23) Wie viel habe ich Sünden und Missetaten? Zeige mir meine Freveltat und Übertretung. 24) Warum verbirgst du dein Antlitz und hältst mich für deinen Feind? 25) Verfolgst du nicht ein zerrissenes Blatt? Verfolgst du nicht einen dürren Halm? 26) Bittere Trübsale verschreibst du mir und lässest über mich kommen die Missetaten meiner Jugend. 27) Du schließest meine Füße in den Stock, dass sie nicht entrinnen, du drückst den Stock in den Grund meiner Füße. 28) Darum verfault er wie ein Baum vom Alter und wie ein Rock, der von den Motten verzehrt wird.
Gott hat eine verborgene Gerechtigkeit, die höher ist als die uns bekannte, die und in seinem Gesetz offenbart ist. Nach dem Maßstab dieser Gerechtigkeit sind selbst die Engel verdammt, und keine Kreatur, mag sie noch so rein sein, kann dieser Gerechtigkeit genugtun. Das führt Hiob an dieser Stelle weiter aus. Zeige mir meine Freveltat und Übertretung! Wie viel habe ich Sünden und Missetaten? Darin liegt freilich das Bekenntnis, dass er sich demütigen muss, weil Gottes Hand ihn schlägt, aber gleichwohl kann er sich nicht damit zufrieden geben, dass Gott ihn schlägt, ohne ihm zu sagen warum. Und da liegt sein Fehler. Denn wenn Gott uns unsere Sünden spüren lässt und uns zeigt, dass wir nur deshalb gestraft werden, weil wir ihn mannigfach erzürnt haben, so tut er uns damit eine ganz besonders große Gnade an, wenn wir nur soviel Verständnis haben, uns zu verdammen und ihn um Verzeihung zu bitten. Sind wir aber verstockt, so hilft uns auch die Erkenntnis unserer Sünden nichts. Wissen wir aber nicht, weshalb er uns so züchtigt, so dürfen wir gleichwohl nicht murren, sondern müssen die Augen niederschlagen und sprechen: Herr, ich will warten, bis du mir zeigst, was du mit deinen Trübsalen für einen Zweck verfolgst. Gewiss, wir dürfen wohl den Wunsch hegen, Gott möge uns zu verstehen geben, was er uns mit den Trübsalen sagen will; gleichwohl aber müssen wir so bescheiden sein, dass wir solange schweigen, bis es ihm gefällt, uns genauer zu erklären, was uns dunkel ist. Hiob hat jedenfalls das eine gespürt: Es ist Gott, der mich betrübt. Sodann aber ist er durchaus davon überzeugt, dass er nichts damit gewinnt, wenn er mit Gott rechtet. Dabei aber wusste er ganz genau, dass ihn Gott nicht einfach betrübt, wie er im Allgemeinen die Menschen zu betrüben pflegt; er bekennt, dass dem ein verborgener Rat Gottes zugrunde liegen muss. Das hat er gewusst, und deshalb musste er geduldig sein.
In allen diesen Dingen hat Hiob keinen Fehler gemacht. Denn es ist etwas Großes, wenn wir nicht allein die Hand Gottes merken, die uns schlägt, und seine Schläge spüren, sondern wenn wir auch wissen, woher das kommt. Und dazu müssen wir wissen, dass Gott allezeit gerecht erfunden wird und dass all unser Murren uns nicht weiterhilft, sondern dass wir immer unsere Sache verlieren. Ist das nicht eine feine Lektion, wenn wir sie recht lernen und behalten? Auch das sollen wir erkennen, dass es bei Gott heimliche Gerichte gibt, die wir nicht verstehen können, und das soll uns erst recht demütig machen.
Aber dabei müssen sich die Menschen auch zufrieden geben und abwarten, bis Gott ihnen offenbart, was ihnen jetzt noch verborgen ist. Darin hat Hiob gefehlt. Aber wir dürfen nicht vergessen: Seine Plage war so große, dass man sich nicht wundern darf, wenn er darüber in Verwirrung gerät und der Wunsch in ihm aufsteigt, Gott möge wenigstens nach dem Maß seiner Sünden mit ihm handeln und ihn nicht noch darüber hinaus verfolgen. Denn wenn Gott eine arme Kreatur also anfasst und seinen Arm ausreckt, als wolle er sie mit Blitz und Donner erschlagen, und der Mensch fühlt dann gar keine Erquickung, sondern seine Qual nimmt mehr und mehr zu, so dass er kein Ende seiner Not mehr sieht, so tief liegt er im Abgrund – ach, darf man sich da verwundern, wenn ihm da einmal ein unschickliches Wort entfährt? So aber war es bei Hiob. Darum lasst uns Gott bitten, wenn er uns in solche Kämpfe führen will, so wolle er es doch nicht zulassen, dass wir erliegen, und selbst wenn wir in unserer Schwachheit in Gefahr kommen, in ganz schlechte Gedanken zu geraten, so wolle er uns an sein Herz nehmen und uns wieder dahin bringen, dass wir ihm in seinen unbegreiflichen Gerichten die Ehre geben.
Nun aber könnte man fragen, warum Hiob nicht einfach sagt: Wie viel habe ich Sünden? – sondern warum er noch hinzufügt: und Missetat, Frevel und Übertretung? Warum tut er das? Es ist, als wollte er sagen: Wenn Gott auch noch so scharf prüft, er wird doch nichts finden, weshalb er mich so hart behandeln müsste. Nicht dass Hiob sich für gerecht ausgeben wollte, nein, er redet aus einer inneren Verwirrung heraus und achtet nicht auf seine Gedanken. Nur daran denkt er, dass es nicht so ist, wie seine Freunde ausgesprochen haben, als strafe Gott ihn deshalb, weil er ein größerer Sünder wäre als andere. Und darin hat er vollkommen Recht, aber er denkt nicht gründlich darüber nach. Kurzum, er meint: Wenn Gott alles Böse in ihm richtig untersucht, so wird er nicht finden, dass die Strafen, die er leiden muss, ihren Grund in seinen Missetaten haben.
Manche machen einen Unterschied zwischen der Sünde, die mit Willen, und der, die aus Unwissenheit geschieht, zwischen Sünde, die man wider Gott begeht, und solcher, die, wie man sich ausdrückt, durch Unterlassung geschieht. Aber diese Unterscheidung ist kaum begründet. Hiob will nur das Wesen der Sünde erschöpfend zum Ausdruck bringen. Wenn Gott von seinem Gesetz und seinen Geboten redet, so bedient er sich auch verschiedener Worte, wie Ordnungen, Satzungen, Verfügungen, Rechte und dergleichen; es sind wohl sieben oder acht Worte, die sich alle auf dies eine beziehen. Warum tut er das? Er will damit sagen: Wenn wir nicht richtig wandeln, so können wir wenigstens keine Unwissenheit vorschützen; denn er gibt uns genaue Anweisung, wie wir zu wandeln haben. Die sich nun verfehlen, denen liegt nichts daran, Gott zu gehorchen; denn wollten wir wirklich in seinem Wort studieren, so würden wir nimmer fehlen können; denn er würde uns in allen Dingen völlig leiten. Gott leitet uns so sorgfältig, dass wir gar keinen Fehltritt tun können, wenn wir seiner Belehrung folgen. Wenn wir nun gleichwohl fehlen, so sind wir umso unentschuldbarer. Gott hat uns viele Mauern aufgebaut, um uns in den Schranken zu halten, er hat uns einen ganz bestimmten Weg bereitet, er hat uns auf allen Seiten Grenzen gezogen, ja, er will uns sogar leiten, dass wir weder zur Rechten noch zur Linken abweichen können, zudem fügt er seinen Belehrungen auch noch Ermahnungen hinzu – alles Dinge, die wir nur zu brauchen haben, um ganz sicher zu gehen. Setzen wir uns nun dazu in Gegensatz, so sieht man wohl: Es geschieht aus überlegter Bosheit, ja geradezu aus Wahnsinn. Auch David redet im 32. Psalm von Sünden, Missetaten und Übertretungen. Wäre es nicht genug, einfach zu sagen: „Wohl dem, dem die Übertretungen vergeben sind“? Aber er will die grenzenlose Gnade zum Ausdruck bringen, die Gott an uns tut, wenn er uns unsere Fehler vergibt. Denn wenn Gott mit uns abrechnen wollte, ach, da würde gar kein Ende sein, und wir würden schon wegen eines einzigen Stückes zu Schanden werden; aber wenn Gott uns wegen eines einzigen Punktes verdammte, so würde er sofort wieder von vorne anfangen. David weiß: Die Menschen stecken in einer abgrundtiefen Verdammnis, wenn Gott sie nicht in seiner grenzenlosen Güte herauszieht; darum sollen sie fleißig an ihre Übertretungen, Frevel und Missetaten denken und sie sich zu Herzen nehmen; deshalb bedient er sich auch so vieler Worte.
Nun aber will Hiob sagen: Gewiss, die Menschen können auf mancherlei Weise fehlen, und sie sind auf mancherlei Weise schuldig vor Gott, aber soviel ist sicher: Man mag mein Leben noch so genau durchprüfen, so gibt´s doch darin keine Frevel, Missetaten und Übertretungen, die eine so harte Behandlung Gottes verdienten. Dabei aber hat Hiob sich nicht rechtfertigen wollen, als wäre er vollkommen, er achtet nur auf Gottes Absicht bei seinen Strafen: Gott sah nicht auf seine Sünden, so groß sie auch sein mochten, er wollte nur seine Geduld erproben, deshalb betrübte er ihn. Wenn Gott Gewalt gegen uns brauchen will, ohne uns Unrecht zu tun, so kann er uns wohl um einer einzigen Sünde willen derart plagen, dass wir nicht aus noch ein wissen. Wollte er uns aber um aller unserer Sünden willen strafen, so würde er erst recht gar kein Ende finden. Und wenn er auch bei seinen Strafen keinen unmittelbaren Bedacht auf unsere Sünden nähme, so wäre er dennoch gerecht, so wäre doch unser Platz zu seinen Füßen, in rechter Demut.
Nachdem Hiob verlangt hat, Gott wolle sich in ein ordentliches Gerichtsverfahren mit ihm einlassen, fährt er fort: Warum verbirgst du dein Antlitz und hältst mich für deinen Feind? Verfolgst du nicht ein zerrissenes Blatt? Verfolgst du nicht einen dürren Halm? Hier hält Hiob Gott seine Schwachheit vor, um etwas Linderung in seinen Trübsalen zu erlangen. Wäre er dabei verfahren, wie die Gläubigen es gemacht haben, so wäre seine Bitte gut und heilig. Wollen wir Gnade bei Gott erlangen, soll er uns von unsern Sünden befreien und uns zu Hilfe kommen, so können wir ihm nur eins vorhalten: unsere Schwachheit. Die Narren bringen ihre Würdigkeit vor Gott, Gott soll ihnen zu Dank verpflichtet sein – wir aber können nichts anderes sagen, als dass wir elende Menschen sind. Wollen wir also Gnade bei Gott erlangen, so müssen wir es machen wie Hiob, nur in anderer Gesinnung. Hiob ließ sich von einer allzu großen Heftigkeit treiben, weil er unter dem Druck der Hand Gottes müde und verbittert geworden war. Wenn wir Gott unser Elend vor Augen halten, so müssen wir es tun, um ihn zum Erbarmen gegen uns geneigt zu machen. Von solchen Aussprüchen der Gläubigen ist die Heilige Schrift voll: Ach Herr, was ist der Mensch? Und David sagt: Siehe, mein Leben ist nichts als ein Hauch, der dahinfährt und nicht wiederkommt – Herr willst du dich denn nicht erbarmen, uns zu helfen, wo du doch siehst, wie gebrechlich wir sind? Und dass Gott solche Gebete erhört, geht aus andern Zeugnissen deutlich hervor: „Er gedachte, dass sie Fleisch sind, ein Wind, der dahinfährt und nicht wiederkommt“ (Ps 78, 39). Wir dürfen uns wohl Hiobs Gebetsworte zu eigen machen, aber es muss nur in rechter Demut geschehen: Herr, siehe, was ich bin; ich bin wie ein Blatt, ja ein verwelktes Blatt, dennoch willst du mich ausreißen und in den Abgrund versenken – ach, wer bin ich denn? Ich bin wie ein dürrer Halm, ein abgemähtes Gras ohne Saft und Kraft; ach, mein Gott, verfolgst du mich noch weiter, was soll aus mir werden? Sprechen wir so, so wird Gott unsere Klagen annehmen; aber nicht, wenn wir in Hoffart zu ihm kommen, als wäre er uns verpflichtet. Lasst uns aber darauf achten, dass wir ja nicht mit ihm rechten wie Hiob: Warum hältst du mich für deinen Feind? Hiob tut, als wäre das Gottes nicht würdig: Herr, du bist doch allmächtig, und wer bin ich? Weniger als nichts! Und wenn du kommst, mit mir zu streiten, ach, so bin ich nur ein armer fauler Baum ohne Saft und Kraft – und da willst du gegen mich noch Gewalt üben? Nein, wenn Gott auch allmächtig ist und wir über die Maßen schwach, so hat er doch immer Grund genug, sich mit uns in einen Streit einzulassen. Kommt uns das befremdlich vor, so dürfen wir ja nicht so schlau sein wollen, als könnten wir sagen: Nun will ich auch den Grund wissen, weshalb Gott mich so behandelt! So vermessen wollen wir doch nicht sein, dass wir sagten: „Das hat doch keinen Sinn: Gott hat alle Dinge in seiner Hand; schaut er die Berge an, so zerfließen sie wie Wachs vor dem Feuer oder wie Schnee; die Welt versinkt im Abgrund, wenn er nur ein Wörtlein spricht – und dabei fordert er mich zum Zweikampf heraus, und ich bin doch nur eine arme Kreatur! Das hat doch keinen Sinn!“ O, so können wir wohl sprechen, aber Gott braucht nur ein Wort zu sagen, so liegen wir im Staube! Darum dürfen wir ja nicht zu klug sein wollen. Wenn der starke, gewaltige Gott uns züchtigt und seine Majestät uns schrecklich ist, so lasst uns ihm auch dann noch die Ehre geben und gewiss sein: Er ist gerecht und tut alles mit gutem Grund, auch wenn er scheinbar uns entgegentritt und uns in den Abgrund versenken will. Es ist ja auch Grund genug vorhanden, dass er sich für unsern Feind erklärt, wenn wir ihm auch nicht widerstehen können und er uns für nichts achtet. Wir wollen uns eben nicht gutwillig verloren geben; darum zwingt uns Gott dazu, wenn er uns straft, wie wir´s verdient haben. Ist das nicht Grund genug für Gott, sich als unsern Feind zu erzeigen? Gott will sehen, ob wir beständig und fest bleiben in seinem Dienst, ob es gleich aussieht, als wäre er unser Feind. Was ist der Mensch, wenn Gott ihn in seinem natürlichen Stande lässt? Er ist viel zu selbstgefällig; wir stecken ja bis über die Ohren in unserer Hoffart und bilden uns wunders was ein auf unsere Weisheit und Tugend und alles. Was aber sagt die Schrift? Ein zerrissenes Blatt, ein verwelktes Gras, ein dürrer Halm, das sind wir: saft- und kraftlos; es ist nichts mit uns, und alle unsere eingebildete Herrlichkeit ist eitel Wind.
Hiob fährt fort: Bittere Trübsale verschreibst du mir und lässest über mich kommen die Missetaten meiner Jugend; du schließest meine Füße in den Stock. Das sind lauter Zeichen des Zornes Gottes. Weil die Gerichtsurteile häufig schriftlich abgefasst werden, so passt sich Hiob dem allgemeinen Sprachgebrauch an: Gott „schreibt gegen ihn Bitterkeiten“, wirft ihm die schlimmsten Verbrechen vor. Demgemäß beklagt sich Hiob, Gott schreibe wider ihn ein zu strenges Urteil. Dann fügt er hinzu: Du lässest über mich kommen, lässest mich „besitzen“ die Missetaten meiner Jugend. Gott macht, dass er sie nicht los wird, er ist gleichsam daran gebunden. Wenn ein Mensch in seinem Hause, auf seinen Feldern ist, so ist er mit seinem Besitz bekleidet: so lässest du mich „besitzen“ die Missetaten, ich kann den verfluchten und unseligen „Besitz“ meiner Sünden nicht loswerden, ich bin darein verwickelt und kann nicht herauskommen. Das weiß Hiob ganz gut, dass Gott berechtigte Ursache hat, ihn zu plagen, und doch gerät er immer wieder in Ungeduld und Bitterkeit.
Warum aber spricht er von den Missetaten seiner Jugend? Zunächst weil in der Jugend die Begierden am heftigsten sind. Deshalb heißt es Psalm 119, 9: „Wie wird ein Jüngling seinen Weg unsträflich gehen? Wenn er sich hält nach deinen Worten.“ Warum ist mehr von den jungen Leuten als von den andern die Rede? Die menschliche Natur ist zu allen Zeiten lasterhaft und schlecht; aber in der Jugend schäumt sie besonders auf, da brausen die Leidenschaften am heftigsten und bedürfen deshalb eines stärkeren Zügels. Die Jugend ist voller Unbedachtsamkeit und maßloser Begierden, ein junger Mensch ist blind, er will alles können, Bescheidenheit und Mäßigung kennt er nicht, er ist lauter Vermessenheit und Stolz.
Zugleich aber liegt in diesen Worten Hiobs eine Anklage, als verfahre Gott zu scharf mit ihm: Herr, wenn ich anderweitig gesündigt habe, nun, da hast du mir die Gnade erzeigt, mich wieder zurecht zu bringen, und mich wieder in deinen Dienst geführt – warum häufst du denn meine Sünden wieder vor mir auf, die doch längst vergessen sein sollten? Warum stellst du sie mir denn aufs Neue vor Augen? Wenn du sie mir doch vergeben hast, weshalb muss ich denn immer noch damit zu schaffen haben? So meint es Hiob. Aber wenn Gott uns allerlei Zeichen seiner Strenge gibt und uns zeigt, dass wir ihm ein Gräuel sind, so müssen wir ja nicht denken, wir könnten mit Klagen und Beschwerden etwas gewinnen. Denn wir müssen uns immer wieder sagen: wir hätten doch viel mehr verdient. Wie kommt es, dass Gott gegen uns nicht so freundlich ist wie sonst gegen die Seinen? Wenn Gott uns mit der Last seines Gerichtes drückt, so tut er das, weil wir solch kräftige Arznei nötig haben; denn es ist wahrlich kein leichtes Ding, einen Menschen zu demütigen, der so zur Hoffart neigt. „Bitterkeit schreibt Gott gegen uns“, damit wir ganz zu Schanden werden; dabei aber ist er immer bereit, uns zu Gnaden anzunehmen. Wohl kann er sich eine Zeitlang verbergen, wie er sich dem Hiob verbarg und wie dieser auch nachher sagt: Warum verbirgst du dein Antlitz? Aber wenn Gott eine Zeitlang sein Antlitz verbirgt, dann zeigt er sich wieder gütig und barmherzig gegen uns, wenn er nur sieht, dass uns das heilsam ist. Er verzieht wohl und lässt uns müde werden, aber zur rechten Zeit wird er uns helfen.
Ob uns Gott gleich unsere alten Sünden vorhält, so tut er uns damit doch nicht Unrecht, und wir haben nichts dawider zu reden; aber umso mehr haben wir ihn zu preisen, wenn wir daran denken, dass er uns unsere alten Sünden vergeben hat und uns noch alle Tage zu Gnaden annimmt. In welchem Zustand findet uns Gott denn vor, wenn wir aus dem Mutterleib kommen? Gewiss, man merkt noch nichts von der Bosheit, die in uns ist, aber ihren Samen tragen wir in uns, und wir sind schon verflucht, weil wir von einem verfluchten und verkehrten Geschlecht stammen. Nun aber verzeiht uns Gott die Erbsünde, das heißt die, die wir aus der Wurzel der Menschheit ziehen. Hat er uns aber diese verziehen, so verzeiht er uns auch die Sünde unserer Kindheit und Jugend. Und kommen wir vor ihn wegen einer Sünde, die wir heute begangen haben, so nimmt er uns in Gnaden an. Ist er aber so langsam zum Zorn und so bereit, uns in Gnaden anzunehmen, muss uns das nicht zu lauter Lobpreis seiner Barmherzigkeit hinreißen? Wenn wir also unsere Stelle lesen, so sollen wir die Mahnung heraushören, dass wir nicht wider Gott murren, wenn er einmal zu scharf und hart mit uns verfährt, sondern wollen ihn bitten, er möge seine Schärfe mildern und uns damit wieder zu sich locken. Nur dürfen wir uns nicht so weit gehen lassen, dass wir uns wider ihn erheben, wenn er in seiner Züchtigung scheinbar übers Maß hinausgeht, er kennt ja unser Vermögen und wird uns nicht mehr auferlegen, als wir tragen können.