V. 1. Das ist die Last über das Schautal. Von neuem richtet der Prophet seine Weissagung gegen Judäa, welches er das Schautal nennt. Diese Bezeichnung gibt er mehr dem ganzen Judäa, als nur der Stadt Jerusalem, von der nachher redet. Judäa nennt er mit Recht das Schautal, da es auf allen Seiten von Bergen umgeben war. Die übertragene Bedeutung, die manche annehmen, dass Jerusalem ein Tal genannt wird, weil es von seiner Höhe herabgestürzt wird, ist doch zu hart. Weshalb der Prophet Judäa das Schautal nennt, ist genügend bekannt. Der Herr hatte ganz Judäa durch sein Wort erleuchtet; fleißig waren dort die Propheten an der Arbeit, die man ja auch Schauer oder Seher nannte. In der Bezeichnung „Schautal“ liegt ein stillschweigender Gegensatz; denn die Täler haben, weil von den hohen Bergen ringsum das Licht der Sonne zurückgehalten wird, weniger Licht, als die offenen Ebenen. Von diesem Tal aber sagt der Prophet, es sei heller als solche Gegenden, die auf allen Seiten der Sonne ausgesetzt sind. Das war die Folge einer besonderen Gnade Gottes. Aber nicht durch die Strahlen der Sonne, sondern durch Gottes Wort ist dies Tal erleuchtet worden. Übrigens wollte der Prophet auch ohne allen Zweifel jenes eitle Vertrauen zurückweisen, von dem die Juden erfüllt waren. Sie missbrauchten Gottes Wort und seine Verheißungen und wähnten, gegen allen Schaden gefeit zu sein, obwohl sie dem Herrn ungehorsam und Rebellen waren. Dass sie also im Tal des Schauens wohnten, meint der Prophet, wird Gott nicht hindern, ihre Undankbarkeit zu bestrafen. Vielmehr vergrößert das noch ihre Undankbarkeit, weil sie trotz des glänzenden Lichts der himmlischen Lehre andauernd blind waren.
Was ist denn euch, dass ihr alle so auf die Dächer lauft? Hier hat der Prophet nur Jerusalem im Auge, aber nicht etwa deshalb, weil jenes Verderben diese Stadt allein treffen sollte, sondern weil das ganze Land glaubte, im Schatten des heiligen Tempels, der dort sich befand, sich sicher bergen zu können. Dann will er damit auch betonen, dass jenes Unheil eine befestigte Stadt treffen wird. Die Juden sollen daran denken, wie es dann denen erst ergehen wird, die von jedem Schutzmittel entblößt sind. Voller Verwunderung fragt er, was das denn zu bedeuten habe, dass alle ihre Häuser verlassen und, um ihr Leben zu retten, auf die Dächer fliehen. Die Juden hatten andere Hausdächer, als sie bei uns heute gebräuchlich sind; sie waren vollständig flach und zum bequemen Aufenthalt eingerichtet. So wird auch das Wort Christi verständlich (Matth. 10, 27): „Was ihr höret in das Ohr, das predigt auf den Dächern.“ Dass also die Bewohner Jerusalems auf die Dächer flohen, war ein Zeichen schlimmster Furcht, da sie damit ihre Häuser den Feinden zur Beute ließen. Sie konnten allerdings auch auf die Dächer steigen, um von dort aus mit allerlei Wurfgeschossen die Feinde zurückzuschlagen. Aber der Prophet denkt doch wohl mehr daran, dass sie, von den Feinden bedrängt, sich auf die Dächer zurückziehen. Durch deren Ansturm werden sie nicht nur in Furcht gesetzt, sondern wie von Furcht völlig überwältigt, fliehen sie und entfliehen doch nicht der Gefahr.
V. 2. Du warest voll Getönes. Der Prophet redet von Jerusalem als einer überaus volkreichen Stadt. Denn da ist viel Getön, wo eine Menge Volks zusammenströmt. Bei einer solchen Volksmasse sollte die Furcht doch weniger leicht aufkommen. Aber anstatt dass die Bewohner Jerusalems – da es doch an Männern nicht fehlte – auf den Mauern und Vorwerken zum Schutz der Stadt hätten stehen sollen, wichen sie schimpflich vor den Feinden zurück und flohen auf die Dächer. Der Prophet will also noch mehr zu der Erkenntnis drängen, dass jenes Gericht ein Gericht Gottes ist. Denn wo die Herzen von so großer Angst erstarrt sind, ist der Schrecken gewiss von Gott geschickt. Der Prophet will also sagen: Woher kommt es, dass du keinen Mut und keine Geistesgegenwart mehr zum Widerstand hast? Daher doch, dass der Herr dich verfolgt und in die Flucht jagt. Er hält ihnen ihr Unglück im Tone des Vorwurfs vor, und das mit Recht. In besonders eindringlicher Weise mussten die Juden dahin gebracht werden, dass sie lernten, alles, was sie an Übeln und Heimsuchungen erduldeten, ihren Sünden und Missetaten zuzuschreiben. Wohl hatte der Herr verheißen, er werde allezeit ihre Hilfe sein. Nun aber sollen sie darin, dass sie verlassen werden, erkennen, dass sie solcher Hilfe unwert sind und Gott ihre Frechheit zurückgewiesen hat. Der Herr lügt zwar nicht, und seine Verheißungen sind nicht eitel. Aber die Elenden haben durch ihre Sünde sich selbst seiner mächtigen Gnade beraubt.
Deine Erschlagenen sind nicht mit dem Schwert erschlagen. Um das alles noch deutlicher als Gottes Strafe zu erklären, zeigt der Prophet, dass die, welche dort gefallen, nicht tapfer kämpfend in der Schlacht niedergesunken sind, sondern dass ihnen jeder Mannesmut gefehlt hat. Ihr feiger, weibischer Sinn ist ein sicherer Beweis dafür, dass sie alle vom Herrn verlassen sind. Denn wäre er bei ihnen gewesen, so hätten sie mit Tapferkeit und Geistesgegenwart Widerstand geleistet. Der Prophet sagt also nicht einfach, ihre Niederlage werde mit Schimpf und Schande verknüpft sein, sondern er schreibt dies dem Zorne Gottes zu, dass sie gar keinen Mut zum Widerstand gehabt haben. Ohne Zweifel will er durch die näheren Umstände dieser schmachvollen Haltung ihren eitlen Hochmut dämpfen.
V. 3. Alle deine Hauptleute usw. Die Auslegungen dieses Verses sind verschieden. Die Sache an sich ist klar. Einige legen so aus: Obschon sie schon ganz fern von Jerusalem fortgeeilt waren, hörten sie doch nicht auf zu fliehen. Leute, die von Furcht wie besessen sind, lassen wohl nicht ab, weiter und weiter zu fliehen, weil sie immerfort den Feind auf den Fersen wähnen. Doch scheint mir folgende Auslegung passender: Sie flohen von ferne, d. h. sie begaben sich von fernher nach Jerusalem als zu einem sichern Zufluchtsort. Sie werden aber doch von den Feinden gefangen und gebunden werden. Jerusalem war gleichsam die gemeinsame schützende Burg für ganz Judäa. Daher hatten sich nach Ausbruch des Krieges dorthin von allen Seiten die Bewohner des Landes begeben. Obschon sie nun meinten, dort einen sichern Platz zu haben, wurden sie doch daselbst gefangen. Einige Ausleger beziehen das auf die Belagerung durch Sanherib. Dem kann ich aber durchaus nicht beistimmen. Denn der Prophet redet von einem Untergang Jerusalems. Als es aber von Sanherib belagert wurde, wurde es bald vom Herrn befreit. Niemand wurde gefangen oder gebunden; auch hat keine Niedermetzelung von Menschen stattgefunden. Dies hat sich also lange nach dem Tode des Propheten ereignet. Dass der Prophet die Hauptleute noch besonders anführt, macht die Sache noch viel unwürdiger, denn sie hätten als die ersten zur Rettung ihres Volkes den Kopf wagen müssen; von ihnen musste, wie von Schilden, die große Menge gedeckt und geschützt werden. Nun konnte dies alles, solange Jerusalem in Blüte stand, kaum glaublich erscheinen. Denn die Stadt war sehr stark befestigt. Vor allem aber prahlte sie mit dem Schutz Gottes. Sie meinte, Gott sei an seinen Tempel gleichsam gebunden. Und so überhob sie sich in dem Vertrauen, sie könne durch keine Gewalt, durch keine Heeresmacht geschwächt werden, auch wenn alle sich gegen sie verschworen hätten. Diese Weissagung, dass ihnen aller Mut fehlen werde, dass sie sich auf die Flucht begeben würden und selbst dann nicht entrinnen könnten, konnte also recht verwunderlich erscheinen.
V. 4. Darum sage ich usw. Hier übernimmt der Prophet, um auf die Juden mehr Eindruck zu machen, die Rolle eines Wehklagenden. Nicht mit mäßiger, sondern vielmehr mit tiefer Trauer beweint er das Unglück der Kirche Gottes. Diese Stelle ist nicht wie die andern aufzufassen, in denen er die Trauer und den Schmerz über auswärtige Völker zur Darstellung bringt. Da es sich vielmehr um den Niedergang der Kirche, deren Glied er selber ist, handelt, ist seine Trauer durchaus ernsthaft, und durch sein Beispiel fordert er die Übrigen auf, mitzuklagen. Was der Gemeinde Gottes widerfährt, muss so auf uns einwirken, als wenn es einem jeden von uns persönlich widerführe. Denn wo soll sonst jenes Psalmwort zur Geltung kommen (Ps. 69, 10): „Der Eifer um dein Haus hat mich gefressen?“ Auch klagt der Prophet nicht im Stillen oder ohne Zeugen. Erstlich darum, weil er, wie ich eben sagte, andere durch sein Beispiel zur Trauer bestimmen will, aber nicht zur Trauer allein, sondern noch viel mehr zur Buße, damit sie dem schrecklichen Gericht Gottes entgehen, das ihnen drohte, und damit sie aufhören, Gott immerfort herauszufordern. Ferner geziemte es sich für den Herold des Zornes Gottes, mit der Tat zu zeigen, dass das, was er verkündigt, kein Spiel sei.
Mühet euch nicht, mich zu trösten. Aus diesen Worten darf man schließen, dass der Prophet aus eigenster Herzensempfindung heraus redet. Da er einer vom Geschlecht Abrahams war, so empfand er dies Unglück als ein gemeinsames und weist mit jenen Worten darauf hin, dass er gerechte Ursache zur Trauer habe.
Die Tochter meines Volkes. „Tochter“ nennt er nach üblichem Brauch die Schar seines Volkes. So oft also – das ist hier zu beachten – die Kirche heimgesucht wird, sollen wir nach dem Beispiel des Propheten mit Mitleid erfüllt werden, wie müssten sonst mehr als eifern sein. Wir sind gänzlich unwürdig, zu Gottes Kindern gerechnet und seiner heiligen Kirche angegliedert zu werden, wenn wir nicht uns und all das Unsrige so eng mit ihr verbinden, dass nichts uns von ihr scheidet. Wenn demnach heute die Kirche von mancherlei schweren Leiden heimgesucht wird und zahllose Seelen, die Christus durch sein Blut erlöst hat, zu Grunde gehen, so müssten wir grausam und unmenschlich sein, wenn wir keinen Schmerz empfänden. Zumal die Diener Gottes müssen von diesem Schmerz durchdrungen werden. Denn wie sie wachsam sein und weiter als andere in die Zukunft schauen sollen, so sollen sie auch seufzen, wenn sie die Anzeichen zukünftiger Heimsuchung bemerken. Dass nun der Prophet öffentlich weinte, sollte dazu dienen, die Herzen des Volkes zu erweichen. Denn er hatte es mit unbeugsamen Menschen zu tun, welche schwer zur Trauer zu bestimmen waren. Ganz ähnlich ist jene Stelle beim Propheten Jeremias (4, 31), wo dieser die Niederlage und Zerstreuung seines Volkes betrauert. Dort spricht er davon, wie seine Seele vor Trauer schier vergehe. Und die andere Stelle (Jer. 9, 1): „Ach, dass ich Wasser genug hätte in meinem Haupte und meine Augen Tränenquellen wären, dass ich Tag und Nacht beweinen möchte die Erschlagenen in meinem Volk!“ Da die Propheten sahen, dass sie sich vergeblich abmühten, die Hartherzigkeit des Volkes zu brechen, so mussten sie von Schmerz und Trauer völlig niedergedrückt werden. Durch ihre mitfühlende Klage suchten sie die harten Herzen zu erweichen, um sie doch irgendwie zu beugen und zum Leben zurückzuführen.
V. 5. Denn es ist ein Tag des Getümmels. Von einem „Tag“ des Getümmels redet der Prophet. So lange Gott zu den Freveltaten der Menschen schweigt, scheint er gewissermaßen etwas von seinem Recht nachzulassen; bei passender Gelegenheit aber, gleichsam an dem vorbestimmten Tage, nimmt er es wieder an sich.
Vom Herrn, Herrn Zebaoth. Der Prophet bezeichnet wieder den Herrn als Urheber jenes Untergangs. Damit die Juden nicht hier- und dorthin schauen und nicht nach der Ursache derselben forschen oder sich nicht wundern, dass die Feinde ihnen überlegen sind, sagt er ihnen, dass sie mit Gott im Kriege liegen. Diese Lehre tritt uns in der Schrift öfter entgegen; an sie erinnert zu werden ist gewiss nicht überflüssig. Sie kann nicht sorgfältig genug eingeprägt werden; im gegebenen Fall vergisst man sie doch so leicht. So kommt` s denn, dass wir uns vor unserm Richter nicht beugen und unsere Augen lieber auf Menschen und äußerliche Heilmittel richten, als auf Gott, der doch allein unsere Übel heilen kann.
Im Schautal. Nicht umsonst redet der Prophet hier wieder vom Schautal. Die Juden glaubten nämlich gegen jedes Unheil gefeit zu sein, weil Gottes Freundlichkeit ihnen in seinem Worte entgegenstrahlte. Da sie sein Wort aber undankbar zurückwiesen, so war ihr Vertrauen, dasselbe werde ihnen nützlich sein, umsonst. Der Herr straft die Undankbarkeit der Menschen nicht nur außerhalb seiner Gemeinde, sondern auch inmitten derselben; ja bei seiner Gemeinde macht er mit der Züchtigung den Anfang. Man darf eben Gottes Gaben nicht missbrauchen und sich nicht in eitler Weise seines Namens rühmen.
Des Geschreies am Berge. Das kann sowohl auf Gott, wie auf die Chaldäer, und auch auf die Flüchtlinge selbst bezogen werden. Sieger erheben wohl, um den Schrecken zu vermehren, ein lautes Geschrei. Besiegte aber flehen entweder inständigst um Gnade, oder sie geben ihrem Schmerz Ausdruck durch lautes Geheul. Anstatt „am Berge“ kann man auch übersetzen „an den Bergen“. Beides passt trefflich in den Zusammenhang. Es macht nicht viel aus, ob wir sagen: die Feinde haben ein Geschrei erhoben am Berge, nämlich am Berge Zion, um sich untereinander anzufeuern, oder ob wir sagen: als sie die Stadt niederrissen und zerstörten, wurde ein Geschrei vernommen auf den benachbarten Bergen, oder aber: die Bürger von Jerusalem selber haben mit ihrem Klagegeschrei alles erfüllt bis hin zu den Bergen, welche die Ebene Juda umgeben.
V. 6. Denn Elam fähret daher. Die Ausleger meinen, dass hier in fortlaufendem Zusammenhang noch von demselben Gericht die Rede sei, welches zuvor den Juden angedroht wurde. Wenn ich aber alles näher erwäge, sehe ich mich gezwungen, abweichender Ansicht zu sein. Meiner Meinung nach wirft nämlich der Prophet den Juden ihre schändliche Verkehrtheit vor, dass sie nicht Buße getan haben, obschon sie vom Herrn gezüchtigt worden waren. Darin liegt also der Unterschied von dem Vorhergehenden. Vorher hat er geweissagt, was für die Juden noch kommen sollte. Hier aber zeigt er, wie sie mit vollem Recht bestraft werden und wie sie die harten Schläge wohl verdient haben, mit denen der Herr gegen sie vorgegangen war. Gott hatte sie zuvor nicht nur mit Worten, sondern auch mit strafender Tat zur Buße gerufen. Eine Besserung ihres Lebens war aber nicht erfolgt, obwohl ihre Macht geschwächt war und ihr Reich schwere Verluste erlitten hatte. Sie verharrten vielmehr schändlicherweise in ihrer Nichtswürdigkeit. Dem Herrn blieb also nichts anders übrig, als sie um ihres ungebrochenen Sinnes und um ihrer Hartnäckigkeit willen elend zu Grunde zu richten. Diejenigen, welche der Ansicht sind, der Prophet gebe hier eine Drohung für die Zukunft, er führe, nachdem er an Gott erinnert habe, die Werkzeuge der göttlichen Rache an, treffen nicht seinen eigentlichen Sinn. Welche Auffassung mir mehr gefällt, habe ich schon auseinandergesetzt, und aus dem Zusammenhang wird es noch besser klar werden, dass meine Ansicht nicht unbegründet ist. Was der Prophet hier von Elam und Kir sagt, passt meines Erachtens besser auf die Assyrer, als auf die Babylonier. Zwar haben Elam und Kir niemals unter eigner Leitung die Juden bekriegt, doch ist es wahrscheinlich, dass sie als Söldner bei den Assyrern dienten und bei deren Heer, als dieses Jerusalem belagerte, sich befanden.
Wagen. Unter den Wagen versteht der Prophet hier Kriegswagen. Solche wurden damals in zwiefacher Weise verwandt. Die einen gebrauchte man zur Beförderung des Gepäcks, die andern zum Kampfe. An solche Streitwagen, auf denen die Kämpfer standen, denkt der Prophet.
Kir glänztdaher mit Schilden. Die Bewohner von Kir hatten ihre Schilde entblößt. Wenn es zum Gefecht ging, wurden die Überzüge von den Schilden abgezogen.
V. 7. Und es geschah, dass deine auserwählten Täler voll wurden. Sollte das eine Drohung sein, dann müsste übersetzt werden: Und es wird geschehen. Weil aber die kurz darauf folgenden Zeitwörter in der Vergangenheit stehen und der Prophet also offenbar von vergangenen Ereignissen erzählt, so habe ich kein Bedenken getragen, auch den Anfang des Verses dem Folgenden anzupassen. Der Prophet erinnert die Juden daran, in welche Bedrängnis sie durch die Belagerung Sanheribs geraten waren, als die Feinde vor ihren Toren standen. Damals hätten sie zur Macht Gottes ihre Zuflucht nehmen sollen; stattdessen wurden die Elenden Gott noch mehr entfremdet und gingen schändlicherweise in ihrer Schmach noch weiter. Das war die Handlungsweise von Leuten, die in bejammernswertem Maße verderbt waren. Diese Herzenshärtigkeit macht der Prophet ihnen zum Vorwurf.
V. 8. Da wurde der Vorhang Judas aufgehängt. Der Prophet zeigt, wie die Juden in der Bedrängnis jener Belagerung voller Angst waren. Einige beziehen das Aufhängen auf Gott, - Gott habe den Vorhang aufgehängt, - andere auf die Feinde. Ich glaube, es ist unbestimmt zu fassen. Unter dem Vorhang verstehen fast alle den Tempel oder den Vorhang des Tempels. Ich möchte es aber einfacher von dem Rüsthaus verstehen, in dem sie ihre Kriegswerkzeuge liegen hatten. Vorhang nennt er dasselbe, weil diese Werkzeuge nicht vor aller Augen offen dalagen, sondern an einem geheimen Orte verborgen waren. Kurz, der Prophet beschreibt, was in Stunden großer Angst zu geschehen pflegt; dann läuft man zusammen, um sich Waffen zu holen, und die zuvor an einem verborgenen Orte aufbewahrten Kriegswerkzeuge werden herausgebracht.
Nach den Rüstungen im Hause des Waldes. Das hängt mit dem Vorhergehenden zusammen. Damals waren alle Plätze, denen man in Zeiten äußerster Bedrängnis die Waffen entnahm, durchstöbert worden. Die Kriegswerkzeuge hatten dort lange in friedlicher Verborgenheit gelegen. Dass dies Haus des Waldes, in dem die Kriegsausrüstung für das ganze Reich sich befand, von Salomo erbaut wurde, bezeugt die Geschichte (1. Kön. 7, 2).
V. 9. Und ihr habt der Risse usw. Der Prophet fährt in seiner Erzählung fort. In ruhigen, friedlichen Zeiten macht man sich keine Sorge um Waffen und Kriegsrüstungen. Nur die Not weckt die Menschen auf und macht sie munter. In Ruhe und Frieden werden wir sorglos und lässig. So lange die Juden jeder Gefahr fern zu sein glaubten, vernachlässigten sie die Risse in den Mauern. Als aber Kriegslärm entstand, fingen sie an, über dieselben besorgt zu werden und sie nachzusehen, damit dem Feinde nicht ein Zugang offen stünde.
An der Stadt Davids. So nennt der Prophet den innern Teil von Jerusalem. Die Stadt bestand aus zwei Teilen, wie wir es auch sonst bei vielen Städten sehen. Ganz Jerusalem war von Mauern und einem Wall umgeben. Die innere Stadt war aber ein besonders befestigtes Bollwerk und hieß: Stadt Davids. Später wurde auch noch der Tempel besonders befestigt, sodass dann die Stadt aus drei Teilen bestand. Jesaja deutet hier an, dass die Juden an der Rettung der ganzen Stadt fast verzweifelten, da sie in jenen innersten, besonders befestigten Teil derselben sich zurückzogen. Und in der Tat steht nach der Geschichte fest, dass alles in äußerster Verzweiflung war. Hier kann man auch erkennen, dass die einzelnen Weissagungen nicht in ihrer Reihenfolge gesammelt worden sind, dass auf die Zeitfolge von denen nicht geachtet wurde, welche sie zu einem Ganzen zusammengefügt haben.
Das Wasser des untern Teichs. Das Wasser wurde zum notwendigen Gebrauch gesammelt, damit es den Belagerten nicht ausginge; ein Fischteich vertrat die Stelle der Zisternen.
V. 10. Ihr habt auch die Häuser zu Jerusalem gezählt. Der Prophet weist darauf hin, dass die Stadt auf allen Seiten noch näher untersucht wurde, ob nicht ein Haus oder ein Gebäude der Verteidigung hinderlich sein könnte. Diese Auffassung wird noch bestätigt durch das, was er hinterher anführt:
Ihr habt die Häuser abgebrochen, die Mauer zu befestigen. In Friedenszeiten pflegt man das zu vernachlässigen. Dann werden wohl häufiger auf die Mauern selbst Privathäuser erbaut. In Kriegszeiten müssen diese dann niedergerissen werden, damit von dort aus gekämpft und der Feind abgewehrt werden kann, damit ferner von diesen Häusern aus nicht heimliche, verräterische Unterhaltungen mit den Feinden gepflogen werden können.
V. 11. Und hast einen Graben gemacht. Der erste Teil dieses Verses hängt noch eng mit dem Vorhergehenden zusammen. Die Juden waren in äußerster Not und in der ungeheuren Gefahr von solcher Furcht erfüllt, dass sie alles versuchen mussten, um gegen den Feind sich zu sichern. Der zweite Teil des Verses tadelt ihre Stumpfheit. Sie waren auf irdische Hilfsmittel ganz versessen und hatten die Hauptsache vergessen. Zu Gott hätten sie vor allem fliehen sollen, aber das unterließen und versäumten sie und richteten ihren Sinn mehr auf Wälle und Gräben, auf Mauern und andere Befestigungen. Und doch lag ihr Hauptschutz bei Gott. Hier tritt nun deutlicher hervor, was ich schon oben sagte: Es wird in diesen Versen den Juden nicht ein zukünftiger Untergang geweissagt, sondern es wird auf etwas hingewiesen, was sie in der Vergangenheit erfahren haben. Auf dieser Grundlage zeigt dann der Prophet, wie der Herr ihnen mit Recht zürnt, weil sie durch keine Züchtigung geändert und gebessert werden konnten. Die überaus gefährliche Lage, in die sie geraten waren, hätte ihnen ihre Gottlosigkeit und ihre Verachtung Gottes zeigen sollen. Durch dieselbe wurde es aber mit ihnen nur noch schlimmer. Sonst ist kaum jemand so verrucht, dass er sich nicht im Unglück und zumal in großer Gefahr besinnt und überlegt, ob es ihm nicht mit Recht widerfährt, ob er nicht Gott beleidigt und dessen Zorn gegen sich erregt hat. Von den Juden aber sagt der Prophet, niemand von ihnen habe trotz der großen Bedrängnis an Gott gedacht. Darum habe Gott auch mit Recht der Sorge für sie sich entschlagen. Das ist ein Zeichen schlimmster, beweinenswerter Gottlosigkeit, wenn Menschen auch durch Schläge und Heimsuchungen sich nicht bessern lassen. Freiwillig sollen wir Gott folgen und ihm zu Willen sein. Weiter sollen wir, wenn wir gewarnt und gezüchtigt werden, Buße tun. Wenn nun die Rute nicht hilft, was bleibt dann Gott anders übrig, als dass er die Schläge verdoppelt und vermehrt? Wir müssen dann noch schlimmere Züchtigungen erfahren, durch die wir zuletzt ins Verderben stürzen. Bei einer verzweifelten, unheilbaren Krankheit sind Heilmittel überflüssig. Diese Lehre passt treffend auf unsere Zeit, in der wir durch viel Plagen und Heimsuchungen zur Buße gerufen werden. Wenn keine Buße erfolgt, was bleibt dann zuletzt dem Herrn anders übrig, als dass er auch das Äußerste versuche, bis er zuletzt alle insgesamt zu Grunde richtet?
Doch sehet ihr nicht auf den, der solches tut. Mit diesen Worten deutet der Prophet an, dass dem Herrn keineswegs der rege Eifer missfällt, wenn es für uns gilt, Feinde abzuwehren und vor Gefahren uns zu hüten, sondern nur das eitle Vertrauen auf äußerliche Schutzmittel. Mit Gott müssen wir den Anfang machen. Übergehen wir ihn aber und nehmen zu Waffen und Schwertern, zu Burgen und Befestigungen unsere Zuflucht, dann ist das ein verkehrter Eifer, der mit Recht der Untreue geziehen wird. Wir sollen also lernen, bei drohenden Gefahren unsere Zuflucht zu Gott zu nehmen und uns mit ganzem Herzen in die sichere Burg seines Namens zurückziehen. Dann ist es uns auch gestattet, die Hilfsmittel anzuwenden, die er uns an die Hand gibt. Alles aber schlägt uns zum Verderben aus, wenn wir nicht ihm vor allem unser Heil anvertrauen. Der Prophet nennt Gott den, der solches tut und der solches, nämlich Jerusalem, schaffet. Zu Jerusalem hatte er ja seinen Sitz und wollte dort angerufen werden. Da aber Jerusalem das lebendige Abbild der Kirche gewesen, so beziehe ich diese Worte auch auf uns. Denn in besonderer Weise wird der Herr der genannt, der die Kirche geschaffen, der Schöpfer der Kirche. Zwar kann das Schaffen auch auf die Schöpfung der ganzen Welt sich beziehen, aber diese zweite Schöpfung, durch die er uns dem Tode entreißt, uns erneuert und heiligt, betrifft nur die Auserwählten. Die Worte Tun und Schaffen bezeichnen aber nicht etwas Einmaliges, sondern etwas Fortgesetztes. Die Kirche ist nicht einmal gegründet worden, um nachher zerstört zu werden, sondern der Herr schützt und erhält sie bis zum äußersten. „Das Werk deiner Hände wirst du nicht lassen,“ sagt der Psalmist (Ps. 138, 8). Und Paulus schreibt (Phil. 1, 6): „Der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird es auch vollführen bis auf den Tag Christi.“ Dieser Ausdruck „der solches schaffet“ enthält ferner einen wundersamen Trost. Denn wenn Gott der Schöpfer ist, brauchen wir nichts zu fürchten, wenn wir nur von seiner Macht und Güte abhängen. Zu ihm können wir aber nur aufschauen, wenn wir von wahrer Demut und wahrem Glauben erfüllt sind und, aller eignen Ehre entkleidet und zunichte geworden, ihm allein die Ehre geben. Das kann aber nur geschehen, wenn wir zugleich das Vertrauen haben, dass unser Heil in seiner Hand ruht; sind wir dessen gewiss, dann werden wir nimmermehr untergehen, auch wenn ein tausendfacher Tod uns umgibt. Die Handlungsweise der Juden wurde dadurch noch schlimmer, dass die Erwählung jener Stadt, welche durch soviel Zeugnisse bekräftigt worden war, sie nicht zu bewegen vermochte, in Gottes Schutz sich zu begeben. Was ist das für ein Unding, will der Prophet sagen, dass eine Stadt gerettet und beschützt werden will, die ihren Schöpfer beiseite setzt!
Von ferne her. Das hebräische Wort bezeichnet sowohl die örtliche, wie auch die zeitliche Entfernung. Wenn es hier örtlich gefasst wird, dann ist der Sinn dieser: die Juden sind doppelt undankbar, weil sie nicht einmal von ferne den Herrn angeschaut haben. Wir müssen Gott nicht nur anschauen, wenn er nahe ist, sondern auch, wenn er ganz ferne zu sein scheint. Fern ist es aber nur nach unserm Urteil, wenn wir nicht augenblicklich seine Hilfe spüren und er nicht gleich unserer Not beispringt. In Summa: der Prophet zeigt das Wesen wahrer Hoffnung. Das ist eine grobe, fleischliche Anschauung von Gott, wenn wir seine Vorsehung nur bei offenbaren Gnadenerweisungen erkennen, während wir doch über den Himmel selbst emporsteigen müssen. Eigentlich und in Wahrheit ist der Herr immer gegenwärtig; verborgen und fern ist er nur nach unserer Auffassung. Er ist das nur für unser Empfinden, nicht der Wirklichkeit nach. Wie sehr er also in den Heimsuchungen, welche die Kirche erduldet, ferne zu sein scheint, so müssen wir doch unsere Gedanken zu ihm erheben, unsere Herzen ermuntern und unsere Zaghaftigkeit, ihn anzurufen, abschütteln. Das „von fern her“ zeitlich zu fassen, passt auch gut. Sie haben Gott nicht angeschaut, der nicht gestern oder ehegestern, sondern schon vor langer Zeit seine Kirche geschaffen und sich durch viele Jahrhunderte hindurch als ihren Schöpfer bewiesen hat. Er wird damit also als ein alter Schöpfer seiner Kirche bezeichnet. Die Juden würden, wenn sie die lange Reihe der Jahrhunderte an ihrem Geist vorüberziehen ließen, ihn als den ewigen Erhalter seines Werkes erkennen. Umso weniger zu entschuldigen ist ihre Undankbarkeit.
V. 12. Darum hat der Herr, Herr Zebaoth zu seiner Zeit rufen lassen. Der Prophet schildert noch weiter jene Hartnäckigkeit und Gottlosigkeit des Volkes. Das macht sie noch mehr unentschuldbar, dass sie in so schweren Gefahren die ernsten Mahnungen der Propheten verachteten und die Gnade Gottes, der sie doch heilen und erlösen wollte, von sich wiesen. Das ist der Gipfel der Verkommenheit, wenn Menschen derart alle Vernunft verlieren, dass sie in ihrer Sicherheit Mahnung und Heimsuchung verachten und in ihrer Herzenshärtigkeit wider den Stachel löcken. Damals waren sie offenbar in solch schändliche Gesinnung verstrickt. Wenn der Prophet sagt, der Herr habe sie rufen lassen, so kann das in zwiefacher Weise ausgelegt werden. Der Herr kann mit Worten rufen und, wenn er das nicht tut, so spricht er doch durch Schläge und Plagen. Gesetzt auch, es fehlte uns die ganze Schrift, Propheten, Lehrer und Ermahner, Gott unterweist uns doch durch Kreuz und Heimsuchungen, sodass wir kurz sagen können, dass jede Heimsuchung ein Ruf zur Buße ist. Doch der Prophet wollte ohne Zweifel noch etwas Bestimmteres zum Ausdruck bringen. Sie verachteten die frommen Ermahnungen der Propheten; damit aber scheuten sie sich nicht, die väterliche Einladung Gottes zu schmähen.
Dass man weine und klage. Noch schlimmer wird diese Verachtung Gottes dadurch, dass er von einer Zeit redet, da man weint und klagt, von einer Zeit, in der Gefahr sie bedrängte. Denn sie wurden nun zugleich durch Wort und durch Heimsuchungen ermahnt. Sichtbar waren die Zeichen des Zornes Gottes, mit inständigem Rufen ließen die Propheten nicht nach. Dennoch wurden sie um nichts besser.
Und sich das Haar abschere und Säcke anziehe. Mit diesen bildlichen Ausdrücken bezeichnet der Prophet die Buße. Die Buße besteht zwar nicht darin, dass man im Sack und in der Asche sitzt, auch sonst nicht in irgendeiner äußerlichen Sache, sondern in einer Beschaffenheit des Herzens. Die wahrhaft Bußfertigen missfallen sich selbst, hassen die Sünde und sind von einem solch bittern Schmerz durchdrungen, dass sie vor sich selbst und ihrer Vergangenheit zurückschaudern. Da dies aber in einem äußern Bekenntnis vor den Menschen zum Ausdruck kommen muss, so nennt der Prophet auch die äußerlichen Zeichen, durch die wir unsere Buße bezeugen. Bei den Juden war es damals gebräuchlich, das Haar abzuscheren und Säcke anzuziehen, wenn sie ihre Reue und Buße bekannten. Äußere Zeichen allein würden aber nicht genügen. Denn die Bekehrung nimmt im Herzen ihren Anfang. Darum mahnt auch der Prophet Joel (2, 13): „Zerreißet eure Herzen, und nicht eure Kleider.“ Er will die äußern Zeichen der Bekehrung und Buße nicht als verwerflich hinstellen, aber doch darauf hinweisen, dass sie nicht genügen und an sich Gott nicht wohlgefällig sind. Man erschließe daraus, was wir zu tun haben, wenn Zeichen göttlichen Zorns für uns sichtbar werden: wir müssen dann ein Bekenntnis der Buße ablegen nicht nur vor Gott, sondern auch vor Menschen. Die äußeren Formen sind dabei gleichgültig. Wir gebieten nicht, einen Sack anzuziehen oder die Haare abzuscheren oder auszuraufen. Vielmehr muss das Wesen dessen, was diese Zeichen abbilden, ernst und mit dem Herzen erfasst werden, nämlich das Missfallen an uns selbst, das Bekenntnis unserer Schuld, die Demut des Herzens und die Besserung des Lebens. Wenn wir uns nicht für schuldig und der Strafe wert erachten, werden wir bei Gott nicht wieder in Gnaden angenommen werden. Kurz, wie Angeklagte, um die Herzen der Richter zu erweichen, den Bart zu scheren und ein schwarzes Gewand anzuziehen pflegen, so müssen wir als Hilfesuchende mit einem äußeren Zeichen unserer Buße zur Barmherzigkeit Gottes unsere Zuflucht nehmen. Weiter werden wir aber auch durch die äußeren Zeichen der Buße angestachelt und noch mehr zu Erkenntnis und zur Verabscheuung der Sünde angetrieben. Soweit diese also Anregungsmittel sind, bilden sie die Ursache zur Buße; soweit sie aber äußere Bezeugungsmittel sind, können sie als Wirkungen der Buße betrachtet werden. Sehen wir sie als die Kennzeichen unserer Schuld an, dann treiben sie uns noch mehr an, unsere Sünde und Schuld zu erkennen. Im anderen Fall sind sie als Wirkungen der Buße anzusehen. Denn wenn nicht die Buße voranginge, würden wir uns zu solch äußern Zeichen niemals bestimmen lassen.
V. 13. Wiewohl jetzt, siehe, ist` s eitel Freude usw. Hier wird vom Propheten nicht die Freude an sich verworfen. Auch die Frommen werden von Paulus zur Freude aufgefordert, zu einer Freude freilich in dem Herrn (Phil. 4, 4). Vielmehr tadelt der Prophet hier die Freude, die nicht zu der Traurigkeit, welche aus der Buße hervorzugehen pflegt, stimmt. Von dieser Traurigkeit redet Paulus 2. Kor. 7, 10. Niemand kann doch Buße und ein lebendiges Gefühl göttlichen Zornes haben, ohne von selbst in Traurigkeit sich zu ängstigen. Freude aber, die dieser Traurigkeit entgegengesetzt ist, ist Sünde, weil sie aus einer stumpfen Sicherheit hervorgeht. Die wird mit Recht getadelt, weil der Herr sie verflucht (Lk. 6, 25). Daraus wird auch ersichtlich, weshalb er sie tadelt, dass sie Ochsen würgen, Schafe schlachten, Fleisch essen, Wein trinken. An sich ist das nichts Böses und Gott Missfälliges. Weil aber das Fasten ein Stück der Buße ist, welche wir vor Menschen bezeugen, so ist das Schlachten von Vieh zu einem Gastmahl zu einer Zeit, da man doch fasten sollte, ein Kennzeichen harter Herzen, die Gott verachten. Damit verachten die Menschen Gott und gefallen sich in ihren Sünden. Das wollte Jesaja hauptsächlich zeigen. Er verdammt also nicht ohne weiteres den Genuss von Fleisch und Wein, sondern nur die Üppigkeit und den Mutwillen, wodurch die Menschen sich derart verhärten, dass sie mit frevelhaftem Herzen Gottes Drohungen zurückweisen und für Fabeln halten, was ihnen von den Propheten verkündigt wird. Das ist wohl zu beherzigen. Im Sack und in der Asche brauchen wir nicht immer einherzugehen. Doch kann wahre Buße sich nur dann bei uns finden, wenn wir sie in den Früchten offenbaren, die mit Notwendigkeit aus ihr hervorgehen. Wie der Prophet also nach den äußern Kennzeichen die Buße beschrieben hatte, so schildert er auch nach den äußern Kennzeichen die Unbußfertigkeit. Durch Fasten und ähnliche Dinge bezeugen wir unsere Buße, durch üppiges, schwelgerisches Leben beweisen wir die Härte und Unbußfertigkeit des Herzens. Damit fordern wir umso mehr den Zorn Gottes heraus, wie es in den Tagen Noahs geschah (1. Mos. 6, 5 ff.). Nachdem nun der Prophet allgemein von Unmäßigkeit und Schwelgerei geredet, redet er am Schluss des Verses noch im besondern von Essen und Trinken. Darin zeigten sich die Juden so üppig, als ob sie auf diese Weise den Zorn Gottes von sich forttreiben und seine Drohungen hätten vergessen können.
Lasset uns essen und trinken, wir sterben doch morgen. Diese Worte zeigen deutlich, weshalb der Prophet so heftig gegen das Fleischessen und Weintrinken der Juden losgefahren ist; sie verspotteten nämlich mit Scherz und Witz die Drohungen der Propheten. Einige glauben, diese Stelle werde von Paulus (1. Kor. 15, 32) angeführt, da er dort fast die gleichen Worte gebraucht. Ich bin jedoch anderer Meinung. Paulus gibt die Anschauung sinnlich gerichteter Weltmenschen wieder, die in den Tag hinein leben und über ein unsterbliches Leben sich keine Gedanken machten. Diese meinten, man müsse sich das Leben durch Frohsinn erheitern und so lange es währt, seine Freuden genießen. Jesaja aber lässt hier gottlose Menschen reden, welche die Drohungen der Propheten schmählich verlachten. Sie konnten es nicht ruhig ertragen, dass ihnen Schläge, Verbannung, Heimsuchung und Untergang verkündigt wurden. Sie nahmen jene Prophetenworte auf und höhnten mit denselben in prahlerischer Weise bei ihren Gelagen und Gastmählern: „Lasset uns essen und trinken, wir sterben doch morgen. Wenn diese Propheten uns den Untergang in so nahe Aussicht stellen, dann lasst uns wenigstens den heutigen Tag lustig und fröhlich genießen!“ So verhärtete Herzen können von keiner Angst mehr erschüttert werden; sie schmähen vielmehr Gott und die Propheten und leben noch zügelloser dahin in ihrer Üppigkeit. Ungeheuerlich allerdings war diese wilde Vermessenheit, mit Entrüstung und Unwillen das zu verhöhnen, was Himmel und Erde, geschweige denn ihre Herzen hätte erschüttern müssen. O wenn es nicht doch auch heute noch so ginge! Aber so oft Gott droht, speien die meisten Menschen Gift und Galle aus oder sie verhöhnen spöttisch, was durch seinen heiligen Mund verkündigt wurde.
V. 14. Aber meinen Ohren ist` s vom Herrn Zebaoth offenbart. Der Prophet will sagen: Ich habe, was ich verkündige, nicht von mir; Gott hat es mir offenbart; und meint ihr, ihr könntet euch ungestraft überheben, wenn Gott zur Buße ruft? Er will die Nichtswürdigkeit jener Gottlosen erschüttern, die nicht zuletzt gegen die Propheten sich vergingen, sondern Gott die Ehre raubten und seiner spotteten.
Was gilts, ob euch diese Missetat soll vergeben werden, bis ihr sterbet? Das ist ein fruchtbar ernstes Wort, dass diese Sünde nicht vergeben werden soll. Der Herr will sagen: Wenn ich nicht ein Rächer solcher Gottlosigkeit bin, dann braucht ihr nicht zu glauben, dass ich wahrhaftig Gott bin und dass meine Gottheit etwas bedeutet. Jesaja zeigt hier also in der Hauptsache, dass dem Herrn nichts so sehr missfällt, als die Unbußfertigkeit, durch welche wir uns, wie Paulus (Röm. 2, 5) sagt, den Zorn Gottes aufhäufen, und durch die wir uns jegliche Hoffnung auf Vergebung verschließen.
V. 15. So spricht der Herr, Herr Zebaoth. Diese Weissagung richtet sich gegen einen einzelnen Mann. Bisher hat der Prophet von dem ganzen Volk geredet; hier wendet er sich gegen Sebna, den er später wieder im 37. Kapitel erwähnt. Demselben gibt er einen doppelten Titel; er nennt ihn Schatzmeister und Hofmeister. Während er ihn hier nur so nennt, bezeichnet er ihn im 37. Kapitel als Schreiber. Daraus meinen manche schließen zu können, dass er infolge dieser Weissagung seines Amtes entsetzt und an seine Stelle Eljakim getreten sei. Doch ist dieses ungewiss, obwohl, wie aus den Worten des Propheten hervorgeht, Sebna aus Feindschaft den Eljakim aus seiner Stellung zu verdrängen sich bemühte. Ebenso wenig ist es gewiss, dass diese Weissagung zu der Zeit gegeben wurde, als Jerusalem nach Sanheribs Niederlage wunderbar durch Gottes Hand errettet wurde. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist Eljakim von diesem treulosen Schurken, nachdem derselbe die höchste Gewalt erlangt hatte, in ungerechter Weise unterdrückt worden. Denn es geht aus den Büchern der Könige (2. Kön. 18, 18) hervor, dass Sebna Schreiber war, freilich kein gewöhnlicher, sondern das, was wir heute Kanzler nennen. Deutlich tritt es hier zutage, dass dieser Sebna in einer Weise die Herrschaft in Händen gehabt hat, dass ihm gegenüber alle übrigen nur wenig zu bedeuten hatten. Ferner ist gewiss, dass er mit den Feinden Unterhandlungen angeknüpft hatte, dass er ein verschmitzter, treuloser Mensch war. Er pflog geheime Freundschaft mit den Ägyptern und Assyrern und traf mit ihnen verräterische Abkommen, um sich selbst für jeden Fall zu sichern und seine Stellung zu wahren. Er soll, wie manche annehmen, ein Ägypter gewesen sein. Jedenfalls begünstigte er beide Parteien und glaubte durch solche List sich völlig sicher zu stellen, selbst für den Fall, dass alles zusammenstürzte. Verächtlich redet der Prophet von dem oder, wie es genauer heißt, „diesem“ Hofmeister. Er will sagen: Seht doch diesen verschmitzten Menschen an, der beiden Parteien schmeichelt, um beider Gunst zu erlangen!
V. 16. Was hast du hie? Dieser Sebna hatte sich zu Jerusalem eine Grabstätte bauen lassen, als wenn er dort immer leben und dort auch sterben würde. Daher fragt ihn der Prophet, weshalb er sich in der Höhe ein prächtiges, prunkvolles Grabmal errichtet habe, wie solche zu tun pflegen, die auf Erden ein dauerndes Gedächtnis ihres Namens stiften wollen. Es scheint damit der Ehrgeiz dieses ausländischen Fremdlings getroffen zu werden, der außerhalb seines Vaterlandes so prächtig begraben zu werden wünschte. Dabei aber lauerte er wie ein Feind darauf, Judäa zu verderben. Was ist aber verrückter, als ein Denkmal sich zu errichten in einem Lande, an dessen Ruin man arbeitet? Darum fügt der Prophet hinzu:
V. 17. Siehe, der Herr wird dich wegwerfen. Er will sagen: Du wirst von dieser Stätte weggeworfen werden in ein fernes Land, wo du eines schimpflichen Todes sterben wirst.
Wie ein Starker einen wegwirft. Man kann auch übersetzen: Der Herr wird dich wegwerfen durch eine gewaltige, machtvolle Verwerfung; oder wie andere übersetzen: Der Herr wird dich wegwerfen, du großer, starker Mann, der du so stolz bist auf dein Glück und meinst, ein Held zu sein. Jedenfalls verspottet der Prophet den Hochmut des Sebna, weil er sich ein so prächtiges Grabmal errichtet hatte, damit sein Name, wie der eines berühmten, ausgezeichneten Mannes, der Nachwelt überliefert werde. „Du willst noch nach deinem Tode glänzen; ich will dich auf andere Art berühmt machen; in einer auffallenden Weise werde ich dich verbannen und dich in ein fernes Land führen, wo du auf nicht gewöhnliche Art dein Grab finden wirst.“ Hier ist zu beherzigen, wie sehr ein doppelzüngiger, trügerischer Geist Gott missfällt. Nichts empfiehlt uns mehr, als Einfalt. Da Sebna als Hofmeister vor andern hervorragte, so machte ihn der Glanz des augenblicklichen Glücks blind. Das findet sich wohl bei solchen, die, von ihrem Glück aufgeblasen und durchdrungen, kein Unheil fürchten, als ob sie außerhalb jeder Gefahr stünden. Solchen Leuten kündet sich der Herr als Richter an. Auch das ist hier zu beachten, dass Jesaja diese Weissagung nicht verkündigen konnte, ohne die schlimmste Anfeindung zu erfahren, zumal einem so angesehenen, mächtigen und hochfahrenden Manne gegenüber. Doch er durfte den Auftrag, zu diesem Manne hinzugehen und ihm dem Befehl Gottes gemäß solche Drohung zu überbringen, nicht zurückweisen.
Was nun die Errichtung jenes Grabmals betrifft, so wird es hier durchaus nicht verworfen, für ein solches Sorge zu tragen. Denn wenn auch ein verschwenderischer Aufwand bei einem solchen Grabmal zu verwerfen ist, so ist doch das Bestreben, ein solches sich zu beschaffen, menschlich und braucht durchaus nicht vernachlässigt zu werden. Das tadelt also der Prophet nicht, dass Sebna für sein Begräbnis sorgen wollte, sondern dass er solch ein anspruchsvolles Denkmal errichtete, wodurch seine Sucht nach leerem, eitlem Ruhm zutage trat. Hier bei Sebna ist aber noch etwas anderes zu beachten. Dadurch, dass er nämlich die Stadt treulos den Assyrern zu verraten suchte, glaubte er dauernd die Herrschaft behalten zu können. Denn er hoffte, von jenen dann die Verwaltung des Reiches, wenn sie dieses inne hätten, als Lohn für seine Verräterei zu erlangen; würden die Assyrer aber zurückgetrieben, so hoffte er gleichwohl dauernd in Ansehen und Würden zu verbleiben. Darum hat der Prophet ihn im vorigen Verse gefragt: „Was hast du hie?“ Wem gehörst du an?“ Er war ja ein Fremdling, der zwar durch den Glauben dem Volke Gottes angegliedert werden konnte, der aber, da er ein verräterischer Fremdling war, keinen Teil hatte an der Stadt und an dem Lande, das der Herr einzig für sein Volk bestimmt hatte. Jesaja fragt ihn also: Woher, was für ein Landsmann bist du? Obwohl du durch kein Band der Verwandtschaft und Freundschaft mit dem Volke Gottes verknüpft bist, willst du in diesem Lande nicht nur zu deinen Lebzeiten herrschen, sondern auch noch im Tode dir in ihm einen festen Platz sichern? Du willst uns den Assyrern verraten und die rechten Herren des Landes vertreiben, um von diesem dir fremden Lande, von dem dir kein Zoll breit gehört, den Genuss zu haben? Hieraus kann man schließen, wie sehr solch ein Ehrgeiz Gott missfällt, wenn Menschen in der Welt sich ein ewiges Gedächtnis zu stiften suchen und nicht zufrieden sind mit den Ehren, an denen sie sich im Leben sättigen. Auch nach ihrem Tode wollen sie noch erhoben werden, wollen in der Menschen Mund gleichsam weiter leben, und wenn auch alles im Tode untergeht, so wähnen sie in ihrem eitlen Vertrauen, sie würden in alle Ewigkeit bleiben. Der Herr aber straft ihre Anmaßung und ihre Vermessenheit. Was nach ihrer Absicht ein Denkmal ihres Ruhmes sein soll, das schlägt ihnen nach Gottes Leitung zur Schmach und Schande aus. Entweder hinterlassen sie dann ein fluchwürdiges Gedächtnis, sodass die Menschen nichts von ihnen sehen oder hören können, ohne den tiefsten Abscheu zu empfinden. Oder er lässt es nicht zu, dass sie in ihren Grabmälern beigesetzt werden, vielmehr übergibt er sie dem Galgen und den Raben. Verschiedene derartige Beispiele finden wir in der Geschichte. So oft ich diese Stelle lese, fällt mir ein Beispiel vor allem ein, das vor andern hierher passt, das Beispiel des Thomas Morus, der das gleiche Amt verwaltete, wie dieser Sebna. Er war Kanzler des Königs Heinrich VIII. von England. Ein sehr schlimmer Feind des Evangeliums verfolgte die Frommen mit Feuer und Schwert; er wollte damit seinen Ruhm ausbreiten und sich ein Denkmal seiner Grausamkeit und Gottlosigkeit setzen. Deshalb ließ er auch auf sein Grabmal, das er in prächtiger, verschwenderischer Weise errichtet hatte, eine Lobrede über seine Taten einmeißeln. Diese Grabschrift hatte er selbst verfasst. So ruhmsüchtig war dieser Mann also, dass er die Lobpreisungen, die, wie er glaubte, ihm im Tode folgen würden, schon im Leben kosten wollte. Unter anderem war das besonders rühmend hervorgehoben, dass er der größte Vernichter der Lutheraner, d. h. also der Frommen, gewesen. Was geschieht aber? Er wird des Verrats angeklagt, wird verurteilt und enthauptet. So wurde ihm der Block zur Grabstätte. Können wir klarere Beispiele göttlicher Gerichte finden, durch die Gott den Hochmut der Gottlosen, ihre zügellose Ruhmsucht und ihre gotteslästerliche Prahlerei straft? Bei diesem sicherlich ungemein schlimmen Feind des Volkes Gottes muss man nicht weniger, wie bei einem Sebna, die wunderbare Vorsehung Gottes erkennen und preisen. Zu beachten ist auch, dass dieser Sebna ein ausländischer Fremdling war. So möchten alle Tyrannen und Feinde der Kinder Gottes, ob sie schon Fremdlinge sind, die wahren Erben des Landes umbringen, um allein die ganze Welt in Besitz zu haben. Aber der Herr selbst vertreibt sie und beraubt sie jeglichen Besitzes, sodass sie nicht einmal eine Grabstätte übrig behalten. Dafür gibt es zahllose Beispiele in der Geschichte. Immer geht es allerdings nicht so. Immerhin sollen die Beispiele, die der Herr uns vor Augen stellt, uns veranlassen, seine Gerichte gegen gottlose Tyrannen zu beachten. Sie wollten sich erheben und berühmt werden, - und sie werden durch irgendeine besondere Todesart erhoben, sodass ihre Schmach berühmt wird. Deshalb stellt der Prophet das rumvolle Grabmal, das Sebna errichtet hatte, in Gegensatz zu der Schande, die hinterher folgte.
V. 18. Und dich umtreiben, wie eine Kugel in weitem Lande. Jesaja verspottet noch weiter den Hochmut des Sebna, welcher bei der Erbauung seines Grabmals so verschwenderisch zu Werke gegangen war. Dieser Vers knüpft an den ersten Teil des vorhergehenden an. Dort sagt der Prophet: Der Herr wird dich wegwerfen, wie ein Starker einen wegwirft; hier: Er wird umtreiben, wie eine Kugel in weitem Lande. Mit diesem Bild weist er darauf hin, dass nichts den Herrn hindern wird, ihn in ein fernes Land hinauszuwerfen, mag er auch seine Macht für noch so fest gegründet halten. Er war wegen seiner Grabstätte so fürsorglich gewesen und hatte über dieselbe verfügt, als könne er über seinen Tod bestimmen. Jesaja aber kündigt ihm an, er werde nicht zu Jerusalem sterben, sondern in einem fremden Land, in das er hinaus gestoßen werden soll.
Daselbst werden deine köstlichen Wagen bleiben. Bei den köstlichen Wagen denkt der Prophet an allen Ruhm und alle Würden Sebnas. Er will sagen: die Schmach Sebnas wird bei den Fremden berühmt werden. So verlacht der Herr den wahnsinnigen Ehrgeiz derer, welche außer dieser Welt nichts sehen und ihr Glück nach dem Ruhm zerfließender, vergänglicher Dinge abschätzen.
Du Schmach des Hauses deines Herrn. So sagt der Prophet entweder, weil Sebna den frommen königlichen Hof, der gleichsam Gottes Heiligtum war, geschändet hatte, oder weil der König Hiskia in leichtfertiger Weise unterlassen hatte, ihn fortzuschaffen. Damit Sebna sich dieser Weissagung gegenüber nicht hinter der Maske der Ehre verkrieche, betont der Prophet ausdrücklich, die Stellung, die er einnehme, mache seine Verfehlung noch schlimmer, sodass dieser nur umso verabscheuenswerter erscheine. Wenn Fürsten sich und ihr Haus nicht der Schande preisgeben wollen, dann müssen sie lernen, bei der Wahl ihrer Ratgeber vorsichtig zu sein.
V. 19. Und ich will dich von deinem Stande stürzen. Der Prophet schließt mit diesem Verse die Weissagung gegen Sebna, wenn dieser im letzten Verse des Kapitels auch noch einmal erwähnt wird. Er fasst hier noch einmal das Gesagte zusammen. Sebna glaubte zu Jerusalem einen festen Stand zu haben, von dem er dem Anschein nach, es mochte geschehen, was da wollte, niemals verdrängt und vertrieben werden könne. Der Herr aber sagt, er werde ihn stürzen und anderswohin in ein fernes Land vertreiben. So pflegt der Herr die Gedanken der Gottlosen zunichte zu machen, welche in ihrer Verschlagenheit und Verschmitztheit ihre öffentliche Stellung zur Befriedigung eigener Gelüste missbrauchen. Durch den Wechsel der Person: Ich will dich stürzen, - deutet der Prophet an, dass er bald in seinem, bald in Gottes Namen redet.
V. 20. Und zu der Zeit usw. Es ist nicht hinreichend festgestellt, wann Eljakim an Sebnas Stelle getreten ist. Dass Eljakim Hofmeister am königlichen Hofe gewesen ist, als Sebna Schreiber oder Kanzler war, werden wir im 37. Kapitel sehen. Ob in der Zwischenzeit der Wechsel eingetreten ist, kann nicht genau festgestellt werden. Wahrscheinlich ist es allerdings, wie ich oben berührte, dass durch das Ränkespiel jenes gottlosen Menschen Eljakim nachher aus seiner Stellung verdrängt wurde. Als dann aber Sebna seinen Triumph feierte, wurde sein Verrat aufgedeckt und er bestraft; aus Judäa vertrieben und flüchtig lebte er in der Verbannung bei den Assyrern und hat dort den Lohn für seine Treulosigkeit empfangen. So pflegt es Verrätern zu ergehen. Wenn sie ihre Versprechungen nicht erfüllen können, werden sie auch denjenigen, die sie enttäuscht haben, verhasst und verabscheuenswert. Denn sie sind ebenso kühn und unbedacht im Versprechen, wie sie voll sind von Lug und Treulosigkeit. Nach jüdischer Überlieferung soll Sebna zuletzt wegen seiner Treulosigkeit zerstückelt worden sein; geschichtlich steht das aber nicht fest. Sicher jedoch ist, dass er verbannt wurde und flüchtig in fremdem Lande, nicht zu Jerusalem, in Schande gestorben ist. Als er geflohen war, ist dann aller Wahrscheinlichkeit nach Eljakim wieder an seine Stelle getreten.
Will ich rufen. Alle Fürsten und Obrigkeiten werden gewiss vom Herrn berufen, auch wenn sie gottlos und frevelhaft sind. Denn alle Obrigkeit, sagt Paulus (Röm. 13, 1), ist von Gott. Hier redet der Prophet aber von einer besondern Berufung, durch welche der Herr seine Güte gegen ein Volk offenbart. Er gibt ihm Ratgeber, durch die es zu der Erkenntnis kommt, dass in Wirklichkeit Gott an seiner Spitze steht. Und anderseits sind jene selbst sich dessen wohl bewusst, zu welchem Zweck sie von Gott verordnet sind, und verwalten treulich das ihnen übertragene Amt. Berufen war zu seiner Zeit auch Sebna, aber zu einer Geißel Gottes. Denn er hatte sich nicht im Geringsten vorgenommen, Gott zu dienen. Eljakim war anders; er erkannte sich als Gottes Diener und gehorchte dessen heiligen Ruf. „Ich will rufen“ – heißt so viel als: Ich will meinem Knechte ein Zeichen geben, dass er erkennt, er sei von mir zu jener Würde erhoben. Es besteht hier also ein besonders enges Verhältnis zwischen Herr und Knecht, was bei den Gottlosen nicht zutrifft, da diese ihre Lust und ihren bösen Neigungen gehorchen. Eljakim aber kannte den Herrn und diente ihm von Herzen. Dadurch unterscheidet sich auch der rechte Diener Gottes von dem falschen und schlechten, der durch böse Schliche sich Ehre erworben hatte.
V. 21. Und will ihm deinen Rock anziehen. Hier setzt der Prophet ausführlicher auseinander, was er im vorhergehenden Verse kurz angedeutet hatte, dass Sebna nur durch Gottes Ratschluss verworfen und Eljakim sein Nachfolger werde. Es ist in der Tat so, dass alle Veränderungen, die in der Welt sich ereignen, durch Gottes Vorsehung hervorgerufen werden. So heißt es (Hiob 12, 18): „Er löset auf der Könige Zwang und gürtet mit einem Gürtel ihre Lenden.“ In Bezug auf die römischen Kaiser wurde einmal witzig gesagt: Könige sind Schauspieler. Denn wie diese auf dem Theater, nachdem sie die Rolle eines Königs gespielt haben, alsbald nur einfache Menschen sind, so wurden jene von ihrer stolzen Höhe herab gerissen und dann zu einem schmachvollen Tode fortgeführt. Und doch sind sicherlich auch zur Zeit der römischen Kaiser die Verhältnisse weder durch den Zufall, noch durch menschliches Pläne-Schmieden, noch durch militärische Macht so in Verwirrung gekommen, sondern Gottes Ratschluss stand im Vordergrund. Hier aber bei Sebna, sagt der Prophet, werde in ganz besonderer Weise zutage treten, dass seine Abdankung eine offenbare Strafe Gottes, dass dagegen Eljakim rechtmäßig in sein Amt wieder eingesetzt sei. Unter Rock und Gürtel haben wir obrigkeitliche Abzeichen zu verstehen. Der Gürtel war ein königliches Abzeichen, und ohne Zweifel haben die Spitzen der Behörden ihn als Ehrenzeichen getragen. So sagt eben auch Hiob in Bezug auf die Könige, wenn sie ihrer Würde beraubt werden: Er löset auf der Könige Zwang oder Gürtel. Das wurde aber vom Propheten deshalb geweissagt, damit alle an diesem Beispiel nicht nur Gottes Vorsehung und Ratschluss deutlich erkennen, sondern auch einsehen sollten, dass ein gottloser Mensch, der fälschlicherweise und in unerlaubtem Maße sich erhoben hatte, mit vollem Recht seiner Würde entsetzt wird.
Dass er Vater sei derer usw. Gottlose Behörden werden auch von Gott eingesetzt, aber in seinem Zorn, wenn wir seiner Herrschaft unwert sind. Er lässt den Tyrannen und Gottlosen die Zügel schießen, um unsere Undankbarkeit zu bestrafen, als ob er sich von uns lossagte und die Sorge der Weltregierung von sich würfe. So lange nun eine gute Obrigkeit über uns steht, schauen wir Gott gleichsam in der Nähe, wie er uns durch die Hand derer, die er eingesetzt hat, regiert. Der Prophet meint das: Weil Eljakim mit dem Geiste Gottes begabt sein wird, darum wird er auch väterlich sein Amt verwalten. Darin liegt auch der Hinweis, dass mit Recht alle Frommen die Herrschaft eines Eljakim wünschen sollen, weil dieselbe zum gemeinen Besten der Kirche ausschlagen wird. – Mit dem Wort „Vater“ zeigt der Prophet, wie eine gute Obrigkeit ihr Amt führen soll. Auch weltliche Schriftsteller sagen, ein guter König sei ein Vater seines Volkes. Und wenn sie solchen, die nach Unterdrückung der Freiheit als Tyrannen regierten, schmeicheln wollten, gaben sie denselben den Ehrentitel: Vater des Vaterlandes. Auch die Philosophen sagen, indem sie ein Königreich mit einer Familie vergleichen, ein König müsse ein Vater seines Reiches sein. Das bestätigen auch jene alten Königstitel, wie z. B. Abimelech d. h. mein Vater-König u. a. Solche Titel deuten darauf hin, dass die königliche Macht nicht ohne väterliche Gesinnung sein darf. Könige also, die als rechte Herrscher gelten und sich als Gottes Diener beweisen wollen, müssen sich ihrem Volke gegenüber als Väter beweisen.
V. 22. Und will die Schlüssel usw. Das ist eine bildliche Redewendung. Wir haben keinen Grund, uns hier viel um den tieferen, verborgenen Sinn der Worte abzumühen, wie manche tun. Es handelt sich um ein Bild, das dem allgemein menschlichen Leben entnommen ist. Wer als Verwalter eingesetzt wird, dem werden die Schlüssel übergeben, damit er alles nach seinem Gutdünken auf- und zuschließe.
Zum Hause Davids. So nennt der Prophet den königlichen Hof. Diese Bezeichnung war beim Volke gebräuchlich, weil dem David die Verheißung eines ewigen Königreiches gegeben war (2. Sam. 7, 12). Darum nannte man jenes Reich und seinen Königshof gemeiniglich das Haus Davids.
Auf seine Schulter legen. Schlüssel pflegt man in den Händen zu tragen. Da es sich aber um ein schweres Werk handelt, heißt es, sie würden auf Eljakims Schulter gelegt. Das bedeutet nichts anderes als dies, dass der Schutz des Hauses und seine ganze Verwaltung in seine Gewalt gelegt wird, damit er alles nach seinem Gutdünken bestimme. Die Übertragung der Schlüssel gilt, wie wir wissen, allgemein als Zeichen der Besitzergreifung. Einige Ausleger haben diese Stelle törichterweise auf Christum bezogen, während doch der Prophet nur einen Vergleich anstellt zwischen diesen beiden Männern, zwischen Sebna und Eljakim. Sebna wird seiner Stelle beraubt werden, Eljakim wird sein Nachfolger. Was hat das aber mit Christo zu tun? Denn Eljakim ist nicht ein Vorbild auf Christum gewesen. Der Prophet beschreibt hier auch nicht irgendein verborgenes Geheimnis, sondern er gebraucht einfach ein Bild aus dem gewöhnlichen Menschenleben, wie eben jemand seinem Verwalter, den er eingesetzt hat, die Schlüssel übergibt. Aus demselben Grunde nennt Christus das Amt der Verkündigung des Wortes die Schlüssel des Himmelreiches. Es ist töricht und abgeschmackt, bei diesen Worten Christi sich um einen verborgenen Sinn zu mühen, während doch die Sache klar ist und durchaus keines Scharfsinnes bedarf. Denn der Sinn ist der, dass die Diener Gottes durch die Predigt des Wortes den Zugang zum Himmel eröffnen und zu Christo hinführen, der allein der Weg zum Leben ist. Daher ist in diesem Verse unter der Übergabe der Schlüssel die Verwaltung des königlichen Hauses zu verstehen, die wichtigste Sorge, die seiner Zeit dem Eljakim übertragen werden sollte.
V. 23. Und will ihn zum Nagel stecken. Um das Bild deutlicher heraustreten zu lassen, möchte ich ergänzend hinzufügen: gleichsam zum Nagel, - und zwar an einen festen, buchstäblich „wahrhaftigen“ oder „zuverlässigen“ Ort. Die hebräische Sprache gebraucht für „Wahrheit“ und „Festigkeit“ ein und dasselbe Wort. Denn wo Wahrheit ist, da ist Festigkeit und Beständigkeit. Es ist übrigens ein feines Bild, dessen Jesaja sich hier bedient. Fromme Obrigkeiten, deren freilich wenige sind, können aus demselben reichen Trost schöpfen. Sie dürfen den Schluss ziehen, dass sie in ehrenvolle Stellung von Gott nicht nur erhoben, sondern in ihr auch befestigt und bestätigt worden sind, wie wenn sie von seiner Hand gleichsam festgenagelt wären. Und sicherlich! Wo Gottesfurcht ist, da ist auch Stetigkeit. Denn durch Gerechtigkeit wird der Thron bestätigt, wie Salomo sagt (Spr. 16, 12). Dieser Trost soll Fürsten aber nicht nur dazu dienen, dass sie tapfer alle Gefahren aushalten, sondern auch dazu, dass sie fest und unerschrocken in ihrem Amt fortfahren, durch nichts sich beugen lassen und vor keiner Gefahr zurückschrecken. Aber es sind wohl nur wenige Fürsten, welche den Trost dieser Lehre zu schmecken vermögen. Alle fast gleichen sie dem Jerobeam und meinen, sie stünden über der Religion; soweit dieselbe nach ihrer Meinung ihnen von Nutzen ist, folgen sie ihr, ja sie beugen und ändern sie zu ihrem Vorteil. Die Sorge um Gott und um die Frömmigkeit ist ihre letzte. Daher ist es nicht zu verwundern, dass sie immer ihrer Sache nicht trauen und fast nie Festigkeit besitzen. Denn auf den, von welchem alle Gewalt ist, richten sie ihren Sinn nicht. Hier Treulosigkeit, dort Grausamkeit, Habsucht, Gewalttat und jede Art von Trug und Unrecht; in diesen Dingen sind manche Herrscher heute noch zügelloser und unverschämter als alle andern Menschen. Doch gibt es auch solche, an denen man das Gleiche sehen kann, was hier von Eljakim gesagt wird. Diese wird der Herr schützen. Ihr Streben nach Recht und Gerechtigkeit, das er in ihr Herz gelegt, mit dem er sie geziert hat, begleitet er mit seinem Segen. Denn wenn der Herr selbst die Tyrannen eine Zeitlang bestehen lässt, weil sie doch noch eine gewisse Staatsgewalt inne haben, - was wird er dann erst einem Herrscher tun, der mit allem Eifer Recht, Gerechtigkeit und wahre Gottesverehrung schützt? Wird der Gott, welcher der Gerechtigkeit ewiger Beschützer ist, einen solchen nicht in seiner Herrschaft befestigen und bestätigen?
V. 24. Dass man an ihn hänge usw. Der Prophet will sagen, Eljakim werde seinen ihm obliegenden Verpflichtungen gewachsen und in der Erfüllung seines Amtes nicht träge sein. Fürsten werden von Gott nicht zu Ehren gebracht, um müßig zu sein oder sich gehen zu lassen. Denn das Amt der Obrigkeit ist ein sehr mühevolles, wenn einer es recht verwaltet. Auch sollen sie nicht in deren Fußstapfen treten, welche meinen, sie seien zu solcher Würde erhoben, um köstlich zu leben und allerlei Freuden und Vergnügungen zu genießen. Wenn ein Fürst seines Amtes treu walten will, hat er viele Mühen zu ertragen. Wir haben keinen Grund, anzunehmen, das Bild von dem Nagel sei der Obrigkeit unwürdig; durch dasselbe soll ja dies Amt als eine arbeitsreiche, mühevolle Last gekennzeichnet werden. Bilder dürfen niemals in ihren einzelnen Zügen gepresst werden, sondern man muss ihren Hauptzweck im Auge haben.
Alle Herrlichkeit seines Vaters Hauses. Aus diesen Worten geht unzweifelhaft hervor, dass Eljakim aus königlichem Geschlecht war.
Kind und Kindeskinder. Darunter verstehe ich das ganze Geschlecht Davids. Gott wird also erhalten, was immer zum königlichen Hause gehören wird. Damit bezeichnet der Prophet zugleich diese Herrschaft als eine beständige. Nicht nur ein Menschenalter wird sie dauern, sondern bis in ferne Geschlechter. Treffliche Fürsten sind nicht nur ihrer Zeit zum Nutzen, sondern auch den Nachkommen, welchen sie vorzügliche Gesetze, treffliche Einrichtungen und die Spuren einer guten Verwaltung zurücklassen. Wenn die Nachfolger schlecht sind, müssen diese sich schämen, dass sie so bald in heillose Nichtswürdigkeit geraten sind; sie sehen sich dann gezwungen, aus Scham, wenn auch wider Willen, wenigstens einiges Gute beizubehalten. Das sagt also der Prophet zu Eljakim, seine Verwaltung werde so tüchtig sein, dass ihre Früchte noch die Nachkommen spüren würden.
Alle kleine Geräte. In übertragenem Sinne versteht der Prophet darunter die unparteiische Gerechtigkeit oder das gleiche Recht für alle, wie man es nennt. Er will sagen: Nicht nur die Großen wird er stützen, sondern wird auch dem geringen Stand seine Fürsorge zuwenden. Je seltener das bei einem Fürsten ist, umso mehr ist des Lobes wert, - viel rühmlicher, als wenn er sich nur den Mächtigen und Reichen gnädig erzeigte. Denn diese vermögen sich selbst zu schützen und zu verteidigen; die Geringen und Schwachen aber sind der Ausbeutung und Ungerechtigkeit anderer ausgesetzt, und für sie tritt kaum jemand ein.
Trinkgefäße und allerlei Krüge. Nichts, will der Prophet sagen, wird so gering, so unscheinbar, so verachtet sein, dass der treue Herrscher es nicht erhalte.
V. 25. In der Zeit, spricht der Herr usw. Das steht scheinbar in Gegensatz zu dem Vorhergehenden (V. 23). Aber der Prophet redet hier nicht mehr von Eljakim. Er redet wieder von Sebna, der, wie gesagt, aus seiner Stellung verdrängt werden soll. Dem Eljakim schien sonst der Zugang zu jener hohen Würde verschlossen, wenn Sebna nicht gestürzt würde. Dieser hatte aber seine Stellung so gefestigt, dass niemand glaubte, er könne aus derselben heraus geworfen werden. Obwohl er also auf alle Art gesichert und fern von jeder Gefahr zu sein scheint, so wird er doch von seinem Platz abtreten, und an seine Stelle wird Eljakim gesetzt werden.
Am festen Orte. Diese Bezeichnung ist vom menschlichen Standpunkt aus gewählt. Menschen halten ja das für dauernd, was allseitig gesichert ist. Gott aber stürzt es mit dem leisesten Hauch seines Mundes zu Boden. Nur vom menschlichen Gesichtspunkt aus nennt der Prophet also diesen Ort einen festen. Wie töricht ist demnach das Rühmen und Vertrauen auf ihre Größe bei denen, die zu einer hohen Würde erhoben sind! Sie können ja in einem Augenblick, in einem Nu gestürzt und aller Ehre beraubt werden.
Und seine Last umkommen. Wenn Gottlose fallen, müssen alle mitstürzen, die auf ihre Macht sich stützten. Es ist auch durchaus billig, dass diejenigen, die durch dieselben Freveltaten miteinander verbunden waren und, soviel sie konnten, dem Gottlosen die Hand reichten, dasselbe Gericht trifft. Diejenigen, welche gottlose Menschen zu ihren Beschützern gewählt haben und sich mit allem an dieselben hängen, sind auch leicht Knechte des Bösen. Aber selbst, wenn sie frei davon waren, - was selten, ja wohl niemals der Fall ist – so erhalten sie dennoch die verdiente Strafe, weil sie auf jene Leute, als wären sie die sicherste Stütze, ihre Hoffnung gesetzt und sich völlig von ihrem Wink und ihrem Einfluss abhängig gemacht haben.