In alter Zeit waren nicht nur über den Verfasser dieses Briefes die Meinungen geteilt, sondern der Brief selbst ist in der abendländischen Kirche überhaupt erst spät in die Sammlung heiliger Schriften aufgenommen worden. Man stieß sich daran, dass der Brief gefallenen Sündern die Vergebung zu versagen scheint (6, 4 ff.; 10, 26 ff.). Ich rechne ihn indessen ohne Zweifel unter die apostolische Literatur und bin überzeugt, dass bei der zeitweiligen Verdunklung seines Ansehens der Satan seine Hand im Spiele gehabt hat. Gibt es doch unter den biblischen Schriften keine andere, in der von Christi Priestertum so einleuchtend gesprochen, die Kraft und Erhabenheit des einen, in seinem Tode dargebrachten Opfers so hoch gerühmt, das Zeremonienwesen sowohl nach seinem ursprünglichen Zweck, wie nach seiner vergänglichen Bedeutung ausführlicher behandelt, mit einem Wort, die Wahrheit, dass Christus des Gesetzes Ende sei, vollständiger dargetan würde. Halten wir daher einen solchen Schatz in Ehren!
Die Frage nach dem Verfasser braucht uns nicht aufzuregen. Man hat unter andern auf Lukas, Barnabas oder Klemens1) geraten. Ausgeschlossen scheint mir die Annahme der Abfassung durch Paulus. Schon die Lehrweise und der Stil sprechen genugsam dagegen. Auch ist, um von andern Gründen einstweilen abzusehen, die Art, wie der Briefschreiber sich 2, 3 f. als einen Schüler der unmittelbaren Jünger Jesu bekennt, von der paulinischen sehr verschieden (vgl. z. B. Gal. 1, 11 f.), und was 6, 1 f. über die Einrichtung des damaligen christlichen Elementarunterrichtes beiläufig angeführt wird, passt nicht wohl in die Zeit des Paulus.
Was den Briefinhalt betrifft, so ist vor allem zu bemerken, dass es sich nicht etwa darum handelt, die Hebräer zur Anerkennung der Wahrheit zu bringen, dass Jesus, der Sohn Marias, der verheißene Messias und Erlöser sei. Da nämlich der Verfasser an solche schreibt, die bereits Christen geworden sind, kann er jenen Hauptpunkt als zugestanden voraussetzen. Die Beweisführung dreht sich vielmehr um die Frage, welcher Art das Werk Christi sei, um von da aus zu zeigen, dass mit seiner Erscheinung die Zeremonien ihr Ende erreicht haben. Es ist wichtig, diesen Unterschied festzuhalten. Denn so hätte sich der Apostel überflüssige Arbeit gemacht, wenn er denen, die von der Messianität Jesu überzeugt waren, diese abermals hätte beweisen wollen. So nötig war doch für die Leser eine Belehrung über die Person des Erlösers, sowie über Zweck, Bedeutung und Frucht seiner Erscheinung, weil sie immer noch, in falscher Auslegung des Gesetzes befangen, nach einem Schatten griffen, statt sich der wesenhaften Erfüllung zu freuen.
Der Brief beginnt mit der Hervorhebung von Christi Würde und Erhabenheit und stellt zunächst fest, dass das Wort, das Christus uns gebracht, den höchsten Wert beansprucht, indem es den Abschluss und die Vollendung aller prophetischen Verkündigung darstellt (1, 1 f.). Da den Adressaten die Verehrung, welche sie für Mose empfanden, leicht zum Hindernis dieses Glaubens wurde, so zeigt der Apostel, dass Christus alle andern weit überstrahlt. Um jedoch den Anstoß zu mildern, geht er behutsam zu Werke. Nicht die Vergleichung mit Mose stellt er voran, sondern, nachdem im Allgemeinen die auszeichnenden Ruhmestitel Christi berührt sind (1, 2 f.), betont er im Besonderen das untergeordnete Verhältnis der Engel (1, 4 – 14; 2, 5 ff.). Ist einmal aus der Schrift nachgewiesen, dass selbst die himmlischen Gewalten Christus nachstehen müssen, so kann sich auch Mose oder irgendein anderer Sterblicher dessen nicht weigern so dass der Sohn Gottes über die Gesamtheit der Engel und der Menschen hervorragt. Daher kann jetzt der Apostel, gleichsam kühner geworden, dazu fortschreiten, es auszusprechen: Mose ist umso viel niedriger, als der Knecht hinter dem Herrn zurücksteht (3, 1 – 6). Diese Ausführungen der drei ersten Kapitel über die Christus zukommende, oberste Herrschaft zielen dahin ab, dass alle zu schweigen haben, wenn er redet, und nichts uns abwendig machen darf, seinem Wort aufmerksames Gehör zu schenken. Wir dürfen uns ihm umso bereitwilliger hingeben und überlassen, als ihn das zweite Kapitel zugleich auch in der gewinnenden Gestalt eines Bruders, der unser Fleisch getragen, vor uns hinstellt. Ausdrückliche Ermahnungen gegenüber lässigem Gehorsam oder gar trotzigem Widerstand sind diesem Abschnitt beigegeben (2, 1 – 4; 3, 7; 4, 13).
Von da geht der Briefsteller über zur Darstellung von Christi Priestertum, dessen wahre und reine Erkenntnis allen Zeremonien des Gesetzes ein Ende bereitet. Nachdem er aber nur kurz dabei verweilt, wie wertvoll dieses Priestertum uns sein müsse und was für ein erquickender Trost darin zu finden sei (4, 14 – 5, 10), schiebt er einen Tadel an die Hebräer zwischenein, weil sie wie Kinder in den ersten Anfängen stecken blieben, und schreckt sie mit harter, ernster Drohung: es sei Gefahr, dass sie, wenn im Fortschreiten so lässig, schließlich ganz vom Herrn abfallen würden (5, 11 – 6, 8). Doch mildert er bald diesen rauen Ton, indem er sagt, er wolle sich zu ihnen eines Besseren versehen. Seine Absicht ist, ihnen zum Weiterstreben Mut zu machen, nicht sie niederzuschlagen (6, 9 – 20). Dann kehrt er zur Behandlung des Priestertums Jesu zurück, wobei er zeigt, dass es von dem alten Priestertum unter dem Gesetz sich unterscheide, aber auch weit darüber sich erhebe, weil es, durch einen Eid bekräftigt, zu ewiger, unveränderlicher Geltung bestimmt sei, und weil der, der es verwaltet, Aaron und das ganze levitische Geschlecht an Ehre überrage. Dies alles sieht er in der Person Melchisedeks vorgebildet (7, 1 – 28). Um aber die gesetzlichen Zeremonien umso sicherer als aufgehoben zu erweisen, legt er dar, dass sie selbst, wie auch die Stiftshütte, über sich hinaus auf eine höhere Wahrheit hingedeutet hätten. Wir dürfen also nicht bei ihnen verweilen, wenn wir nicht vor dem Ziel auf halbem Wege stehen bleiben wollen. In diesem Zusammenhang wird jene Stelle aus Jeremia angeführt, wo ein neuer Bund verheißen ist, ein besserer offenbar als der alte, der demnach unvollkommen und hinfällig gewesen sein muss (8, 1 – 13).
Aber nicht nur die Verschiedenheit, sondern auch die Ähnlichkeit und Verwandtschaft werden aufgezeigt, die zwischen den alten Schattenbildern und den wesenhaften Gütern in Christus bestehen. Auch diese Betrachtung ergibt, dass seit dem einen Opfer Christi alle mosaischen Sitten sich überlebt haben, weil dieses Opfer ein für allemal wirksam ist und in ihm sowohl der neue Bund seine vollkommene Bewährung, als auch jenes äußerliche, gesetzliche Priestertum sein wahres, geistliches Gegenstück gefunden hat (9, 1 – 10, 18). – An die lehrhaften Erörterungen schließt sich wiederum eine anspornende Ermahnung, allen Bedenklichkeiten den Abschied zu geben und Christus mit der ihm gebührenden Ehrfurcht bei sich aufzunehmen (10, 19 – 39).
Die zahlreichen, alttestamentlichen Beispiele, die das elfte Kapitel aufzählt, sollen, wie mir scheint, den Hebräern zum Bewusstsein bringen, dass der Schritt von Mose zu Christus, statt sie von den heiligen Vätern zu scheiden, sie vielmehr gerade mit diesen in enge Verbindung setze. Denn da der Väter beste Kraft und die Wurzel aller ihrer Tüchtigkeit der Glaube war, so bildet er das vornehmste Erkennungszeichen der wahren Söhne Abrahams und der Propheten. Wer nicht den Vätern im Glauben folgt, ist aus ihrer Art geschlagen. Das macht nicht den geringsten Ruhm des Evangeliums aus, dass wir darin mit der gesamten Gemeinde Gottes von Anfang der Welt her in Übereinstimmung und Gemeinschaft stehen (11, 1 – 40).
Die zwei letzten Kapitel enthalten mancherlei praktische Weisungen über die Hoffnung, die Geduld im Leiden, Standhaftigkeit, Dankbarkeit gegen Gott, Pflicht des Gehorsams, Barmherzigkeit und tätige Bruderliebe, Keuschheit und ähnliches. Mit einem Segenswunsch und der Erwartung, seine Leser bald zu sehen, schließt der Verfasser seinen Brief (12, 1 – 13, 25).