Calvin hat das Buch Hiob in Wochentagspredigten ausgelegt, wie er sie jede zweite Woche jeden Morgen hielt. Der Anfang der Hiobpredigten fällt nach Colladon auf den 26. Februar 1554. Wir erfahren bei Colladon weiter, dass Calvin am 20. März 1555 mit den Predigten über das Deuteronomium begonnen hat. Nun beträgt die Zahl der Hiobpredigten insgesamt 159; dies bedeutet, dass Calvin etwas mehr als ein Jahr über das Buch Hiob gepredigt hat (es stand ihm ja nur die Hälfte der Wochentage zur Verfügung). Wir haben daher anzunehmen, dass der Zeitraum zwischen dem 26. Februar 1554 und etwa Mitte März 1555 in den Wochentagspredigten voll und ganz diesem Buche gewidmet war. (Sonntags predigte Calvin nur über neutestamentliche Texte sowie dann und wann über die Psalmen.)
Es war eine entscheidungsschwere Zeit, dieses Jahr der Hiobpredigten. Die Hinrichtung Servets (26. Oktober 1553) bewegte die Gemüter noch sehr, und Calvin kommt in den Hiobpredigten wiederholt auf sie zu sprechen. Erst recht aber bahnte sich die große Entscheidung an, die im Jahre 1555 endgültig fiel: Calvins Kampf mit seinen Gegner in der Genfer Bürgerschaft und im Rate war auf dem Höhepunkt. Wir werden vermuten können, dass die schweren inneren Spannung, denen der Reformator gerade in dieser Zeit ausgesetzt war, mit den Anlass zur Wahl des Predigtgegenstandes gegeben haben, und der Inhalt der Predigten lässt sowohl die inneren Nöte Calvins als auch die Härte der kirchenpolitischen Auseinandersetzungen oft genug deutlich durchblicken.
Wer Calvin als Theologen und Menschen kennenlernen will, verdankt den angedeuteten Zeitumständen sowie erst recht den mannigfaltigen Anlässen, die der Text des Hiobbuches bot, einen besonders tiefen Einblick in Calvins Frömmigkeit, vor allem in die Art und Weise, wie er Anfechtungen durchlebte und mit ihnen in hartem Kampf fertig zu werden versuchte. Die Predigten tragen bei aller sachlichen Bemühung um den Text und bei aller Gebundenheit an ihn einen starken persönlichen Charakter, und wir gewinnen bei ihrer Lektüre den Eindruck, dass Calvin an der Gestalt Hiobs für seine eigenen Entscheidungen Vorbild wie Warnung empfing.
Wichtiger aber sind die Aufschlüsse, die wir aus diesen Predigten über die Theologie Calvins gewinnen. Es liegt in der Natur der Sache, dass der Reformator hier genötigt war, seine Gotteslehre in aller Breite und Deutlichkeit zu entwickeln, und man kann behaupten, dass die Hiobpredigten für Calvins Lehre von Gott, von der Vorsehung, für seine Wertung des Leids und überhaupt seine Betrachtung des menschlichen „Schicksals“ eine der wichtigsten Quellen darstellen. Vieles, das sonst nur anklingt, wir hier mit voller Klarheit entfaltet, so z. B. der wichtige Gedanke, dass Gott eine „zwiefache Gerechtigkeit“ habe, eine Gerechtigkeit „nach dem Gesetz“ und außerdem noch eine andere, „der auch die Engel nicht zu genügen vermögen“. Auch für die viel umstrittene Frage, ob und in welchem Sinne Calvin eine „natürliche Offenbarung“ gelehrt habe, enthalten diese Predigten wertvolles Material: es wird vor allem deutlich, dass Calvin die Gotteserkenntnis der Heiden – Hiob steht ja außerhalb des geschriebenen Gesetzes – sozusagen historisch auf Offenbarungen zurückführt, die den Vätern vor dem Gesetz, namentlich dem Noah, zuteil geworden und von ihnen weitergegeben worden waren. So fällt von diesen Predigten auf eine ganze Reihe von Fragen ein wenn nicht neues, so doch immerhin verstärktes Licht. Die vorliegende Auswahl bemüht sich, die theologisch besonders wichtigen Stellen trotz der starken Kürzung, die im Ganzen erforderlich war, möglichst vollständig wiederzugeben.
Erst acht Jahre nach ihrer Vollendung, 1563, sind diese Predigten im Druck erschienen, aber immerhin noch früh genug, um Calvin eine Durchsicht zu ermöglichen. Weitere Drucke des französischen Textes sind 1569 und 1611 erschienen. Im Jahre 1593 kam auch, längst erwünscht, eine lateinische Übersetzung heraus, und zwar unter Aufsicht und mit einer Vorrede Theodor von Bezas. Auch eine deutsche Übersetzung ist schon in recht alter Zeit erschienen (Heidelberg 1574) und konnte bei der hier vorliegenden Ausgabe mit zu Rate gezogen werden.
Unsere Ausgabe musste von vornherein darauf verzichten, vollständig zu sein: der vollständige Text macht an Umfang etwa das Anderthalbfache der Institutio aus und würde daher etwa fünf große Bände erfordern. Die Vollständigkeit ist aber auch nicht notwendig: der Charakter des Hiobbuches selbst und die Predigtweise Calvins bringen es mit sich, dass sich in den Predigten der gleiche Gedankengang oft an zahlreichen Stellen wiederholt findet, nicht selten in Nähe zu wörtlicher Übereinstimmung. Es ist daher für den Leser einer Übersetzung nicht nur nicht erforderlich, das Ganze zu lesen, sondern geradezu von Vorteil, wenn er aus Calvins Predigten nur das Wichtigste kennenlernt. So bietet unsere Ausgabe nur etwa ein Fünftel bis ein Sechstel des Bestandes.
In manchen Fällen konnte das so geschehen, dass ganze Predigten mit nur unwesentlichen Kürzungen dargeboten wurden. Oft aber war es nicht zu umgehen, mehrere Predigten zu einer einzigen zusammenzuziehen. Was in den 56 Abschnitten unserer Auswahl geboten wird, sind also nicht lauter geschlossene Predigten, sondern oft zusammengestellte Auszüge aus mehreren. Dies Verfahren erschien umso mehr gerechtfertigt, als Calvin selbst in zahlreichen Fällen mit seiner Predigt abbricht, ehe er den zugrunde gelegten Text bis zu Ende behandelt hat, und dann in der nächsten Predigt zunächst die Auslegung der vom vorigen Tag noch ausstehenden Textstücke nachträgt – für unsere Begriffe eine „Kunstfehler“, der sich aber aus der mehr bibelstundenartigen Predigtweise Calvins erklärt. Auf der anderen Seite kam es darauf an, die Herstellung einer bloß auf das Gedankliche ausgehenden Blütenlese zu vermeiden. Calvin macht zwischen Kommentar, Vorlesung und Predigt deutliche Unterschiede, und die Hiobpredigten sind bei aller Eigenartigkeit der Anlage durchaus Predigten, durchaus auf die Anwendung des Schriftwortes gerichtet. Dieser Wesenszug durfte auch in der Übersetzung nicht verwischt werden. So sehr daher die Kürzungen dem Zweck dienen, Wiederholungen tunlichst zu vermeiden und das Wesentlichste klarer hervortreten zu lassen, so wenig durfte auf eine weitgehende Wiedergabe des im rechten Sinne erbaulichen Stoffes verzichtet werden. Es sind also aus den Hiobpredigten nicht gleichsam theologische Abhandlungen ausgezogen worden, sondern es wurde Wert darauf gelegt, wirkliche Predigtstücke zu bieten, wenn auch teilweise in neuer Zusammenstellung.
Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift
Neue Reihe
In Zusammenarbeit mit anderen herausgegeben von Otto Weber
Zweiter Ergänzungsband:
Predigten über das Buch Hiob
Buchhandlung des Erziehungsvereins, Neukirchen Kreis Moers
Johannes Calvins Predigten über das Buch Hiob
auf Grund der französischen Sermons von 1563
in Auswahl übersetzt und bearbeitet von Lic. Ernst Rochs, Pastor em. in Göttingen
Buchhandlung des Erziehungsvereins, Neukirchen Kreis Moers
Zwanzigster Band der Gesamtausgabe von Calvins Auslegung der Heiligen Schrift
Neue Reihe
Ausgegeben im April 1950
Druck: von Münchowsche Universitäts-Druckerei Wilh. Schmitz in Gießen