Auf den ersten Blick erscheint dieser Tadel unverständlich und töricht. Unter den Pflichten, die menschliche Rücksichtnahme uns auflegt, ist doch die jedenfalls nicht zu vergessen, dass man die in der Welt hervorragenden Leute ehre. Aber Jakobus missbilligt nicht kurzweg, dass die Christen den Reichen Ehre erweisen, sondern dass sie dabei die Armen beleidigen. Das erhellt noch besser aus dem folgenden, wo alles auf das Gesetz der Liebe zurückgeführt wird. Verurteilt wird eine Rücksicht, welche den Reichen derartig erhebt, dass dadurch dem Armen unrecht geschieht. Das zeigt auch deutlich der ganze Zusammenhang. Und sicherlich ist doch eine Ehrenerweisung parteiisch und eitel, die dem Reichen unter Verachtung des Armen zuteil wird. Zweifellos herrschen ja auch Parteilichkeit und Eitelkeit, wo allein das Ansehen in dieser Welt im Werte steht. Festzuhalten ist an jenem Grundsatz: wer die Gottlosen verachtet, ehrt aber die Gottesfürchtigen, der gehört zu des Gottesreiches Erben (Ps. 15, 4). Hier wird der entgegengesetzte Fehler verurteilt, dass man aus bloßer Rücksicht auf den Besitz des Reichtums auch den Schlechten unter Verachtung der Guten Ehre erweist. Wie gesagt, liest man den Satz allein für sich: Es sündigt, wer vor den Reichen aufsteht – so ist er töricht, liest man aber im Zusammenhange: Es sündigt, wer allein den Reichen Ehre zubilligt, während er die Armen verachtet, ja beschimpft – so ist es eine fromme und wahre Lehre.
V. 1. Dass der Glaube Ansehung der Person leide.Will sagen: Ansehung der Person verträgt sich so schlecht mit dem Glauben an Christus, dass eine Vereinigung unmöglich ist. So ist es. Durch den Glauben wachsen wir zu einem Leibe zusammen, in dem Christus das Haupt ist. Wenn nun die weltlichen Ehrenerweisungen derartig das Übergewicht bekommen, dass sie, was Christo zukommt, stürzen, so ist klar, dass der Glaube zu wenig Kraft besitzt. Die Bezeichnung Christi als des Herrn Herrlichkeit fügt sich gut in den Zusammenhang. So groß ist ja Christi Glanz, dass er leicht alle Herrlichkeit der Welt auslöscht, wenn er nur unsere Augen anstrahlt. Wenn uns also die Bewunderung weltlicher Herrlichkeit noch in Beschlag genommen hat, so wird Christus von uns gering geschätzt.
V. 3. Setze dich aufs beste,d. h. auf einen ehrenvollen Platz.
V. 4. Habt ihr dann nicht das Urteil empfangen?Man kann den Satz als Aussage oder als Frage fassen, es kommt auf denselben Sinn heraus. Jedenfalls findet Jakobus darin eine Vergrößerung ihrer Schuld, dass sie sich wohlgefallen oder sich nicht missfallen in so großer Schlechtigkeit. Frageweise aufgefasst gibt der Vers den Sinn: Hat nicht euer eigenes Gewissen euch überführt, so dass es eines andern Richters gar nicht mehr bedarf? Aussageweise aufgefasst: Ihr unterscheidet nicht bei euch selbst und richtet nach argen Gedanken! Die Meinung wäre dann etwa: das macht das Übel noch schlimmer, dass ihr nicht merkt, wie ihr sündigt, noch auch eure bösen Gedanken als solche erkennt.
V. 5. Hört zu, meine lieben Brüder.Mit einem doppelten Grunde wird nun der Beweis geführt, dass sie verkehrt handeln, wenn sie zugunsten der Reichen die Armen verachten. Einmal ist es unwürdig, diejenigen herunterzusetzen, die Gott erhebt, die er mit Ehre antut, unserseits schmählich zu behandeln: Gott ehrt die Armen, also verkehrt Gottes Ordnung, wer immer sie zurücksetzt. Der andere Grund entstammt der allgemeinen Erfahrung. Da die Reichen meistens den Armen und Unschuldigen Beschwerde machen, so ist es doch sehr töricht, ihre Ungerechtigkeiten mit solcher Belohnung zu erwidern, dass wir sie uns besser empfohlen sein lassen als die Armen, die uns mehr helfen als verletzen. Bis zu welchem Grade dies beides gilt, werden wir noch bestimmter sehen.
Hat nicht Gott erwählt die Armen?Zwar nicht sie allein: aber bei ihnen hat er den Anfang machen wollen, um den Stolz der Reichen im Zaum zu halten. Das ist es, was Paulus sagt (1. Kor. 1, 26): nicht viele Edle, nicht viel Gewaltige dieser Welt, sondern was schwach ist, hat Gott erwählt, dass er zuschanden mache, was stark ist. Kurz, wenn Gott seine Gnade gemeinsam auf Reiche und Arme ausgegossen hat, so hat er doch diese jenen vorziehen wollen, damit die Großen lernen möchten, nicht sich selbst zu gefallen, die Unedlen aber und Namenlosen alles der Barmherzigkeit Gottes zuschreiben möchten und endlich beide zur Bescheidenheit und Demut erzogen würden. Von Leuten, die am Glauben reich sind,wird nicht geredet, weil sie an besonders großem Glauben Überfluss hätten, sondern weil Gott sie mit mannigfachen Gaben ausgestattet hat, die wir im Glauben gewinnen. Denn das ist doch gewiss, dass an den freigebig und allgemein angebotenen Gaben des Herrn ein jeder nach dem Maße seines Glaubens Anteil erhält. Sind wir leer und unvermögend, so beweist das eben unsern Mangel an Glauben. Wenn wir nur den Schoß des Glaubens ausbreiten, ist Gott immer bereitwillig, hineinzuschütten. Verheißen ist das Reich denen, die Gott lieben, nicht in dem Sinne, dass die Verheißung abhängig wäre von der Liebe. Es wird durch diesen Ausdruck nur an die Bedingung und den Zweck der Berufung zur Hoffnung des ewigen Lebens erinnert, dass nämlich die Berufenen Gott lieben sollen. Der Zweck, nicht der Ausgangspunkt wird hier angegeben.
V. 6. Sind nicht die Reichen usw. Jakobus erweckt den Anschein, als stachele er zur Rache auf , wenn er die ungerechte Obmacht der Reichen anführt, damit die von ihnen ungerecht Behandelten Gleiches mit Gleichem vergelten – und doch empfangen wir überall die Mahnung, den Feinden, die uns peinigen, wohlzutun. Indessen ist des Jakobus Rat ganz anderer Art. Denn er will nur zeigen, dass die vernünftigen Urteils entbehren, die ihre Henker schmeichlerisch ehren, während sie gegen Menschen, die ihnen befreundet sind oder wenigstens ihnen niemals etwas zuleide getan haben, beleidigend vorgehen. So tritt das eitle Wesen besser ins Licht, mit dem sie, ohne durch irgendwelche Wohltaten veranlasst zu sein, nur weil sie eben reich sind, die Reichen bewundern, ja sogar denen sklavisch schmeicheln, deren Ungerechtigkeit und Grausamkeit sie zu ihrem Schaden am eigenen Leibe spüren. Es gibt ja zwar unter den Reichen manche gerechte und vor jeder Ungerechtigkeit zurückscheuende Leute, aber solche findet man doch selten. Jakobus aber zieht an, was in der Regel geschieht und sozusagen tagtägliche Erfahrung ist. Im Schadentun pflegen ja die Menschen ihre Kräfte zu erproben; daher kommt es denn, dass einer desto schlechter und ungerechter gegen den Nächsten ist, je mehr er vermag. Daher müssen die Reichen sich umso sorglicher vor jeder Ansteckung mit dieser Seuche hüten, die allenthalben in ihrem Stande herrscht.
V. 7. Unter dem guten Namen ist ohne Zweifel der Name Gottes und Christi zu verstehen. Dass derselbe über den Gläubigen genannt wurde, erinnert hier nicht, wie es nach dem sonstigen Sprachgebrauch der Schrift wohl möglich wäre, an die Anrufung desselben im Gebet, sondern ist im Sinne des Bekenntnisses gemeint, wie der Name des Vaters über seinen Kindern genannt wurde (1. Mo. 48, 16) und des Mannes Name über der Frau (Jes. 4, 4). Es bedeutet also so viel, als ob Jakobus gesagt hätte: der gute Name, mit dem ihr euch rühmt, oder den ihr euch ehrenhalber angerechnet haben wollt. Wenn nun jene Gottes Ehre trotzig mit Füßen treten, wie unwürdig sind sie denn doch, dass Christen ihnen Ehre erweisen!
Es folgt nun eine ausführliche Erklärung. Jakobus legt nämlich die Ursache des oben gegebenen Tadels offen dar: nicht aus Liebe sind sie gegen die Reichen zuvorkommend, sondern aus eitlem Streben nach ihrer Gunst. Er gestaltet aber seine Darlegung so, dass er im Voraus die Entschuldigung seines Gegners behandelt. Nahe lag ja der Einwand: der sei doch nicht anzuklagen, der sich auch Unwürdigen gegenüber demütig beugt. Den Grundsatz gibt Jakobus freilich zu, zeigt aber, wie er von seinen Gegnern fälschlich zum Vorwand gebraucht werde, da sie solche Unterwerfung nicht etwa dem Nächsten beweisen, sondern einigen Leuten um ihres äußeren Ansehens willen. Im Vordersatz erkennt Jakobus an, alle Liebesdienste, die wir dem Nächsten erweisen, seien recht und des Lobes würdig. Im Nachsatz weist er ab, dass man in dieses Gebiet auch die schmeichlerische Rücksichtnahme auf das Ansehen der Person rechne. Diese steht weit ab vom Sinn des Gesetzes. Der Kern dieses Gegensatzes liegt in den beiden Worten: Nächstenliebe und Ansehen der Person. Jakobus sagt etwa: wenn ihr für euer Tun den Schein der Liebe verwendet, so werdet ihr doch leicht widerlegt; denn Gott befiehlt (3. Mo. 19, 18), die Nächsten zu lieben, nicht aber nach dem Ansehen der Person einzelne auszuwählen. Dies Wort „der Nächste“ umfasst ja das ganze menschliche Geschlecht. Wer also nur einige wenige nach seiner Willkür sich zur Pflege vornimmt und andere dabei übergeht, der dient nicht dem Gesetz Gottes, sondern folgt dem schlechten Triebe seines eigenen Herzens. Ausdrücklich legt uns Gott Fremde und Feinde und was für verächtliche Menschen es sonst geben mag, ans Herz. Einer derartigen Anweisung ist das Ansehen der Person durchaus entgegengesetzt. Die Behauptung des Jakobus, das Ansehen der Person streite mit der Liebe, ist also durchaus richtig.
V. 8. So ihr das königliche Gesetz erfüllt usw. Das Wort „Gesetz“ verstehe ich einfach als Gebot. „Erfüllen“ heißt mit aufrichtiger Einfalt des Herzens es voll und ganz beobachten; es steht der teilweisen Erfüllung gegenüber. Von einem „königlichen“ Gesetz wird aber hier meines Erachtens gesprochen wie von einem „königlichen“, ebenen, geraden und gleichmäßigen Weg, wobei ein Gegensatz zu krummen Seitenwegen und Irrgängen leise anklingt. Doch ist auch, wie mich dünkt, eine Anspielung an den sklavischen Gehorsam bemerkbar, welchen die Leser den Reichen erwiesen, während sie doch in freimütigem Dienst gegen den Nächsten nicht nur Kinder, sondern sogar Könige sein könnten. Wenn es nun aber weiter heißt, dass Leute, welche die Person ansähen, vom Gesetz überführt würden, so wird nunmehr das Wort Gesetz im eigentlichen Sinn genommen. Denn da Gottes Liebesgebot alle Sterblichen umfasst, so zerreißt ein Mensch, der alle anderen mit Ausnahme weniger zurückstößt und dabei höchst Unwürdige den Bessern vorzieht, das von Gott geschaffene Band und damit seine Ordnung, wird also mit Recht ein Übertreter des Gesetzes genannt.
V. 10. Denn so jemand das ganze Gesetz hält usw. Auf dies eine nur ist es hier abgesehen: Gott will nicht mit Auswahl bedient werden, noch auch so mit uns teilen, dass es uns freistünde, aus seinem Gesetz herauszuschneiden, was uns weniger zusagt. Auf den ersten Blick scheint dieses Urteil einigen hart, als ob Jakobus der Übertreibung der Stoiker, die alle Sünden für gleich erklären, beigepflichtet hätte und behauptete, es müsse bei nur einer Übertretung ganz in derselben Weise gestraft werden, als wenn das ganze Leben schlecht und verbrecherisch gewesen sei. Aber dem Apostel ist nichts Derartiges in den Sinn gekommen; das ergibt auch der Zusammenhang. Immer muss man darauf achten, welchem Beweggrund eine Aussage entspringt. Es handelt sich um die Behauptung, dass das keine Nächstenliebe ist, wenn man nur einen Teil parteilich sich aussucht und andere vernachlässigt. Diese Ablehnung wird bewiesen: es sei doch kein Gehorsam gegen Gott vorhanden, wo nicht ein gleichmäßiger, dem Gebote Gottes entsprechender Trieb zum Gehorsam walte. Wie Gottes Gebot einfach und vollständig ist, so kommt auch uns ein vollständiger Gehorsam zu, damit keiner von uns in böser Absicht zerreiße, was Gott zusammengefügt hat. Lasst uns also mit Gleichmäßigkeit verfahren, wenn wir Gott in rechter Weise gehorchen wollen. Wenn z. B. ein Richter zehn Diebstähle straft, einen aber unbestraft lässt, so verrät er damit sein verkehrtes, böses Herz, weil er mehr über Menschen als über Verbrechen entrüstet ist: was er bei dem einen straft, verzeiht er beim anderen. Wir halten nun die Ansicht des Jakobus fest: wir würden uns an allen Geboten schuldig machen, wenn wir aus Gottes Gesetz die uns weniger angenehmen Teile herausschneiden wollten, selbst wenn wir in allen übrigen Stücken peinlich gehorsam wären; denn wir verletzen mit dem einen Hauptstück das ganze Gesetz. Wenn auch dies Wort auf einen besonderen, vorliegenden Fall bezogen ist, so ist es doch aus dem allgemeinen Grundsatz erwachsen, dass Gott uns die Lebensregel gegeben hat, die zu zerreißen eben darum ein Frevel ist. Denn das Wort: Dies ist der Weg, denselbigen geht! wird nicht etwa nur von irgendeinem Teil des Gesetzes gesagt, wie das Gesetz auch nur den allseitigen Gehorsam zu lohnen verspricht. Töricht ist deshalb die Rede der Scholastiker, die den teilweisen Gehorsam als verdienstlich ansehen, während doch sowohl diese Stelle wie andere mehr deutlich beweisen, dass es keine andere Gerechtigkeit gibt als nur die vollkommene Beobachtung des Gesetzes.
V. 11. Denn der da gesagt hat usw. Der vorangehende Satz wird nun durch die Erinnerung begründet, dass man mehr auf den Gesetzgeber achten müsse als auf die einzelnen Gebote für sich. Die gottgefällige Rechtschaffenheit ist gleichsam als ein unteilbares Ganzes vom Gesetz umfasst. Wer also ein Stück des Gesetzes übertritt, stellt diese Rechtschaffenheit ihrem vollen Umfang nach in Frage. Wie in dem einen, so will Gott überhaupt in allen einzelnen Stücken unseren Gehorsam bewährt sehen. Wer immer ein Gebot verletzt, heißt deshalb ein Gesetzes-Übertreter, jenem alttestamentlichen Wort gemäß (5. Mo. 27, 26): Verflucht ist, wer nicht alle Worte dieses Gesetzes erfüllt. „Gesetzes-Übertreter“ und „schuldig an allen Geboten“, das bedeutet für Jakobus dasselbe.
V. 12. Also redet usw. Einige legen das so aus: Weil die Leser sich übermäßig schmeichelten, werden sie vor das rechte Gericht geladen. Denn die Menschen sprechen sich nach ihrer Meinung frei, indem sie sich dem Gericht Gottes entziehen. Bei dieser Auffassung erinnert Jakobus also daran, dass alle Taten und Worte dort geprüft werden müssen, weil Gott die Welt nach seinem Gesetz richten wird. Weil aber eine solche Ankündigung einen unmäßigen Schreck einjagen konnte, so meinen sie, die Härte werde erweicht und gebessert durch den weiteren Ausdruck „Gesetz der Freiheit“. Denn wir hören das Wort des Paulus (Gal. 3, 10): alle die seien dem Fluch unterworfen, die unter dem Gesetz sind. Das Urteil des Gesetzes ist also an sich ein Urteil des ewigen Todes. Dieser Auslegung zufolge deutet Jakobus mit dem Worte Freiheit an, dass wir von der Strenge des Gesetzes befreit werden. Diese Auffassung ist nicht gänzlich unzutreffend, obwohl Jakobus bei genauerer Erwägung des Folgenden etwas anderes zu beabsichtigen scheint, nämlich dies: Wenn ihr nicht selbst des Gesetzes Strenge erfahren wollt, so seid auch nicht gegen euren Nächsten zu streng. Das „Gesetz der Freiheit“ bedeutet dasselbe wie die Milde Gottes, die uns vom Fluch des Gesetzes befreit. Man muss also diesen Vers im Zusammenhang mit dem folgenden lesen, wo das Tragen der Schwächen anderer besprochen wird. Gewiss ist dann der Zusammenhang im richtigen Flusse: Wenn keiner von uns vor Gott stehen bleiben kann ohne Lösung und Befreiung von der vollen Strenge des Gesetzes, dann müssen wir auch so handeln, dass wir nicht durch übermäßige Schärfe unserer Forderungen Gottes Verzeihung ausschließen, deren wir doch im höchsten Maße bedürfen.
V. 13. Es wird aber ein unbarmherzig Gericht usw. Das ist die Anwendung des vorigen Verses auf den gegenwärtigen Fall, welche die oben gegebene, zweite Auslegung bestätigt. Der Inhalt ist: weil wir allein durch Gottes Erbarmen Bestand haben, so müssen auch wir Barmherzigkeit üben an denen, die der Herr selbst uns befiehlt. Das ist doch eine ganz besondere Empfehlung der Freundlichkeit und Güte, wenn wir die Verheißung erhalten, Gott werde gegen uns barmherzig sein, wenn wir so gegen die Brüder gewesen sind. Nicht, dass Gottes Barmherzigkeit durch das, was wir davon haben und den Menschen erweisen, verdient würde! Aber Gott will, dass die, welche er mit Absicht, ihnen ein nachsichtiger und freundlicher Vater zu sein, als Kinder annahm, auf der Erde sein Bild tragen und zeigen nach jener Forderung Christi (Lk. 6, 36): Seid barmherzig wie euer himmlischer Vater. Umgekehrt ist zu merken, dass der Apostel nichts Härteres oder Schrecklicheres androhen kann als Gottes Gericht. Daher sind Leute, die keine Zuflucht zur Vergebung haben, mehr als elend und verloren.
Die Barmherzigkeit rühmt sich wider das Gericht.Die Meinung ist etwa: allein Gottes Barmherzigkeit ist es, die uns von dem schrecklichen Gericht befreit. „Sich rühmen“ fasst Jakobus nämlich als siegreich oder überlegen sein. Das Urteil der Verdammnis liegt auf der ganzen Welt, wenn nicht die Barmherzigkeit zu Hilfe kommt. Hart und gezwungen ist die Auslegung derer, welche die Person unter dem Namen der Sache bezeichnet sehen wollen, als ob dastände: „der Barmherzige“. Es rühmt sich auch nicht eigentlich der Mensch wider Gottes Gericht, sondern die Barmherzigkeit Gottes selbst triumphiert in gewissem Sinne und behält allein das Reich, während des Gerichtes Strenge aufhört. Gleichwohl stelle ich nicht in Abrede, dass ein zuversichtliches Rühmen dann entsteht, wen die Gläubigen erkennen, dass der Zorn Gottes sozusagen der Barmherzigkeit Platz macht, und wenn diese ihnen hilft, damit jener sie nicht erdrücke.
V. 14. Was hilft es usw. Die Empfehlung der Barmherzigkeit ist immer noch der leitende Gesichtspunkt. Gegen die Drohung, Gott werde die Unfreundlichkeit und Unbarmherzigkeit gegen den Nächsten mit strengem und grausigem Gericht vergelten, gebrauchen Heuchler die Ausflucht, der Glaube, in dem ja das Heil des Menschen liege, sei genugsam. Gegen diese eitle Phrase richtet sich jetzt der Angriff. Das Ziel der Erörterung ist also: der Glaube ohne die Liebe nützt nichts, ist völlig tot. Aber nun erhebt sich die Frage, ob denn der Glaube von der Liebe getrennt werden könne. Und wirklich hat ja eine verkehrte Auslegung dieser Stelle jene oberflächliche Unterscheidung eines unausgebildeten und ausgebildeten Glaubens hervorgebracht. Aber auch nicht die Spur eines derartigen Gedankens hat Jakobus gehegt, denn aus den ersten Worten steht es fest, dass er von einem heuchlerischen Bekenntnis spricht. Er beginnt doch nicht: „so jemand den Glauben hat“, sondern: „so jemand sagt, er habe den Glauben“. Damit weist er doch deutlich darauf hin, dass die Heuchler mit dem leeren Begriff des Glaubens protzen, der in der Tat ihnen nicht im Geringsten zukommt. Wenn er hier also im Sinne seiner Gegner den Begriff des Glaubens handhabt, so ist das eine Konzession, ein Zugeständnis, das er ihnen nur zum Zwecke der logischen Auseinandersetzung macht. Wofern wir nur auf der Sache bestehen bleiben, können wir ohne Schaden, ja vielleicht zum Vorteil der Sache, dem Gegner eine gewünschte Begriffsbestimmung zugestehen, weil ja bald infolge gründlicher Auseinandersetzung der Sache auch der Begriff ihm ohne Schwierigkeit geraubt werden wird. Vollauf imstande, den falschen Vorwand der Heuchler zu widerlegen, wollte Jakobus den Streit über des Wortes Begriff beiseitelassen. Halten wir uns also doch im Gedächtnis, dass er nicht von seinem eigentlichen Standpunkt aus redet, wenn er hier den Begriff des Glaubens gebraucht, sondern im Kampf mit solchen, die den Glauben, dessen sie gänzlich entbehren, fälschlicherweise zu haben behaupten.
Kann auch der Glaube ihn selig machen?Das ist ebenso, als wenn es hieße: die bloße, kalte Erkenntnis Gottes bringe uns nicht im Geringsten das Heil, was ja alle als gewiss zugeben. Denn darum wird uns das Heil aus dem Glauben zuteil, weil derselbe uns mit Gott verbindet. Das geschieht aber nicht anders, als wenn wir in den Leib Christi eingepflanzt werden, so dass wir aus seinem Geiste die Lebenskräfte ziehen und dadurch auch von ihm regiert werden. In jenem toten Schatten des Glaubens gibt es etwas Derartiges freilich nicht; daher ist es kein Wunder, wenn Jakobus ihm die Heilskraft abspricht.
V. 15. So aber ein Bruder usw. Dies Beispiel ist dem Kreise entnommen, in welchem sich der Gedanke jetzt bewegt. Die Mahnung geht, wie gesagt, auf die Pflicht der Liebe. Wenn nun einer dagegen sich rühmt, er sei mit dem Glauben ohne Werke zufrieden, so vergleicht Jakobus diesen schattenhaften Glauben mit dem Gerede eines Menschen, der einen Hungrigen sich sättigen heißt, ohne ihm die Speise, deren er begehrt, zu reichen. Wie also der den Armen zum Narren hat, der ihm mit bloßen Worten hilft, aber keine tatsächliche Hilfe schafft, so spotten die Gottes, die sich einen Begriff des Lebens zurecht machen, der alles Werkes und jeder frommen Pflichterfüllung bar ist.
V. 17. Tot an ihm selber.So nennt Jakobus den Glauben, welcher der guten Werke ledig ist. Daraus folgt für uns, dass er eigentlich auch kein Glaube ist: als etwas Totes kann er ja auch nicht den Namen behalten. Das ist törichte Spitzfindigkeit, darauf zu bestehen, dass hier doch immer noch ein gewisser Glaube vorausgesetzt werde. Aber ohne Mühe wird eine derartige gottlose Sophisterei widerlegt, da es doch klar genug ist, dass der Apostel einen unmöglichen Fall setzen will, wie Paulus (Gal. 1, 8) den Engel verflucht, der es wagen würde, das Evangelium zu fälschen.
V. 18. Aber es möchte jemand sagen.Eine Auslegung sieht hier zwei Menschen miteinander Zwiesprache pflegen, von denen der eine eines Glaubens ohne Werke sich rühmt, der andere der Werke ohne Glauben – und lässt endlich beide von der auf der Mitte sich haltenden Antwort des Apostels widerlegt werden. Diese Auslegung scheint mir zu gezwungen. Sie hält es für undenkbar, dass Jakobus das sagen sollte: du hast den Glauben,er der doch keinen Glauben ohne Werke anerkennt. Aber darin irrt sie sich sehr, dass sie die Ironie in diesen Worten nicht anerkennt. Deswegen möchte ich den Vers wohl als eine Herausforderung an jemanden fassen, um die törichte Prahlerei derer zu widerlegen, welche den Besitz des Glaubens sich einbilden, während sie durch den tatsächlichen Bestand ihres Lebens ihren Unglauben verraten. Denn Jakobus sagt, allen heilig lebenden Frommen sei genug zur Hand, um solche Prahlerei den Heuchlern auszutreiben.
Zeige mir deinen Glauben ohne Werke.Wenn auch in den griechischen Handschriften die Lesart „aus den Werken“ ziemlich verbreitet ist, so passt die lateinische „ohne die Werke“, die auch in manchen griechischen Abschriften gelesen wird, doch besser. So habe ich sie auch ohne Bedenken vorgezogen. Wenn nun Jakobus den Glauben ohne die Werke zu zeigen befiehlt, so rechnet er mit der Unmöglichkeit, um darzutun, dass da kein Glaube vorhanden sein kann. Seine Redeweise ist also ironisch. Wenn aber einer doch lieber der anderen Lesart folgen will, so kommt er doch auf das Gleiche hinaus: zeige mir den Glauben aus den Werken, da er doch, wenn er nicht ein untätiges Ding ist, sich notwendigerweise in Werken beweisen muss. Der Sinn ist also: kannst du keine Früchte deines Glaubens beibringen, so spreche ich ihn dir ab. Freilich kann man fragen, ob denn eine äußerlich gute Lebensführung ein gewisser Beweis des Glaubens sei. Jakobus sagt ja: Ich will dir meinen Glauben aus meinen Werken zeigen.Ich antworte auf die Frage: auch die Ungläubigen glänzen manchmal durch scheinbare Tugenden und führen ein ehrenhaftes Leben ohne jeden Vorwurf; es können also anscheinend vorzügliche Werke doch vom Glauben getrennt sein. Aber Jakobus behauptet auch gar nicht, dass jeder Glauben habe, der ehrbar erscheint. Nur das ist seine Behauptung: ohne das Zeugnis der guten Werke wird der Besitz des Glaubens vergeblich in Anspruch genommen, weil aus einem guten Baum, wenn die Wurzel lebendig ist, stets gute Früchte hervorgehen müssen.
V. 19. Du glaubst, dass ein einiger Gott ist.Dieses eine Wort macht es mehr als deutlich, dass diese ganze Verhandlung nicht eigentlich den Glauben zum Gegenstand hat, sondern die gewöhnliche Erkenntnis von Gott, welche den Menschen ebenso wenig mit Gott in Gemeinschaft bringt, als ihn der Anblick der Sonne zum Himmel erhebt. Der Glaube aber bringt uns an Gott heran, das ist gewiss. Außerdem ist es ja zum Lachen, wenn einer von Teufeln sagt, sie hätten Glauben. Aber sie zieht Jakobus, was diesen Punkt angeht, noch den Heuchlern vor. Es zittern die Teufel, sagt er, bei der Erwähnung Gottes; wenn sie ihren Richter erkennen, werden sie natürlich mit Furcht vor ihm erfüllt. Wer Gott kennt und verachtet ihn, der steht deshalb noch unter dem Teufel. Das: Du tust wohl daran steht hier in geringschätzigem Sinne, etwa wie: das ist natürlich etwas Bedeutendes, unter den Teufeln sitzen!
V. 20. Willst du aber erkennen usw. Hier muss man die Fragestellung fest im Auge behalten. Hier ist nämlich nicht eine Auseinandersetzung über die Ursache der Rechtfertigung, sondern nur darüber, was das Erkennen des Glaubens ohne begleitende Werke vermöge, und wie es zu werten sei. Die handeln also verkehrt, die sich darauf steifen, dass dieses Wort die Rechtfertigung aus den Werken belege: nichts derart hat Jakobus im Auge. Seine Beweisgründe sind nur darauf angelegt, dass kein Glaube – höchstens aber ein toter – ohne Werke ist. Niemand und nirgendwo wird das rechte Verständnis und Urteil über einen Abschnitt möglich sein, wenn man sich nicht die eigentliche Absicht des Schriftstellers klarmacht.
V. 21. Ist nicht Abraham durch die Werke gerecht worden?Oberflächliche Erklärer greifen das Wort „gerecht werden“ hier auf und machen dann einen Siegeslärm, es sei hier die Gerechtigkeit in die Werke gelegt – und doch muss eine gesunde Auslegung aus dem ganzen Zusammenhang gesucht werden. Wir haben schon gesagt, dass Jakobus hier gar nicht davon handelt, woher und auf welche Weise die Menschen Gerechtigkeit erlangen – und das ist doch jedermann ganz klar – sondern dass er nur die ständige Verbindung der guten Werke mit dem Glauben im Auge hat. Wenn er also bekennt, dass Abraham durch Glauben1) gerecht geworden sei, so spricht er vom Beweis der Gerechtigkeit. Wer daher den Jakobus dem Paulus entgegensetzt, der benutzt den Doppelsinn des Wortes Rechtfertigung zu grundlosem Geschwätz. Denn wenn Paulus die Rechtfertigung aus dem Glauben lehrt, so bezeichnet er damit nichts anderes, als dass wir dahin kommen, vor Gott gerecht geachtet zu werden. Jakobus aber hat etwas gänzlich anderes im Auge: nämlich dass der, welcher sich als gläubig bekennt, seines Glaubens Wahrheit durch Werke beweisen möge. Sicherlich hat Jakobus hier nicht lehren wollen, wo die Heilsgewissheit ihren Ruhepunkt suchen muss, was doch das einzige Interesse des Paulus in der Rechtfertigungslehre ist. Um also nicht in den Widerspruch zu verfallen, der jene oberflächlichen Leute täuscht, muss man sich den zwiefachen Sinn für das Wort Rechtfertigung merken, dass sie für Paulus besteht in der geschenkweisen Zuerkennung der Gerechtigkeit vor Gottes Richterstuhl, für Jakobus aber in dem Erweis der Gerechtigkeit aus ihren Wirkungen, und zwar für das Urteil der Menschen, wie man aus den vorhergehenden Worten schließen kann: zeige mir deinen Glauben usw. In diesem Sinne gestehen wir, dass der Mensch ohne Zweifel aus den Werken gerechtfertigt werde, derart, wie man etwa von einem Menschen sagt, er sei durch den Kauf eines großen und wertvollen Landguts reich geworden, weil seine vorher im verschlossenen Schrein verborgenen Reichtümer nun bekannt wurden. Wenn Jakobus nun sagt, dass der Glaube mitgewirkt hat an seinen Werken und aus jenen vollkommen geworden sei, so zeigt er von neuem, dass hier nicht die Ursache unseres Heils den Gegenstand der Frage bildet, sondern dies: ob Werke notwendigerweise den Glauben begleiten. Denn in diesem Sinne heißt es ja, er habe mitgewirkt an den Werken, weil er eben nicht müßig war. Aus den Werken vollkommen geworden, heißt er nicht daher, dass er von dorther seine Vollkommenheit empfinge, sondern deshalb, weil er von daher den Beweis seiner Wahrheit erhält. Denn die faule Unterscheidung eines ausgebildeten und unausgebildeten Glaubens, die sophistischerweise aus dieser Stelle abgeleitet wird, bedarf keiner langen Widerlegung. Ausgebildet und fertig war Abrahams Glaube vor der Opferung seines Sohnes. Die war nicht etwa nötig als letzte Hand, weil ja doch noch viele Ereignisse darauf gefolgt sind, in denen Abraham seines Glaubens Wachstum gezeigt hat. Also war dieses Werk weder die Vollendung seines Glaubens noch auch die erste Ausbildung seines Glaubens. Jakobus will lediglich sagen, dass Abrahams gesunde, innere Stellung völlig klar ersichtlich wurde, weil er jene vorzügliche Frucht seines Gehorsams hervorbrachte.
V. 23. Und ist die Schrift erfüllt usw. Wer mit dem Zeugnis des Jakobus beweisen will, dass Abrahams Werke zur Gerechtigkeit angerechnet sind, der muss notwendigerweise gestehen, dass die Schrift von ihm bös verdreht werde. Denn wie sehr man sich auch drehe, kann man doch niemals machen, dass die Wirkung eher sei als die Ursache. Angezogen wird 1. Mo. 15, 6. Die Anrechnung zur Gerechtigkeit, der dort gedacht wird, ging um mehr als 30 Jahre jenem Werke, durch das man ihn gerechtfertigt sein lässt, voraus. Wenn 15 Jahre vor Isaaks Geburt der Glaube dem Abraham zur Gerechtigkeit angerechnet worden war, so kann diese Anrechnung sicherlich nicht erst durch Isaaks Opferung geschehen sein. In einen unlöslichen Knoten dürften sich die Ausleger verstricken, die Abrahams Gerechtigkeit vor Gott zugerechnet sein lassen infolge der Opferung seines Sohnes Isaak, der noch nicht geboren war, als der heilige Geist schon verkündete, Abraham sei gerecht. Notwendigerweise bleibt nur über, dass wir irgendetwas Späteres gemeint sein lassen. Auf welche Weise soll denn die Erfüllung nach Jakobus stattfinden? Er will ja eben zeigen, welcher Art jener Glaube gewesen ist, der den Abraham gerechtfertigt hat, nicht in müßiger und eitler, sondern ein solcher, der ihn Gott gehorsam machte, wie er auch Hebr. 11, 8 aufgefasst wird. Die gleich hinzugefügte, aus unserem Satz abgeleitete Folgerung hat ebenfalls keinen anderen Sinn (V. 24): der Mensch wird nicht durch den bloßen Glauben gerechtfertigt, d. h. durch eine nackte und leere Kenntnis Gottes. Gerechtfertigt wird er durch Werke, d. h. aus den Früchten wird seine Gerechtigkeit erkannt und als gültig erwiesen.
V. 25. Desselbigengleichen die Hure Rahab usw. Wer so Ungleiches zusammenkoppelt, scheint töricht zu handeln. Warum hat Jakobus denn nicht aus der großen Zahl der viel ansehnlicheren Väter einige ausgewählt, um sie Abraham hinzuzugesellen? Warum zog er ihnen allen die Hure vor? Wohlbedachterweise hat er zwei so unterschiedliche Personen miteinander verbunden, um den Beweis desto schlagender zu machen, dass kein einziger, welcher Lage, welchem Volke oder Stande er angehören mochte, jemals ohne gute Werke zu den Gerechten oder Gläubigen gezählt worden sei. Er hat den vor allen anderen ausgezeichneten Erzvater genannt; nun fasst er unter dem Beispiel der Hure alle zusammen, die der Gottesgemeinde fern standen und ihr nun einverleibt werden. Also: wer immer als gerecht beurteilt werden will – wenn auch nur, um unter den Letzten noch ein Plätzchen zu finden – der muss mit guten Werken sich als gerecht erweisen. Die spitzfindigen Rechthaber wollen aus der Tatsache, dass Jakobus nach seiner Weise die Rahab aus Werken gerechtfertigt nennt, den Schluss ziehen, dass man durch Verdienst der Werke Gerechtigkeit erlange. Wir behaupten dagegen, dass hier überhaupt über den Weg, auf dem man Gerechtigkeit erlangt, gar nicht verhandelt werde. Wir gestehen wohl zu, dass in der Tat zur Gerechtigkeit gute Werke verlangt werden; aber wir sprechen ihnen die Kraft ab, Gerechtigkeit zu bringen, weil sie doch vor Gottes Urteil nicht bestehen können.