns bewegen, in ihr auszuharren ewiglich. Das geht vor allem die Gläubigen an, die schon gelernt haben, was das heißt: auf den Herrn hoffen. Sie sind noch schwach und in Folge der mannigfachen Versuchungen zum Zweifel, mit denen sie zu kämpfen haben, können sie öfters fallen. So bedürfen sie der Stärkung. Darum gebietet er nicht einfach, dass sie auf den Herrn vertrauen, sondern sie sollen in dieser Hoffnung und in diesem Vertrauen fest bleiben bis ans Ende. Zu beachten ist auch der Grund dafür. Weil nämlich Gottes Macht, der Fels des Glaubens, ewig ist, darum soll auch der Glaube und das Vertrauen von gleicher Dauer sein. Wenn der Prophet von Gottes Kraft und Macht redet, so meint er damit nicht eine müßige, sondern eine tätige Macht, welche an uns sich in der Tat wirksam erweist und das, was sie angefangen hat, auch zu Ende führt.
V. 5. Und er beuget die, so in der Höhe wohnen usw. Hier bringt der Prophet noch klarer zum Ausdruck, von welcher Macht Gottes er redet, von der nämlich, welche wir selbst erfahren und zwar zu unserm Besten. Diese beiden Verse hängen eng miteinander zusammen. Die Stolzen werden durch Gottes Macht zu Boden geworfen, die Niedrigen aber und Verstoßenen, die Armen und Geringen, werden an ihre Stelle erhoben. Zum vollen Troste hätte es nicht genügt, was er zuerst sagt: die Stolzen, so in der Höhe wohnen, sollen gebeugt und gedemütigt werden; er musste hinzufügen: die Demütigen, die Armen und Geringen sollen erhoben werden, dass sie über die Stolzen herrschen. So erfahren wir, dass Gott wirksam handelt zu unserm Heil; das gibt uns Grund zur Hoffnung.
Mit dem Wort „Höhe“ – so in der Höhe wohnen – bezeichnet der Prophet sowohl Befestigungen aller Art – die Alten pflegten ihre Städte auf erhöhten Plätzen zu erbauen, - wie auch im Allgemeinen Glanz und Macht. Er will also sagen: Kein Schutzmittel kann Gott hindern, die Gottlosen zu Boden zu werfen. Befestigungswerke, Türme u. dergl. sind gewiss an sich dem Herrn nicht missliebig, aber da hoch stehende, mächtige Leute selten ohne Stolz sind, so setzt der Prophet für Stolz das Wort „Höhe“. Ohne Zweifel redet er hier von Gottlosen. Diese halten sich, da ihnen Verteidigungsmittel, Macht und Geld reichlich zu Gebote stehen, selbst Gott gegenüber für gesichert. Darum tröstet der Prophet die Juden. Durch Babels unbesiegbare Macht hätten sie in Schrecken versetzt und in Verzweiflung gestürzt werden können, wenn nicht der Prophet sie aufgerichtet hätte durch die Verheißung: Ihr habt keinen Grund, vor der Macht und Größe Babylons zu zittern, denn es wird schnell stürzen; der Macht des Herrn wird es nicht widerstehen.
V. 7. Aber der Gerechten Weg ist schlicht. Diese Worte enthalten kein Lob der Frommen und ihrer Gerechtigkeit, wie etliche fälschlich angenommen haben. Der Prophet zeigt vielmehr, dass die Frommen unter Gottes Segen in ihrem ganzen Leben glückliche und erwünschte Erfolge haben. Nachdem er im ersten Teil des Verses nur kurz sagt, der Weg der Gerechten sei schlicht, weit und geebnet, drückt er sich im zweiten Teil genauer aus und schreibt es der Gnade Gottes zu, dass die Gerechten auf ihrem Lebenswege wie auf einer offenen, ebenen Bahn zum Ziele gelangen.
Den Steig der Gerechten machst du richtig. Das hebräische Wort für „richtig“ kann sowohl auf Gott, wie auf den Steig bezogen werden. Darum übersetzen auch einige Ausleger: Du, o Gott, der du recht bist und richtig handelst, lenkst den Weg, den Steig der Gerechten. Eine Anspielung darauf, dass die rechten Wege, von denen er spricht, von Gott ausgehen, weil er allein recht ist, könnte man schon annehmen. Doch scheint mir die andere Auslegung weniger gezwungen. In der Hauptsache aber verheißt der Prophet, dass die Gerechten ein Gegenstand der Fürsorge Gottes sein sollen, dass sie von seiner Hand geleitet werden. In dieser Welt scheint alles ohne Sinn und Verstand herzugehen, da es den Gottlosen gut geht, die Gerechten aber unterdrückt werden. Obwohl die heilige Schrift es so oft predigt und bekräftigt, dass die letzteren unter Gottes Fürsorge stehen, so wird es uns doch schwer, dies festzuhalten; wir werden immer wieder schwankend, weil ihnen alles zum Unheil ausschlägt. Dennoch ist es wahr, dass auf Gottes Wage die Wege der Gerechten ausgeglichen und geebnet werden, wie schwer und rau sie auch erscheinen. Er hat ihre Hut den Engeln anbefohlen, dass dieselben sie auf ihren Händen tragen und sie ihren Fuß nicht an einen Stein stoßen; sonst würden sie leicht fallen, gleiten und ermatten. Aus all den Dornen und Disteln, aus all den rauen, steilen, verworrenen, krummen Wegen gäbe es für sie gar keinen Ausweg, wenn der Herr sie nicht herausführte und frei machte. Darum sollen wir uns dem Herrn befehlen und ihm als unserm Führer folgen, dann werden wir sicher geführet. Mögen uns auch der Teufel und die Gottlosen mit ihrem Lug und Trug und ihrer List umschleichen und zahllose Gefahren uns umgeben, wir werden immer entrinnen können. Wir werden es erfahren, was hier der Prophet sagt, dass unser Weg schlicht und richtig ist: auch wenn er an tiefen Abgründen dahinführt, - unsern Lauf wird nichts hindern. Und in der Tat lehrt die Erfahrung: Wenn wir uns nicht von Gott leiten lassen, dann ist in unwegsamem Lande unser Mühen umsonst; kaum einen Schritt vermögen wir zu tun, so schwach sind wir; auch an dem geringsten Hindernis bleiben wir hängen. Der Satan und die Gottlosen verwickeln uns nicht nur in mancherlei Widerwärtigkeiten und halten uns dadurch auf, sie stellen uns nicht nur geringfügige Schwierigkeiten entgegen, sondern sie führen uns bald an steile Höhen, bald an tiefe Abgründe, die zu überwinden die ganze Welt nicht stark genug ist. Wir müssen also erkennen, wie nötig uns die göttliche Leitung ist, und müssen mit einem Jeremia (10, 23) bekennen: „Ich weiß, Herr, dass des Menschen Tun stehet nicht in seiner Gewalt und stehet in niemandes Macht, wie er wandle oder seinen Gang richte“. Lasst uns darum nicht in eitlem Vertrauen uns erheben, als hätten wir den Erfolg in unserer Hand! Wir wollen auch nicht, wie Jakobus (4, 13) warnt, in eine Ruhmredigkeit verfallen, die da glaubt, dies oder das tun zu können. So pflegen wohl Handelsleute zu reden, als ob sie alles nach ihrem Willen einrichten könnten, obwohl es doch, wie der weise Salomo (Spr. 16, 1) sagt, bei uns nicht einmal steht, was die Zunge reden soll. Umsonst nehmen sich die Menschen etwas vor, überlegen und beschließen über ihre Wege, wenn Gott nicht seine Hand dazu bietet. Er bietet sie aber den Gerechten dar und sorgt für sie in ganz besonderer Weise. Zwar erstreckt sich Gottes Vorsehung auf alle Kreaturen, sintemal er auch den jungen Raben und Sperlingen, ja auch den geringsten Tieren ihre Notdurft darreicht. Von väterlicher Fürsorge aber ist er nur für die Frommen erfüllt; er reißt sie heraus aus Gefahren und Schwierigkeiten.
V. 8. Denn wir warten auf dich, Herr. Dieser Vers enthält eine sehr gute Lehre, ohne die alles andere umsonst gesagt erscheinen könnte. Denn wenn der Prophet davon redet, dass Gott im ganzen Leben unser Führer sein will, damit wir niemals irren und anstoßen, - und wenn wir doch dabei von so vielen Ängsten bedrängt werden, dann könnten wir nach der ganzen Sachlage zu dem Urteil kommen, jene Verheißungen seien unwahr. Wenn Gott also unsere Geduld auf die Probe stellt, gilt` s zu ringen und zu kämpfen; nichtsdestoweniger aber müssen wir auf ihn unsere Hoffnung setzen. Wenn auch nicht immer ein lieblicher Weg uns entgegenlacht, wenn auch unsern Füßen kein leichter Pfad geebnet ist, wenn wir vielmehr auf vielen, rauen Gängen seufzen müssen, so sollen wir trotzdem der Hoffnung und Geduld Raum geben.
Im Wege deiner Rechte. Der Prophet denkt dabei an schwere Wege, an Gerichtswege Gottes. Der Unterschied zwischen Frommen und Heuchlern besteht darin: die letzteren danken Gott und reden herrlich von ihm, wenn sie im Glück sitzen; im Unglück aber murren sie, ja schmähen Gott und zeigen offen, dass sie zu ihm kein Vertrauen haben. Sie beurteilen Gott nur nach der Lage, in der sie sich gerade befinden. Dagegen lassen sich die Frommen, wenn sie von mancherlei schweren Heimsuchungen bedrückt werden, nur immer mehr zum Vertrauen antreiben. Ein Kennzeichen wahrer Frömmigkeit ist es, dass wir nicht nur, wenn Gott uns mit seiner Güte begleitet, sondern auch dann auf ihn unsere Hoffnung und unser Vertrauen setzen, wenn er sein Angesicht vor uns verbirgt, uns züchtigt und lauter Beweise seines grimmigen Zornes gibt. Das sollen wir beherzigen, so oft uns die Leiden dieser Zeit bedrücken; auch in den verzweifeltsten Lagen sollen wir nicht ablassen, auf Gott zu hoffen, wie David im 23. Psalm sagt: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir“.
Des Herzens Lust stehet zu deinem Namen. Der Prophet will zeigen, woher jene unversiegbare Freudigkeit der Frommen kommt, mit der sie auch schweren Prüfungen nicht erliegen. Der Grund dafür liegt darin, dass sie, von irdischen Wünschen wie von übergroßer Furcht frei, anhaltend zu Gott seufzen. Unsere Gefühle gehen wirr durcheinander, und unsere Sorgen halten uns an die Erde gebannt. Darum irren unsere Herzen entweder unstet umher oder liegen feige am Boden, anstatt freudig zu Gott sich zu erheben. Da nun das Wesen Gottes uns verborgen ist, so kommt` s, dass wir nur so überaus lässig ihn suchen. Daher weist uns der Prophet von dem verborgenen und unbegreiflichen Wesen Gottes weg auf seinen Namen; wir sollen mit seiner Offenbarung, wie sie in seinem Worte uns entgegentritt, zufrieden sein. In diesem offenbart uns Gott, soweit es und dienlich ist, seine Gerechtigkeit, seine Weisheit, seine Güte und damit sein Wesen.
Und deinem Gedächtnis. Nicht umsonst hat der Prophet dies hinzugefügt. Damit deutet er darauf hin, dass ein einmaliges Eingreifen Gottes und ein einmaliges Gedenken an ihn nicht genügt, sondern dass ein andauerndes Gedenken nötig ist, weil ohne dasselbe bald das Licht jeder Erkenntnis zu erblassen beginnt. Eine wahre, ernstliche Erkenntnis Gottes entfacht in der Tat in uns das Verlangen nach ihm. Die Erkenntnis Gottes ist also das erste; dann aber müssen wir auch fleißig seiner gedenken. Es genügt nicht, einmal seiner gedacht zu haben, fortgesetzt müssen wir seiner gedenken. So wächst die Liebe zu ihm und das Verlangen nach ihm.
V. 9. Von Herzen begehre ich dein des Nachts. Hier bringt der Prophet das, was er vorher gesagt hat, noch deutlicher zum Ausdruck. Vorher hat er im Namen aller Frommen davon gesprochen, wie die Sehnsucht des Herzens auf Gott gehe. Nun fügt er noch persönlich hinzu: „Meine Seele begehrt“ oder „von Herzen begehre ich.“ Er will sagen: Alle Fähigkeiten meines Herzens habe ich darauf gerichtet, dass ich deinen Namen suche. Dabei spricht der Prophet nicht bloß von seinem Herzen, sondern auch von seinem Geist. Ich unterscheide diese Ausdrücke so, dass er mit „Herz“ das Gefühl oder den Willen bezeichnet, mit „Geist“ die Erkenntnis. Sind doch, wie wir wissen, Erkenntnis und Wille die Hauptfähigkeiten der menschlichen Seele. Beides nimmt Gott mit Recht für sich in Anspruch, was auch jenes Wort besagt: „Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von allen deinen Kräften.“ Der Prophet zeigt also, wie er alle Kräfte und Fähigkeiten seiner Seele darauf richte, Gott zu suchen und ihm anzuhangen. Andere verstehen unter „Geist“ den durch Gottes Gnade wiedergeborenen Menschen, während sie unter „Herz“ die Art des natürlichen Menschen verstehen. Diese Auslegung lässt sich aber nicht halten, denn der natürliche Mensch fragt niemals nach Gott. Wir erfahren es ja, wie unser natürlicher Mensch wider uns ist, wenn wir zu Gott seufzen, und wie schwer es ist, aus diesem Widerstreit herauszukommen.
Dass der Prophet des Nachts sich nach Gott ausstreckt, könnte in dem Sinne verstanden werden, wie die heilige Schrift oft Unglück und Heimsuchung mit der Nacht und Finsternis vergleicht. Ich finde in diesen Worten jedoch lieber einen etwas anderen Gedanken: keine Zeit ist so ungünstig und unpassend, dass ich dich nicht anriefe und suchte. Diese Auslegung ist von der ersteren allerdings nicht so sehr verschieden, aber sie ist doch wesentlich allgemeiner gehalten. Die Nacht ist für die Ruhe bestimmt, in ihr hört alles Begehren der Menschen auf. Ein Schlafender unterscheidet sich nur wenig von einem Toten. Dann also, wenn die Zeit der Ruhe und der Muße da ist, dann, sagt der Prophet, wache ich, um Gott zu suchen; keine Gelegenheit lasse ich unbenützt. Er meint das nicht so, wie wenn Schlafende mit irgendeinem Gedanken im Schlafe sich beschäftigen, sondern so, dass auch die Zeit des Schlafs, wenn wir Gott suchen, zu diesem Suchen benutzt wird. Mögen wir noch so sehr von Schlaf und Schweigen umfangen sein, dennoch loben wir Gott durch Hoffen und Vertrauen. Aber der Prophet denkt bei seinen Worten nicht eigentlich an den Schlaf; er redet ja im Bilde. Das geht aus den nächsten Worten deutlich hervor, wo der Nacht die Frühe gegenübergestellt wird: dazu wache ich frühe zu dir. Damit wird also auf das fortgesetzte Suchen und Fragen nach Gott hingewiesen.
Denn wo dein Recht im Lande gehet usw. Mit diesen Worten begründet der Prophet das Vorhergehende. Mit dem Recht, das im Lande gehet, meint er Gottes Gerichte. Er weist darauf hin, dass die Menschen durch Züchtigungen zur Gottesfurcht erzogen werden. Im Glück vergessen sie seiner; sie jauchzen und sind ausgelassen und lassen sich nicht zur Ordnung bringen. Darum zügelt der Herr ihren Übermut und erzieht sie zum Gehorsam. Gott muss mit ausgereckter Hand sein Recht in Anspruch nehmen; aus sich selbst gehorcht ihm niemand.
V. 10. Aber wenn den Gottlosen Gnade widerfährt usw. Dieser Vers steht zu dem vorhergehenden in Gegensatz. Der Prophet hatte gesagt: Die Frommen ruhen, auch wenn sie gezüchtigt werden oder andere gezüchtigt sehen, in der Liebe Gottes und hoffen auf ihn. Nun zeigt er im Gegensatz dazu: Die Gottlosen können nicht dazu gebracht werden, Gott zu lieben, obwohl er mit allen möglichen Wohltaten sie anzulocken und an sich zu ketten sucht; was auch immer der Herr ihnen erweisen mag, sie werden nicht besser. Auf den ersten Blick scheint allerdings dieser Vers dem vorhergehenden direkt zu widersprechen. Dort hieß es: Wo dein Recht im Lande gehet, d. h. wo Gott seine Gerichte vollzieht, sich als Richter offenbart und der Menschen Freveltaten straft, da lernen die Bewohner des Erdbodens Gerechtigkeit. Hier aber sagt der Prophet: Auf keine Weise sind die Gottlosen dazu zu bringen, Gott zu ehren; durch Züchtigungen lassen sie sich nicht bessern, und durch Wohltaten werden sie sogar noch schlimmer. In der Tat fruchten Züchtigungen nicht bei allen Menschen; die Gottlosen lernen durch sie nichts. Das sehen wir an Pharao, der durch Schläge und Heimsuchungen nur noch verstockter wurde. Aber wenn auch der Prophet im vorhergehenden Verse von den Bewohnern des Erdbodens geredet hat, so hat er doch damit eigentlich nur Gottes Auserwählte gemeint, er müsste denn etwa an jene Frucht der Züchtigungen gedacht haben, wie sie zuweilen auch bei gewissen Heuchlern sich zeigt, die von einer erzwungenen Scheu vor Gott erfüllt und von der Furcht vor Strafe im Zaume gehalten werden. Da aber der Prophet zugleich von aufrichtiger Buße redet, so versteht er unter den Bewohnern des Erdbodens nur die Kinder Gottes.
Sondern tun nur übel im richtigen Lande. Mit diesen Worten bringt der Prophet noch mehr zum Ausdruck, wie schändlich der Undank der Gottlosen ist. Es ist schon schlimm genug, dass sie Gottes Wohltaten missbrauchen und durch sie noch verkehrter werden; aber das ist doch der Gipfel der Gottlosigkeit, dass sie übel tun im richtigen Lande, in einem Lande, das der Herr sich geheiligt hat. Der Prophet meint mit diesem Lande Judäa; doch können diese Worte auch auf andere Länder, in denen jetzt Gott geehrt wird, bezogen werden. Damals allerdings konnte Jesaja das nur von Judäa sagen, da es anderswo keine rechte Gotteserkenntnis gab. Judäa nennt er das richtige Land, weil dort Gottes Gesetz in Kraft und jenes Volk von Gott auserwählt war. Da aber der Herr heutzutage allenthalben sein Reich ausgebreitet hat, so ist überall da richtiges Land, wo sein Name angerufen wird. Darum sind wir doppelt verdammenswert, wenn wir nicht unsere Dankbarkeit für so viel reiche Wohltaten durch Pflege der Frömmigkeit und durch Gutes tun bezeugen.
Denn sie sehen des Herrn Herrlichkeit nicht. Das verringert keineswegs die Schuld der Gottlosen, sondern verschlimmert sie noch viel mehr. Denn es ist eine schändliche, beschämende Stumpfheit, Gottes Herrlichkeit, die uns offen vor Augen liegt, nicht zu bemerken. Umso weniger sind die Gottlosen zu entschuldigen; weil sie, obschon der Herr seinen Namen auf mannigfache Weise kundtut, dennoch mitten im klarsten Lichte blind sind. Niemals mangelt es an Zeugnissen, durch welche der Herr seine Größe und Herrlichkeit sichtbar macht. Aber nur wenige beachten sie, wie wir im 15. Kapitel sahen. Übrigens offenbart der Herr seine Herrlichkeit nicht nur durch die an bestimmte Gesetze gebundenen Werke der Natur, sondern auch durch gewisse wunderbare Zeichen und Erweisungen, durch welche er uns über seine Güte, Gerechtigkeit und Weisheit in reichem Maße belehrt. Die Gottlosen schließen demgegenüber die Augen und sehen nichts, obwohl sie in eitlen Dingen sehr scharfsichtig sind. Diese Verkehrtheit hebt hier der Prophet klar hervor und tadelt dieselbe. Andere Ausleger meinen, er drohe hier den Gottlosen; sie seien dieses Anblicks der Werke Gottes nicht wert. Letzteres ist zwar richtig, doch weist der Zusammenhang darauf hin, dass die Stumpfheit derer getadelt werden soll, welche auf Gottes Werke nicht achten, sondern angesichts derselben immer mehr sich abstumpfen. Auch heutzutage darf man sich nicht wundern, wenn so wenig Leute Buße tun, obwohl sehr viele Beweise der Gerechtigkeit Gottes vorhanden sind. Denn für die Betrachtung der Werke Gottes ist der Unglaube immer blind.
V. 11. Herr, deine Hand ist erhöhet, das sehen sie nicht. Dieser Vers enthält noch eine weitere Ausführung des vorher Gesagten. Der Prophet bringt nichts Neues vor, sondern stellt nur noch deutlicher heraus, was er mit kurzen Worten vorher angedeutet hat. Vorher sagte er: die Gottlosen sehen des Herrn Herrlichkeit nicht. Hier setzt er es auseinander, was für eine Herrlichkeit das ist, die nämlich, welche in den Werken Gottes zutage tritt. Der Prophet weist uns nicht auf die verborgene Herrlichkeit hin, die wir nicht sehen können, sondern stellt uns Gottes Werke vor Augen, welche er hier bildlich mit dem Ausdruck „Deine Hand“ bezeichnet. Dabei klagt er wiederum die Gottlosen an, die nicht Unkenntnis vorwenden und mit ihr sich nicht entschuldigen können. Denn wenn sie auch nichts erkennen, Gottes Hand ist doch sichtbar. Dass sie dieselbe nicht erkennen, daran ist nur ihre eigne Undankbarkeit und Stumpfheit schuld. Es könnten ja viele Unkenntnis vorschützen und behaupten, ihnen seien diese Werke nicht offenbar. Der Prophet sagt aber, des Herrn Hand sei erhöhet, nicht etwa nur ausgestreckt. Darum sei sie nicht nur einigen wenigen sichtbar, sondern sie leuchte allen weithin.
Wenn sie aber sehen werden den Eifer um dein Volk, so werden sie zuschanden werden. Deutlich zeigt der Prophet, dass dieses Sehen ein anderes ist, als das, von welchem er vorher sagte: die Gottlosen sehen nicht die Herrlichkeit Gottes. Sie sehen sie wohl, aber sie erkennen sie nicht als solche und beachten sie nicht. Zuletzt jedoch werden sie dieselbe erkennen, aber zu spät und zu ihrem großen Schaden. Lange haben sie Gottes Geduld missbraucht und sich hartnäckig und widerspenstig gezeigt, zuletzt aber werden sie gezwungen, Gottes Gerichte zu erkennen. So war es bei Kain, Esau und andern, die nur allzu spät ihre Freveltaten bereuten. Gott erweckt oft in seinen Verächtern ein quälendes Angstgefühl, durch das er ihnen seine Macht kundtut. Solche Erkenntnis hilft dann aber nichts mehr. Nachdem er also die Gottlosen der Blindheit beschuldigt und ihnen gezeigt hat, dass sie für ihre Unwissenheit gar keine Entschuldigung haben, richtet der Prophet an sie eine Drohung. Er kündet ihnen eine Zeit an, in der sie erkennen sollen, mit wem sie es zu tun hatten. Dann aber werden sie erfahren, dass sie nicht das Geringste mehr von dem Gott, den sie jetzt für eine Fabel halten und verachten, zu erhoffen haben. Sie schließen ihre Augen, lassen sich selbst die Zügel schießen, haben uns zum Spott und glauben nicht, dass Gott einst richten wird. Wir in unserm Jammer und Elend sind ihnen ein Schauspiel; verächtlich blicken sie auf uns herab und verhärten sich immer mehr und mehr. Einmal aber werden sie erkennen, dass die wahren Gottesverehrer nicht vergeblich sich abgemüht haben. Um darzulegen, dass der Anblick der Herrlichkeit Gottes dann für sie nicht nur ohne Nutzen, sondern vielmehr verderblich sein wird, sagt der Prophet: „Wenn sie aber sehen werden den Eifer um dein Volk, so werden sie zuschanden werden.“ Der Schluss des Verses bringt das Furchtbare der Strafe noch stärker zum Ausdruck. Die Gottlosen werden nicht nur von Neid entbrennen, wenn sie die Kinder Gottes jenen Mühsalen entrissen und zur Herrlichkeit erhoben sehen. Es wird noch etwas Anderes hinzukommen: Gott wird sie mit einem feindlichen Feuer verzehren. Darunter versteht der Prophet Gottes Strafgericht. Man darf dabei nicht an ein wirkliches, sichtbares Feuer denken, auch nicht etwa an feurige Blitze, sondern man muss in übertragenem Sinne an eine harte, quälende Strafe denken. Auch an manchen andern Stellen bezeichnet die heilige Schrift die schlimmste göttliche Strafe unter diesem Bilde. Solche schwere Strafe kann nicht ernst und eindringlich genug zum Ausdruck gebracht werden. Möglich, dass der Prophet auch auf den Untergang von Sodom und Gomorra anspielt.
V. 12. Aber uns, Herr, wirst du Frieden schaffen. Das soll den Frommen zum Troste gereichen. Der Prophet will sagen: Wir sehen, was für ein Ende die Gottlosen nehmen; du wirst sie aus der Gemeinschaft deiner Kinder verstoßen und wirst sie, wie Feinde, mit Feuer verzehren; wir aber werden glücklich sein. Du wirst Frieden schaffen – das soll so viel heißen als: du wirst dauernden Frieden aufrichten; in ununterbrochener Dauer wirst du uns den Frieden erhalten. Zwar haben auch wohl die Gottlosen Frieden, aber keinen dauernden. Unser Friede aber ruht in dem Herrn; in ihm hat er ein festes Fundament und hört nimmer auf. Unter „Frieden“ versteht der Prophet ein festes, sicheres Glück. Gottes Kinder allein, die in ihm ruhen, sind glückliche Leute. Das Leben der Gottlosen ist überaus jammervoll, mag es auch an Freuden und Genüssen Überfluss haben, und mag ihnen auch alles nach Wunsch gehen. Der Friede hat also seinen festen Grund allein in der Vaterliebe Gottes.
Denn alles, was wir ausrichten, das hast du uns gegeben. Der Prophet denkt dabei an alle Wohltaten, mit denen der Herr seine Gläubigen überschüttet. Manche haben diese Worte als Beweis gegen die Lehre vom freien Willen benutzt. Sie haben aber den Sinn des Propheten nicht erfasst. Wahr ist es freilich, dass Gott allein in uns das Gute wirkt und dass alles Recht-handeln des Menschen dem Geiste Gottes entspringt. Hier aber zeigt der Prophet einfach, dass wir alle gute Gaben, deren wir teilhaftig werden, aus Gottes Hand empfangen. Daraus zieht er den Schluss, dass Gottes Güte kein Ende hat, bis einst die vollkommene Seligkeit anhebt. Wenn übrigens der Geber aller guten Gaben ist, so müssen wir dabei vor allem an die höchsten und wichtigsten Gaben denken. Muss alles das, womit wir unser leibliches Leben schützen und erhalten, dem Herrn zugeschrieben werden, dann noch viel mehr das, was zum Heil unserer Seele dient. Wenn wir in geringen Dingen seine Güte erkennen, sollten wir sie dann nicht noch weit mehr in den größten und wichtigsten erkennen? Der Prophet scheint hier also die Frommen zu ermuntern, ihre Dankbarkeit zu bezeugen. Sie sollen Gottes Wohltaten preisen und dabei bekennen, dass sie alles, was sie besitzen, von ihm haben. Darin liegt nun eine nützliche Lehre. Die Frommen sollen nach den in der Vergangenheit empfangenen Wohltaten Gottes zukünftige Güte beurteilen und daraus schließen, dass sie auch in Zukunft ein Gegenstand seiner Fürsorge sein werden. Haben wir also Gottes Wohltaten erfahren, dann sollen wir auch für die Zukunft hoffen. Das haben alle Frommen getan und haben auf diese Weise ihren Glauben genährt. So David, wenn er sagt (Ps. 138, 8): „Das Werk deiner Hände wollest du nicht lassen.“ Ebenso Paulus: (Phil. 1, 6). „Der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird es auch vollführen bis an den Tag Jesu Christi.“ So Jakob (1. Mos. 32, 11. 13): „Ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und aller Treue, die du an deinem Knechte getan hast. Du hast gesagt: Ich will dir wohl tun“ usw. Gott ist nicht Menschen gleich, dass er im Wohltun müde werden und im Erweisen seiner Wohltaten sich erschöpfen könnte. Je mehr er uns mit Wohltaten überhäuft, umso mehr muss unsere Hoffnung sich befestigen und mehren.
V. 13. Herr, unser Gott, es herrschen wohl andere Herren über uns. Dieser Vers enthält der Frommen Klage über die Tyrannei der Gottlosen. Die Ausführungen dieses Kapitels haben ja den Zweck, die Herzen der Gläubigen aufzurichten. Sie sollten in harte Verbannung vertrieben werden aus dem Lande, das für sie ein Abbild ewigen Glückes war. Dort ohne Opfer, ohne Gottesdienste, fast ohne jeden Trost, unter das harte Joch der Babylonier geknechtet, aus dem Vaterlande vertrieben, mit Schimpf und schwerem Leid beladen, sollten sie ihre Seufzer um Erleichterung ihrer Lage zu Gott empor senden. Der Prophet redet also im Namen der Gläubigen, welche scheinbar von Gott verworfen waren. Diese hörten aber nicht auf, als das Volk Gottes sich zu bezeugen und auf ihn zu hoffen. Weil Gott sie in einzigartiger Weise zu Kindern angenommen hatte, so seufzten sie mit Recht über eine so gottlose Herrschaft, wie sie zu erdulden hatten. Freilich, wären sie selber nicht so gottlos gewesen, dann würde sie auch nicht ein so hartes Los getroffen haben, der Laune tyrannischer Feinde preisgegeben zu sein. Nicht mit Unrecht wurden die Juden der Tyrannei der Gottlosen unterworfen, weil sie dem Herrn, der sie so reichlich mit Segen überschüttet hatte, nicht hatten gehorchen wollen. Darum heißt es auch an einer ähnlichen Stelle des Propheten Hesekiel (20, 24 f.): „Darum dass sie meine Gebote nicht gehalten und meine Rechte verachtet und meine Sabbate entheiliget hatten und nach den Götzen ihrer Väter sahen, darum übergab ich sie in die Lehre, die nicht gut ist, und in Rechte, darin sie kein Leben haben konnten.“ Vorher hätten sie unter Gottes Segen glücklich und fröhlich leben können, wenn sie seinem Worte gehorcht hätten; nun aber droht ihnen der Prophet, sie würden den Tyrannen unterworfen werden und müssten auch wider Willen deren harten Befehlen gehorchen, und zwar ohne Lohn und Vorteil. Ein ähnliches Elend beklagt hier der Prophet Jesaja. Als der Herr über uns herrschte, will er sagen, wollten wir mit unserm Los nicht zufrieden sein; nun sind wir gezwungen, harte Tyrannei zu ertragen, und büßen für unsere Gottlosigkeit die verdienten Strafen.
Aber wir gedenken doch allein dein und deines Namens. Dieser zweite Teil des Verses steht zum ersten in einem gewissen Gegensatz. Der Sinn ist dieser: Obwohl gottlose Leute uns von deiner Herrschaft abziehen wollen, werden wir doch unter derselben ausharren in der Gewissheit, dein Eigentum zu sein. Doch kann man einen noch volleren Sinn herauslesen: Obwohl die äußere Erfahrung ihnen sagte, dass sie von Gott verlassen und Feinden zur Beute geworden waren, von denen sie grausam gequält wurden, so lassen die Juden doch nicht ab, sich ihres Gottes zu rühmen, dessen Nähe sie schauen. Die Erinnerung allein an seinen Namen hält sie aufrecht und stärkt ihre Hoffnung. So besteht ein sehr ausdrucksvoller Gegensatz zwischen dem Gedächtnis des Namens Gottes und dem augenblicklichen Verlassensein von seiner Gnade. Das ist ein Beweis eines seltenen Glaubens, wenn jemand sich fest an Gott hält, auch wenn dieser ferne ist. Hier wird allen Frommen reicher Trost dargeboten. Diejenigen werden niemals von Gott völlig verlassen, die in dem Gedächtnis seines Namens Trost genug finden. Sie müssen aber auch bezeugen, dass sie lieber zehnmal sterben wollen, als dass sie durch Entheiligung seines Namens von Gott abweichen. Einer, der aus Menschenfurcht abweicht, vermag gewiss niemals die Süßigkeit des Namens Gottes zu kosten. So lange wir darum den freien Genuss des Wortes Gottes haben, sollen wir uns fleißig in demselben üben, damit, wenn die Not es erfordert, wir gerüstet seien, und es dann zutage trete, dass wir in der Zeit der Ruhe nicht vergeblich um Gott uns bemüht haben.
V. 14. Die Toten werden nicht lebendig. Hier redet der Prophet wieder von dem unseligen Untergang der Gottlosen, deren Glück uns oft erregt und beunruhigt. Damit wir durch den Anblick unserer gegenwärtigen Lage nicht zu sehr betroffen werden, verkündet er, dass der Gottlosen Ausgang ein überaus trauriger sein wird. Einige Ausleger beziehen diesen Vers auf die Gläubigen, welche hinzusterben scheinen ohne Hoffnung auf Auferstehung. Aber es ist nicht im Geringsten zweifelhaft, dass der Prophet hier von den Gottlosen redet. Das wird noch klarer aus der gegensätzlichen Aussage des 19. Verses. Es besteht ein Unterschied zwischen der Auferstehung der Frommen und der Gottlosen. Diese sind zu einem ewigen Tode, jene zu einem ewigen, seligen Leben bestimmt. Der Gottlosen wartet aber nicht nur ein ewiger Tod, sondern was sie schon in dieser Welt erdulden, ist der Anfang ihres ewigen Todes; durch keinen Trost können sie hier aufgerichtet werden; sie fühlen es, dass Gott ihnen Feind ist.
Denn du hast sie heimgesucht und vertilget. Diese Worte geben die Ursache des hoffnungslosen Untergangs der Gottlosen an: Gottes Ratschluss ist es, sie zu verderben. Vom Zorne Gottes dürfen sie nichts als Tod und Verderben erwarten.
V. 15. Aber du, Herr, fährest fort unter den Heiden. Einige Ausleger übersetzen statt „unter den Heiden“ – „unter deinem Volk.“ Sie erklären die Worte folgendermaßen: Herr, du hast dein Volk mit mannigfachen Wohltaten überhäuft. Sie nehmen an, der Prophet erinnere an die Wohltaten, mit denen Gott in mannigfaltiger Weise sein Volk gesegnet hat, als wollte er sagen: Das Volk hat nicht nur einmal, sondern unendlich oft die Güte und Freigebigkeit des Herrn erfahren. Wenn ich aber die Schlussworte des Verses erwäge: du kommest ferne bis an der Welt Enden, d. h. du breitest dein zuvor eng begrenztes Reich aus, - dann möchte ich lieber die Übersetzung festhalten: „Du, Herr, fährest fort unter den Heiden“. Man kann auch jenen Gedanken mit diesem verbinden und sagen: Du, Herr, fährest fort, unter den Heiden deine Herrlichkeit zu beweisen, die du unter deinem Volk bewiesen hast. Gottes Herrlichkeit leuchtet am stärksten hervor aus dem Wachstum seiner Kirche. Dann würde der Prophet etwa sagen: „Früher hattest du ein kleines Volk, du hast es vermehrt und wachsen lassen.“ Heidenvölker wurden ja von Gott angenommen und mit den Juden verbunden, sodass aus ihnen ein Volk wurde. Eine ungeheure Zahl hat der Herr hinzugetan; aus allen Völkern wurden Kinder Abrahams berufen. Das alles bezieht sich aber zuletzt auf das Reich Christi. Denn die Verkündigung des Evangeliums von Christo Jesu hat sich über den ganzen Erdkreis ausgedehnt. Diese Ausbreitung rühmt der Prophet an dieser Stelle. Darauf zielen auch die letzten Worte des Verses. In ihnen wird die Berufung der Heiden verheißen; die Aussicht auf dieselbe musste die Frommen in jener Verbannung und jener jammervollen Zerstreuung der Kirche nicht wenig erquicken. Wie sehr sie sich auch in unbegreiflicher Weise heimgesucht und geschwächt sahen, so konnten sie nun doch davon überzeugt sein, sie würden so gemehrt werden, dass nicht nur ihre eigne Zahl ins Ungemessene steigen, sondern dass auch fremde heidnische Völker mit ihnen verbunden würden.
V. 16. Herr, wenn Trübsal da ist, so suchet man dich. Man könnte meinen, hier wäre von Heuchlern die Rede, welche, nur durch schwere Heimsuchungen gezwungen, zu Gott ihre Zuflucht nehmen. Aber der Herr erzieht doch auch die Gläubigen durch Züchtigungen. Darum will ich diese Worte lieber auf die Gläubigen beziehen. Diese sollen nicht nur erkennen, dass sie mit Recht von Gott gestraft werden; der Blick auf die Frucht der Züchtigung soll ihnen auch die Bitterkeit der Heimsuchung versüßen. Ferner sollen sie wachsen in der Furcht Gottes und in derselben täglich mehr und mehr fortschreiten. So oft daher die Frommen dieses Wort lesen, sollen sie sich sagen, dass sie in Elend und Heimsuchungen dem Herrn näher sind, als da sie im Glück lebten, in dem wir fast immer – das liegt in unserer verderbten Natur – uns allzu gern und allzu dreist erheben. Deshalb müssen wir durch Züchtigungen in Schranken gehalten werden. Solche Erwägung macht harte Strafen gelinder: wir werden vor denselben nicht mehr so sehr zurückschrecken, wenn wir erkennen, dass dieselben uns Segen bringen.
Wenn du sie züchtigst, so rufen sie ängstiglich. Man darf dabei nicht an ein regelrechtes Reden oder Rufen denken, sondern an das Reden und Seufzen eines von großen Schmerzen gequälten Herzens. Leute, die von banger Qual geängstigt werden, können eben kaum sprechen und die Gefühle ihres Herzens kaum zum Ausdruck bringen. Der Prophet denkt dabei also an eine aufrichtige, von jeder Heuchelei freie Anrufung Gottes. Zu einer solchen kommen die Menschen dann erst, wenn sie schwer heimgesucht werden und ihren Schmerz in tiefen Seufzern kundgeben. Im Glück nehmen die Menschen den Mund gern voll; vom Unglück niedergeworfen, wagen sie aber kaum zu atmen und bringen ihre Empfindungen mehr in abgebrochenen Seufzern, als in klaren Worten zum Ausdruck. Der Prophet redet hier also von den Frommen. Den Gottlosen mag ja auch der Schmerz gewisse Klagen auspressen; sie verhärten sich dabei aber immer mehr und werden nur schlimmer und verderbter.
V. 17. Gleichwie eine Schwangere usw. Der Prophet vergleicht die Gläubigen mit Gebärenden, die, wie wir wissen, die heftigsten Schmerzen zu ertragen haben. Auch die Qual der Gläubigen macht sich in lauten, heftigen Schmerzensrufen Luft. Der Prophet redet also nicht von einer Traurigkeit, die in äußeren, leiblichen Beschwerden und in äußeren Nöten ihren Grund hat; er hat vielmehr die furchtbare Qual im Auge, von welcher die Seelen der Frommen noch viel heftiger und schmerzlicher getroffen werden, wenn sie Gottes Zorn fühlen und ihr Gewissen sie anklagt. Das ist ein Leid, mit dessen Bitterkeit kein körperlicher Schmerz verglichen werden kann. Darauf deuten die Worte, dass es empfunden wird „vor deinem Angesicht“. Darnach (V. 18) geht der Prophet gar noch über die Grenzen seines Bildes hinaus: weil kein Ausgang der Leiden sich zeigt, ist die Lage der Frommen schlimmer, als die einer Gebärenden. Diese wird doch endlich von ihren Schmerzen erlöst; sie jauchzt vor Freude, wenn sie ihr Kindlein erblickt, und vergisst alle Schmerzen. Für die Frommen aber hört das Gebären gar nicht auf: immer neue Mühsale und Heimsuchungen stehen ihnen bevor. Wenn sie meinen, die Geburt trete ein, so erleben sie nichts anderes als Wehen: es ist, als hätten sie Wind geboren. Keine Befreiung oder wenigstens Erleichterung des Schmerzes will sich zeigen. Darauf deuten auch die Worte: wir können dem Lande nicht helfen.
Die Einwohner auf dem Erdboden wollen nicht fallen. Stattdessen übersetzen einige Ausleger: die Einwohner werden keine Wohnung haben. Wenn wir es so fassen, dann ist der Sinn dieser: die Juden werden keine Wohnstätte haben, d. h. sie werden nicht in ihr Land zurückkehren; die Bewohner, die dasselbe innehaben, werden nicht untergehen. Folgen wir aber der gewöhnlichen Übersetzung: die Einwohner wollen nicht fallen – dann müssen wir diese Worte auf die Gottlosen beziehen. Die Bewohner des Erdbodens quälen uns und kommen nicht zu Fall; ihnen glückt alles. Denn solange die Gottlosen in ihrer Blüte stehen, muss es den Kindern Gottes elend ergehen, müssen sie Gebärenden ähnlich sein. Solchen Verhältnissen müssen wir uns ruhig unterwerfen, wenn wir zur Herde Gottes gerechnet werden wollen. Es ist zwar das gemeinsame Los aller Menschen, mannigfache, andauernde Heimsuchungen durchzumachen, worauf auch jenes Wort hindeutet: Das Beste ist, nie geboren zu sein oder nach der Geburt gleich wieder zu sterben. Aber mehr als andere werden doch die Frommen aufs äußerste geängstigt und in den schwersten Leiden geübt. Dadurch will der Herr ihren Glauben prüfen, damit sie alle Begierden fahren lassen, der Welt absagen und ihm dienen. Wenn der Herr um sie besonders sich sorgt, dann muss er sie züchtigen, während er es zulässt, dass die Gottlosen unterdessen jauchzen und ihrer Lust den Zügel schießen lassen. – Hier werden wir auch daran erinnert, dass wir nicht etwa nur die eine oder die andere Heimsuchung durchmachen müssen. Wir dürfen nicht glauben, wir hätten es überstanden, wenn wir einiges Leid ertragen haben; wir müssen immer zu neuem Leiden gerüstet sein: wenn Gott die Seinigen zu züchtigen beginnt, hört er nicht sobald damit auf. Wir atmen wohl auf, sobald wir meinen, die Geburt sei eingetreten und die Wehen vorüber. Das Leid aber wird schlimmer und neue Schmerzen packen uns wieder. Wenn nun der Herr einst sein Volk so geprüft hat, dann dürfen wir uns nicht verwundern, dass uns heute noch dasselbe begegnet.
V. 19. Aber deine Toten werden leben. Jesaja fährt in seiner Trostrede fort und redet dabei Gott an. Dies ist das Beste, die Herzen zu Gott zu erheben und in ihm zu sammeln, so oft wir mit Versuchungen zu kämpfen haben. Denn nichts ist dann gefährlicher, als in Grübeleien uns zu ergehen und ihnen nachzuhängen. Diese werfen uns hin und her und stürzen uns in allerlei Irrtum. Nichts gibt mehr Sicherheit, als wenn wir bei Gott unsere Zuflucht suchen, in dem allein unsere Seelen Ruhe finden können. Sonst wird uns manches widerfahren, was unsern Glauben erschüttert. Das bleibt die Hauptsache, dass Gott die Gläubigen schirmt, ob sie schon den Toten ähnlich sind. Selbst im Tode werden sie leben; aus ihrem Untergang werden sie wieder auferstehen. – Es kann hier aber die Frage aufgeworfen werden, auf welchen Zeitpunkt Jesaja deutet. Viele Ausleger beziehen diese Stelle auf die Auferstehung am jüngsten Tage. Jüdische Ausleger beziehen sie auf das Reich des Messias. Die letzteren irren darin, dass sie meinen, gleich beim ersten Auftreten des Messias werde diese Verheißung in Erfüllung gehen. Aber auch die christlichen Ausleger, welche hier an das jüngste Gericht denken, irren. Der Prophet hat hier die ganze Entwicklung des Reiches Christi von seinem Anfang an bis zu seiner Vollendung im Sinn. Um nun den vollen Gedanken besser zu treffen, müssen wir zunächst beachten, dass nicht den Toten im Allgemeinen, sondern nur den Toten Gottes – es heißt hier: deine Toten – diese Verheißung zuteilwird. Es ist von den Gläubigen die Rede, die in dem Herrn sterben, welche Gott selbst mit seiner Hand schützt. Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen. Sind wir also Gottes Eigentum, dann werden wir ohne Zweifel leben. Indessen sollen wir uns aber in nichts von den Toten unterscheiden. Unser Leben ist ja ein verborgenes, und noch sehen wir das nicht, worauf wir hoffen. Der Prophet hat also die Lage der Gläubigen im Auge, die um mannigfacher Heimsuchungen willen, die sie fortgesetzt zu erdulden haben, im Schatten des Todes liegen. Auf die Auferstehung am jüngsten Tage kann das also nicht bezogen werden. Anderseits wissen wir, dass die Gottlosen, solange sie leben, tot sind. Sie schmecken nichts von der väterlichen Gunst Gottes, in dem das Leben ruht, und so gehen sie in ihrer toten Stumpfheit unter. Die Gläubigen aber haben, wenn sie zu Gott ihre Zuflucht nehmen, mitten in Trübsal, ja im Tode selbst, das Leben. Da sie aber jenen Tag der Auferstehung noch vor sich haben, so werden sie nicht Lebendige genannt bis auf den Tag, an welchem sie, frei von allem Schmerz und allem Jammer, ein ewiges Leben erhalten. Darauf weist auch Paulus mit Recht hin (Kol. 3, 4), dass es für Christen eine verkehrte Ordnung wäre, das Leben zu genießen, bevor Christus, ihres Lebens Quell, offenbar werden wird. Deshalb haben wir behauptet, dass Jesaja hier an den ganzen Verlauf des Reiches Christi denke. Die Frucht dieser trostvollen Verheißung fangen wir an schon hier zu genießen, sobald wir der Kirche Christi einverleibt sind; vollkommen werden wir sie aber dann erst erlangen, wenn die Auferstehung des jüngsten Tages anbricht, an dem alles zur Vollkommenheit gebracht werden soll. Er heißt darum auch der Tag der Vollendung. Das ist für die Frommen in ihren Leiden ein einzigartiges Trostmittel, die Augen auf das Ende zu richten, wo Gott sie von den Gottlosen scheidet. Wie der Tod von Natur für alle Kinder Adams das Ende ist, so sind alle Heimsuchungen, denen sie ausgesetzt sind, Vorspiele des Todes. Ihr Leben ist also nichts anderes, als ein fortgesetztes, langsames Sterben. Da aber durch Christi Gnadentat der Fluch Gottes aufgehoben ist, sowohl für die Vorspiele des Todes, wie für den Tod selber, so werden die, welche Glieder des Leibes Christi sind, mit Recht als die im Tode Lebendigen bezeichnet. Denn alles Böse muss ihnen zum Besten dienen. Darum steigen sie aus den Abgründen des Todes immer wieder als Sieger empor, solange sie fest mit ihrem Haupte vereinigt sind. Wollen wir also zu den Toten Gottes gehören, deren Leben er treulich schützt, dann müssen wir aus unserm natürlichen Wesen uns heraus heben lassen.
Meine Leichname werden auferstehen. Den gleichen Gedanken hebt der Prophet hier noch schärfer hervor durch den Ausdruck „Leichname“. Er will damit sagen: Selbst eine längere Zeit andauernde Fäulnis; von der die Toten verzehrt werden, ist für Gottes Macht kein Hindernis; er kann sie doch wieder unversehrt auferstehen lassen. Sicherlich ist dieses Wort mit voller Absicht hinzugefügt. Der Prophet will damit seinen Zusammenschluss mit der gesamten Gottesgemeinde bekunden. Er rechnet sich zu den Toten Gottes in der Hoffnung auf die Auferstehung. Dass er sich noch ganz besonders erwähnt, dient seiner ganzen Erörterung noch zur Bekräftigung. Er zeigt, dass dies Bekenntnis eine Frucht seines Glaubens ist, nach dem Wort: Ich glaube, darum rede ich. Es könnten ja auch weltlich gesinnte Leute von Gottes Barmherzigkeit und vom ewigen Leben reden, ohne doch selber im Herzen davon überzeugt zu sein. Bileam wusste auch, dass er die Wahrheit redete, aber irgendwelche Frucht erntete er nicht aus seinen Weissagungen. Mit dem Propheten ist es hier anders. Er bekennt, dass er zu der Zahl derer gehöre, welche das Leben erlangen werden. Er bringt damit zum Ausdruck, dass er gern alle Trübsal und Leiden, durch die der Herr ihn ertötet, trägt, und dass er solche lieber tragen will, als mit den Gottlosen guter Dinge sein. Er bezeugt also, dass er nicht über ihm unbekannte Dinge oder über Dinge, die ihn selbst nichts angingen, redet, sondern über solche, die er aus eigner Erfahrung kennt. Er zählt sich gern im Glauben zu den Leichnamen, die, wie er gewiss ist, wieder zum Leben erweckt werden. Er will lieber ein Leichnam sein, für einen solchen gelten und so für ein Glied der Kirche gehalten werden, als außerhalb derselben leben. Auf diese Weise erhalten seine Ausführungen mehr Kraft und Nachdruck. Nach alledem bildet unser Vers einen Gegensatz zu der vorigen Aussage über die Gottlosen (V. 14): „Die Toten werden nicht lebendig.“ Diesen ist die Hoffnung auf Auferstehung abgeschnitten. Wenn nun jemand einwirft, dass doch nicht nur die Frommen, sondern auch die Gottlosen auferstehen werden, so ist dieser Einwurf leicht zu erledigen. Die Gottlosen werden allerdings auch auferstehen, aber – zum ewigen Verderben. Für sie wird die Auferstehung unheilvoll werden, während sie für die Frommen heilbringend und herrlich sein wird.
Wachet auf und rühmet. Dies ist ein Zuruf an die Toten. Derselbe scheint jedoch zu ihrer Lage gar nicht zu passen. Denn bei den Toten herrscht nur ein finsteres Schweigen. Aber der Prophet macht offenbar einen Unterschied zwischen den Auserwählten Gottes, welchen die Verwesung im Staube des Grabes nicht die göttliche Kraft der Auferstehung rauben kann, und zwischen den Gottlosen, welche von Gott, der Quelle des Lebens, und von Christo getrennt, im Leben dahinschwinden, bis sie im Tode gänzlich verschlungen werden.
Die ihr liegt unter der Erde. Der Prophet bezeichnet die Gläubigen als Leute, die unter der Erde liegen, oder genauer als „Bewohner des Staubes“, als Leute, die unter Kreuz und Trübsal gebeugt sind und mitten im Leben stets den Tod vor Augen haben. Wohl genießen sie im Leben Gottes Wohltaten. Unter dem Bilde des Staubes schildert Jesaja aber ihre jammervolle Lage. Sie tragen das Bild des Todes an sich. Unser äußerlicher Mensch muss eben ersterben und abnehmen, bis er gänzlich zunichte geworden ist, damit der innere Mensch erneuert werden könne. Wir sollen darum willig im Staube liegen und uns demütigen, wenn wir des Trostes dieses Verses teilhaftig werden wollen.
Denn dein Tau ist ein Tau des gründen Feldes. Mit diesem seinen, treffenden Bilde erläutert der Prophet seine Ausführungen. Das Gras schwindet im Winter dahin, sodass es fast ganz erstorben scheint. Drunten aber in der Erde stecken im Verborgenen seine Wurzeln. Beginnt nun der Frühling und trinken die Wurzeln den Tau des Himmels, dann treiben sie wieder aus. Die zuvor welken, trocknen Gräser leben wieder auf. So wird auch das Volk Gottes seine frühere Kraft wieder gewinnen, wenn es von jenem reichen Tau göttlicher Gnade benetzt werden wird, mochte es auch zuvor ganz zusammengeschwunden und verwelkt erscheinen. Solche von all bekannten Dingen hergenommenen Bilder haben eine starke, überzeugende Kraft in sich. Wenn die vom Tau getränkten Pflanzen wieder aufleben, warum sollten wir selbst nicht wieder aufleben, wenn wir vom Tau göttlicher Gnade getränkt werden? Warum sollen nicht unsere Leiber, mögen sie auch abgestorben und verwest sein, wieder aufleben? Trägt denn Gott für uns nicht mehr Sorge, als um das Gras des Feldes? Ist Gottes Geist nicht kraftvoller als der Tau? Einer ähnlichen Beweisführung bedient sich der Apostel Paulus im 1. Brief an die Korinther (15, 36), wo er auch von der Auferstehung redet.
Aber das Land der Toten wirst du stürzen. Man kann auch übersetzen: Das Land wird die Toten wieder herausgeben. Für den Zweck der Erörterung macht das wenig aus. Denn in beiden Fällen handelt es sich um den Trost, von dem wir oben sprachen.
V. 20. Gehe hin, mein Volk, in deine Kammer. In diesem Vers mahnt der Prophet Gottes Kinder zur Buße; still sollen sie Trübsal und Heimsuchung tragen und fest und unbesiegt dastehen gegenüber den wilden Stürmen, denen sie zu unterliegen drohen. Solch eine Mahnung tat not. Die gefahrvolle Lage, in die das Volk hernach geriet, stimmte durchaus nicht mit jenen Verheißungen überein. Der Prophet nimmt deshalb das Volk, das in seiner Angst und Verwirrung nicht weiß, wo aus noch ein, gleichsam an der Hand und führt es in die Verborgenheit, wo es einen stillen Zufluchtsort finden soll, bis Sturm und Wetter sich legen. Sagt er aber „mein Volk“, so redet er nicht in seinem, sondern in Gottes Namen. Dass man in die Kammer gehen soll, deutet auf einen Herzenszustand voll Ruhe und Frieden, bei dem wir uns innerlich sammeln, im Glauben uns stärken und stille des Herrn warten. Wenn die Frommen von mancherlei unruhvollen Ereignissen, denen sie nicht gewachsen sind, sich erschüttert fühlen, sollen sie in ihrer Kammer oder an irgendeinem verborgenen stillen Platze sich sammeln.
Und schließ die Tür nach dir zu. Da gegenüber den wild tobenden Stürmen jene Sicherheit noch nicht genügte, so befiehlt der Prophet, auch die Tür zu schließen. Wir sollen fleißig auf der Hut sein, damit dem Teufel auch nicht der kleinste Spalt zu uns offen steht. Leicht schleicht er hindurch und dringt in unser Herz ein, wenn auch nur der kleinste Zugang sich ihm bietet.
Verbirg dich. Der Prophet weist darauf hin, dass die Gläubigen einen völlig sicheren Zufluchtsort finden, wenn sie in der Stille sich verbergen, sich sammeln und auf den Herrn geduldig harren. Zwar müssen wir tüchtig kämpfen; aber da Gottes Kraft in unserer Schwachheit mächtig ist, so können wir nichts Besseres tun, als demütig unter Gottes Flügeln uns verbergen und dort unsere Zuflucht suchen. Er gibt den Zagenden völlige Sicherheit.
Einen kleinen Augenblick. Wir sind von Natur hitzig und lassen uns von der Ungeduld hinreißen, wenn wir Gottes Hilfe nicht augenblicklich erfahren. Darum sagt der Prophet, diese Stürme dauerten nur einen kleinen Augenblick. Wir haben zwar andauernd mit Widerwärtigkeiten zu kämpfen und, solange wir leben, dürfen wir deren Ende nicht erhoffen. Nach unserer Meinung dauern dieselben darum sehr lange. Denken wir aber an die Ewigkeit, in der wir ununterbrochene Freuden genießen sollen, dann ist doch das Erdenleben nur ein kleiner Augenblick. Darum sagt ja auch Paulus, dass die zeitliche Trübsal, die wir hier leiden, unvergleichlich leicht ist gegenüber dem Übergewicht von Herrlichkeit, deren wir warten (2. Kor. 4, 17).
Bis der Zorn vorübergehe. Mit diesen Worten will der Prophet den Gläubigen jeden Zweifel rauben und ihnen in Kürze einen freien Ausgang verheißen. Unter Zorn verstehe ich einfach die Trübsal, welche der Zorn des Herrn im Gefolge hat. Einige Ausleger beziehen den Zorn auf den Zorn der Feinde des Volkes, eine Auslegung, die ich nicht verwerfen will. Doch gefällt mir die erstere besser. Denn, wie wir wissen, betonen es die Propheten immer wieder, dass uns nichts Böses trifft, das nicht aus Gottes Hand käme, und dass Gott uns nichts ohne Grund auferlegt, sondern durch unsere Missetaten und unsere Frevel dazu veranlasst wird. Gottes Zorn gegen seine Kirche dauert aber nicht ewig; zuletzt nimmt er doch ein Ende, wie Wind und Sturm ein Ende nehmen. Mit umso größerer Geduld können ihn deshalb die Gläubigen ertragen. Darum heißt es auch anderswo (Micha 7, 9): „Ich will des Herrn Zorn tragen“. Die Gläubigen wissen ja, dass sie nur zu ihrem ewigen Heil von Gott gezüchtigt werden.
V. 21. Denn siehe, der Herr wird ausgehen von seinem Ort. Für die Frommen liegt darin eine sehr schwere Versuchung, dass sie sehen, wie die Gottlosen ungestraft ihre Wut an ihnen ausüben und dabei von Gott nicht zurückgedrängt werden. Sie wähnen sich dann von ihm verlassen. Dieser Versuchung begegnet hier Jesaja; er zeigt, dass der Herr, wenn er auch zur Zeit sich verbirgt, doch zur rechten Zeit sich anschickt, Hilfe zu bringen und die seinem Volk zugefügten Übeltaten zu rächen. „Der Herr wird ausgehen“. Damit umschreibt der Prophet, wie Gott den Seinen seine Hand zur Hilfe entgegenstreckt. Zuvor hielt er dieselbe verborgen. Die Frommen spürten nichts von seiner Hilfe. Von diesem Gedanken aus sagt er: der Herr wird ausgehen, er wird in die Öffentlichkeit hinaustreten, um Hilfe zu bringen und Gericht zu halten, als ob er zuvor gleichsam wie ein Privatmann zu Hause gesessen hätte. Vielleicht liegt in diesen Worten auch eine Anspielung auf den Tempel. Diese Redeweise tritt uns ja bei den Propheten öfter entgegen. Wenn auch für die Heiden die Lade des Bundes, die im Verborgenen stand, ein Gegenstand der Verachtung war, die Gläubigen sollten es an der wirklichen Erfahrung göttlicher Kraft und Gnade spüren, dass es nicht umsonst und unnütz war, Gott in jenem Heiligtum anzurufen. Ob auch die Ungläubigen den Tempel wie irgendeine unansehnliche Hütte verspotteten, Gott wollte doch zu seiner Zeit von dort ausgehen und der ganzen Welt als Rächer seines Volkes erscheinen. Das Wörtlein „siehe“ gebraucht der Prophet, um die Sache als eine gewisse hinzustellen. Er will es den Gläubigen leichter machen, in Geduld sich zu fassen, bis dass der Herr kommt.
Heimzusuchen die Bosheit der Einwohner des Landes. Zum Wesen Gottes, welcher der Welt Richter ist, würde es nicht passen, wenn er die zügellose Sündenlust der Gottlosen ungestraft hingehen ließe.
Über sie. Auch dies Wort ist bedeutungsvoll. Alle Schuld fällt auf die Häupter ihrer Urheber zurück; wie es anderswo wohl ausgedrückt ist (Ps. 9, 16; 141, 10): die Gottlosen fangen sich bei ihren Nachstellungen in ihre eignen Netze oder sie fallen in die Grube, die sie selbst gegraben haben.
Dass das Land wird offenbaren ihr Blut usw. Jetzt wird das von den Gottlosen unschuldig vergossene Blut von der Erde getrunken. Dabei scheint der Tod der Frommen in völlige Vergessenheit zu geraten; vor Gottes Angesicht scheint er niemals zu kommen. So denken Menschen. Der Herr aber verkündet etwas ganz Anderes. Einst werden jene Mordtaten offenbar werden, und die Übeltäter müssen Rechenschaft geben. Der Prophet redet von dem Blut, das die Erde getrunken, wie es auch 1. Mos. 4, 11 heißt, die Erde habe ihr Maul aufgetan, als Abels Blut vergossen wurde. Der Herr hebt damit das Schreckliche jenes Verbrechens hervor. Aber diese Worte weisen auch darauf hin, was für ein teurer Gegenstand der Sorge für den Herrn der Tod seiner Frommen ist; am letzten Ende wird er denselben nimmermehr ungerächt lassen. Die Erde selbst wird sich anschicken, das wilde Morden, das die Frommen von den tyrannischen Feinden der Wahrheit erduldet haben, zu rächen. Kein Tropfen Blut ist vergossen worden, dessen nicht gedacht werden soll. Daran müssen wir uns erinnern und dies als Trost uns fleißig vor Augen halten, wenn die Gottlosen uns höhnen, verspotten und töten und alle Art schmachvoller Wut an uns auslassen. Zuletzt wird eben Gott es offenbaren, dass unschuldig vergossenes Blut nicht vergeblich zum Himmel schreit. Die Seinen kann er niemals vergessen.