V. 1. So besteht nun. Nachdem der Apostel seine Leser Kinder der Freien genannt hat, zeigt er jetzt, wie viel diese Freiheit wert ist, damit sie dieselbe nicht, wie eine nichtige Sache, gering achten. Ist sie doch ein unschätzbares Gut, für das wir bis in den Tod kämpfen sollen. Denn hier handelt es sich nicht nur um den Herd, sondern auch um den Altar. Wer nur einige Erfahrung besitzt, weiß auch wohl, dass wir es hier mit einem Hauptstück der Heilslehre zu tun haben. Nicht das ist ja dabei die Hauptfrage, ob man diese oder jene Speise essen dürfe, ob man einen bestimmten Tag feiern solle oder nicht – wie viele in ihrer Torheit meinen, einige aber lästern – sondern es gilt vor allem die Frage, inwieweit das Gewissen göttlich gebunden ist. Predigt ein Paulus hier die Freiheit von den gesetzlichen Zeremonien, deren Beobachtung die falschen Apostel als notwendig verlangten, so mögen die Leser zugleich daran denken, dass diese nur ein Teil von der Freiheit ist, die uns Christus erworben hat. Wie wenig wäre das, wenn er uns nur von den Zeremonien befreit hätte! Es fließt also dieser Bach aus einer höher gelegenen Quelle: Christus ist ein Fluch geworden, um uns vom Fluch des Gesetzes zu erlösen, er hat die Macht des Gesetzes abgeschafft, sofern es uns nach Gottes Urteil unter der Schuld des ewigen Todes gebannt hielt, er hat uns von der Herrschaft der Sünde, des Teufels und des Todes befreit. Die Frucht solcher am Kreuz erworbenen Freiheit genießen wir nur durch das Evangelium. Mit Recht ermahnt daher Paulus die Galater, sich nicht wiederum in das knechtische Joch fangen d. h. ihr Gewissen nicht verstricken zu lassen. Eine ungerechte Last, die Menschen auf unsere Schulter legen wollen, lässt sich ertragen: wenn sie aber die Gewissen knechten wollen, muss man tapfer und bis in den Tod Widerstand leisten. Wir verlieren ja eine unschätzbare Wohltat, wenn Menschen unser Gewissen binden dürfen. Auch würde Christus beleidigt, der die Freiheit bereitet hat. Da die Galater niemals unter dem Gesetze gelebt hatten, heißt „wieder“ hier einfach „ebenso als wenn ihr nicht durch Christi Gnade erlöst wäret“. Denn wenn auch das Gesetz nur den Juden und nicht den Heiden gegeben war, gibt es doch für beide Teile außer Christo gar keine Freiheit, sondern nur Knechtschaft.
V. 2. Siehe ich Paulus usw. Ein schwereres Urteil, als die völlige Abschneidung von Christo, kann nicht gesprochen werden. Doch wie sollen wir das verstehen, dass Christus allen Beschnittenen nichts nützt? Hat er dem Abraham nichts genützt? Wenn man sagt, das habe gegolten vor Christi Kommen, wie ist es mit Timotheus (Apg. 16, 3)? Wir werden zu beachten haben, dass Paulus nicht von der äußeren Beschneidung und dem Vollzug der Zeremonie als solcher handelt, sondern dass er sich vielmehr gegen die gottlose Lehre der falschen Apostel wendet, welche aus der Beschneidung ein notwendiges Stück des Gottesdienstes machten und das Heilsvertrauen darauf gründen wollten als auf ein verdienstliches Werk. Diese teuflischen Erdichtungen machten Christum unnütz. Nicht dass die falschen Apostel Christum verwerfen oder gänzlich entfernt wissen wollten, aber sie teilten zwischen seiner Gnade und den Gesetzeswerken in der Weise, dass da Heil nur zur Hälfte von ihm herrührte. Dagegen wendet sich der Apostel: so kann Christus nicht geteilt werden, - er nützt uns nur dann, wenn wir ihn voll und ganz uns aneignen. Wer Christus nur zur Hälfte haben will, verliert ihn ganz. So sind die Galater die Vorgänger der heutigen Papisten geworden: ihnen musste Christus schließlich verloren gehen, weil die Lehre des Evangeliums in ihrem innersten Kern verfälscht ward. – Das trägt Paulus unter starker Betonung seiner persönlichen Autorität vor. Seinen eigenen Namen setzt er dafür ein, um jeden Zweifel niederzuschlagen. Und obgleich sein Ansehen bei den Galatern schon begonnen hatte zu sinken, so dünkt es ihn doch noch stark genug, um alle Gegner zu schlagen.
V. 3. Ich zeuge abermal usw. Dieser gegensätzliche Hinweis auf die Folgen der Beschneidung dient zur Begründung des vorigen Satzes. Denn wer schuldig ist, das ganze Gesetz zu tun, kann dem Tode nicht entfliehen, weil er immer unter der Schuld bleiben wird. Kann doch niemals ein Mensch dem Gesetz Genüge leisten. Eine solche Verpflichtung bedeutet also für den Menschen sichere Verdammnis. So kommt es, dass Christus ihm nichts nützt. Dies beides widerspricht also einander, dass wir der Gnade Christi teilhaftig sind und doch verpflichtet sein sollen, das ganze Gesetz zu erfüllen. Natürlich meint Paulus nicht, dass die Annahme der Beschneidung an und für sich von Christo ausschließe. Paulus kennt hier eine doppelte Betrachtungsweise. Die Beschneidung, wie sie Gott eingesetzt hat, ist nach Röm. 4, 11 ein Siegel der Glaubensgerechtigkeit und begreift als solches Christum und die Verheißung freier Gnade in sich, dient also als ein wahres Sakrament der Übung des Glaubens. Macht man aber aus der Beschneidung ein reines Gesetzeswerk, welches Verdienst begründen soll, wie die falschen Apostel dies zur Zerstörung des Evangeliums taten, so tritt sie freilich in Gegensatz wider Christum, die Gnade und den Glauben. Übrigens hatte sie Gott auch nur für eine bestimmte Zeit verordnet: nach Christi Ankunft ist die Taufe an ihre Stelle getreten. Hat Paulus noch den Timotheus beschneiden lassen (Apg. 16, 3), so tat er dies nicht um seinetwillen, sondern aus freundlicher Rücksicht auf die Schwachheit der Brüder. Freilich wird es gelten, nun auch Taufe und Abendmahl nicht gesetzlich zu behandeln, d. h. nicht als Werke, durch deren bloßen Vollzug wir Gnade verdienen, wie die Papisten behaupten. Vielmehr sollen wir uns in diesen Handlungen nur dem Herrn offen halten, seine Gnade zu empfangen: wir bringen nichts hinzu als den Glauben, der alles in Christo findet und Gott wirken lässt.
V. 4. Ihr habt Christum verloren. Der Sinn ist: Wenn ihr einen Teil der Gerechtigkeit in den Werken des Gesetzes sucht, so hat Christus nichts mit euch zu tun, und ihr habt euch der Gnade entfremdet. Die Gegner gingen nicht so weit, dass sie glaubten, allein durch das Halten des Gesetzes gerecht zu werden, sondern sie mengten Christus und das Gesetz zusammen. Diesen Tatbestand müssen wir uns vergegenwärtigen, um die stets wiederholten Mahnungen zu verstehen, mit welchen Paulus die Leser schreckt: Was tut ihr? Ihr macht euch Christum unnütz, ihr macht seine Gnade zunichte. Wir sehen also, es kann auch nicht der geringste Teil der Gerechtigkeit auf das Gesetz gegründet worden, ohne dass man auf Christus und seine Gnade Verzicht leistet.
V. 5. Wir aber warten usw. Der Satz soll einen Einwurf vorwegnehmen. Musste doch der Gedanke sofort aufsteigen: Gewährt denn die Beschneidung einen Nutzen? Darauf lautet die Antwort: in Christo gilt sie nichts, und deshalb beruht die Gerechtigkeit auf dem Glauben und wird erlangt im Geist ohne Zeremonien. „Der Gerechtigkeit warten, der man hoffen muss“ heißt, sein Vertrauen darauf setzen oder sich auf den festen Punkt stellen, auf welchem man Gerechtigkeit erhoffen darf. Nebenbei klingt wahrscheinlich der Gedanke an die Beharrung der Gläubigen an: Wir beharren fest im Vertrauen auf die Gerechtigkeit, die wir im Glauben innehaben. Heißt es nun, die Gerechtigkeit sei uns durch den Glauben gewiss, so haben wir das mit den Vätern gemeinsam. Denn sie alle konnten nur durch den Glauben Gott gefallen, wie die Schrift (Hebr. 11) bezeugt. Nur steckte ihr Glaube noch in der Hülle der Zeremonien. Den Unterschied von den Vätern bezeichnet also Paulus mit dem Hinweis, dass wir im Geiste warten, also alles Schattenwerks uns entschlagen. Jetzt ist es der bloße Glaube, der genügt, Gerechtigkeit zu erlangen: er schmückt sich nicht mehr mit zeremoniösem Pomp, sondern ist mit der Anbetung Gottes im Geist zufrieden.
V. 6. Denn in Christo Jesu usw. Damit erfahren wir den Grund, weshalb die Gerechtigkeitshoffnung sich allein auf den Geist stützen kann: in Christo, d. h. in seinem Reiche oder in der christlichen Kirche ist die Beschneidung mit allem, was dazu gehört, abgeschafft. Der Hinweis auf die Beschneidung trifft aber die Zeremonien insgemein. Der Apostel sagt, dass für diese jetzt kein Raum mehr ist, wenn er auch keineswegs behauptet, dass sie zu allen Zeiten nutzlos gewesen wären. Denn, so lehrt er, sie sind erst abgeschafft nach der Offenbarung Christi. Damit wird zugleich deutlich, inwiefern er hier scheinbar so wegwerfend von der Beschneidung reden kann, als nütze sie nichts. Er denkt eben nicht an ihre vormalige Bedeutung als Sakrament, sondern an die Tatsache, dass sie jetzt abgeschafft ist, wodurch unter Christi Königreich Beschneidung und Vorhaut gleich gelten. Denn Christi Ankunft hat allem Gesetzeswerk ein Ende gemacht.
Sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist. Im Gegensatz zu den Zeremonien erscheint nun die Übung der Liebe. Damit schwindet jeder selbstgefällige Vorzug der Juden. Ähnlich heißt es am Ende des Briefes (6, 15): es gilt in Christo nur eine neue Kreatur. So sollen wir wissen, dass Gott von uns keinen Zeremonienkram mehr fordert, sondern allein Liebesübung. Gegen unsere Sakramente, welche ja Hilfsmittel des Glaubens sind, sagt der Apostel damit nichts: es liegt ihm nur daran, noch tiefer einzuprägen, was er soeben über den Gottesdienst im Geist kurz gesagt hatte. Andererseits darf man unsere wahrlich leicht verständliche Stelle auch nicht missbrauchen, um eine Rechtfertigung nicht durch den Glauben allein, sondern durch die Liebe zu beweisen. Denn freilich findet sich der rechtfertigende Glaube nie allein, sondern stets mit guten Werken verbunden. Aber für die Rechtfertigung vor Gott kommt er allein in Betracht und kein gutes Werk. Doch liegt diese Frage an unserer Stelle dem Paulus ganz fern: er will einfach die Gläubigen, die freilich nicht müßig gehen oder wie Stock und Block daliegen sollen, daran erinnern, in welchen Dingen sie sich üben sollen.
V. 7. Ihr lieft fein. Mit dem Tadel wegen ihres jetzigen Abfalles verbindet Paulus absichtlich das Lob, wie fein die Galater einst gelaufen seien. So soll die Scham sie wieder auf den früheren Weg zurückführen. Die verwunderte Frage, wer sie denn vom rechten Wege ablenken konnte, soll diese Beschämung nur vertiefen. Paulus wirft den Lesern dabei vor, nicht dass sie nicht glauben, sondern dass sie der Wahrheit nicht mehr gehorchen: denn nachdem sie das wahre Evangelium bereits ergriffen, hatten sie es eben am rechten Gehorsam dagegen fehlen lassen.
V. 8. Solch Überreden usw. Bis jetzt hat der Apostel mit Gründen gekämpft, nun nimmt er die Autorität zu Hilfe, indem er ausruft, dass dies neuerliche Überreden nicht von Gott stamme. Solche Zusprache hätte ja wenig Wert, wenn sie nicht von persönlicher Autorität getragen wäre. Paulus konnte mit Recht so zuversichtlich bei den Galatern reden, da er für sie der Herold der göttlichen Berufung gewesen war. Darum sagt er auch nicht geradezu: die Überreden stammt nicht von Gott, - sondern umschreibend: nicht von dem, der euch berufen hat. Er will damit zu verstehen geben: Gott liegt nicht mit sich selbst in Widerstreit. Er ist es, der euch durch meine Predigt zur Seligkeit berief: also muss diese neue Beredung andersher kommen. Wollt ihr Gottes Berufung festmachen, so hütet euch doch, nicht solchen Leuten das Ohr zu leihen, die euch neue Gedichte bringen!
V. 9. Ein wenig Sauerteig. Paulus wird dabei an die Lehre denken, nicht an die Personen. Er will daran erinnern, welch ein gefährliches Ding eine Verderbnis der Lehre ist, - damit man dergleichen nicht, wie es nur zu oft geschieht, für bedeutungslos und ungefährlich ansehe. Denn das ist eben Satans Kunststück, dass er nicht offensichtlich die ganze Lehre umstürzt, sondern sie nur durch eingeschwärzte falsche Meinungen verunreinigt. Wer nun die Tragweite solchen Übels nicht ermisst, leistet gar keinen ernstlichen Widerstand. Darum behauptet der Apostel hier mit allem Nachdruck, dass nichts mehr heil bleibt, wenn man Gottes Wahrheit antastet. Dabei braucht er das Bild des Sauerteigs, der, obgleich nur von geringem Umfang, doch seine Säure in die ganze Masse ausgießt. Wir dürfen also auch die geringste Verunreinigung der Lehre des Evangeliums unter keinen Umständen zulassen.
V. 10. Ich versehe mich zu euch usw. Wie schon früher (4, 17) wendet Paulus seine volle Schärfe nur gegen die falschen Apostel. In ihnen erblickt er die Ursache der ganzen Verderbnis, ihnen droht er Strafe an. Dagegen äußert er den Galatern sein gutes Vertrauen, dass sie schnell und leicht zur wahren Glaubenseinheit zurückkehren werden. Solch gutes Zutrauen ist ein überaus wirkungsvoller Ansporn. Niemand will ja ein ehrenvolles und freundliches Vorurteil zunichtemachen. Weil es aber Gottes Werk war, die Galater zur reinen Lehre des Glaubens, von der sie abgefallen waren, zurückzuführen, sagt Paulus, er versehe sich zu ihnen in dem Herrn: damit empfangen sie eine Erinnerung, dass sie die Umkehr, die nur Gott schenken kann, von ihm auch erbitten sollen.
Wer euch aber irremacht usw. So wälzt der Apostel die Hauptschuld von den Galatern auf die Verführer ab. Hier mögen solche Leute aufmerken, welche allerlei Anstoß und Verwirrung in die Gemeinden werfen, die Einheit des Glaubens auflösen und die Eintracht wankend machen, und wenn sie wenig Gefühl für das Rechte haben, mögen sie bei diesem Wort erschrecken. Denn Gott verkündet durch den Mund des Paulus, dass kein Urheber solcher Ärgernisse ungestraft ausgehen wird. Dabei heißt es mit großem Nachdruck: er sei wer er wolle. Imponierten die Lügenapostel dem ungebildeten Volke mit ihren hohen Reden, so musste demgegenüber auch Paulus seine Lehre so hoch erheben, dass niemand, er mochte heißen wie er wollte, geschont wurde, der dagegen auch nur einen Ton zu sagen wagte.
V. 11. Ich aber, lieben Brüder. Ich könnte, sagt er, den Hass der Menschen, Gefahren, Verfolgungen vermeiden, wenn ich nur neben Christo auch noch die Zeremonien wollte gelten lassen. Dass ich aber in diesem Punkte mit aller Entschiedenheit kämpfe, tue ich nicht um meinetwillen, noch zu meinem Vorteil. Freilich folgt daraus noch nicht ohne weiteres, dass er die Wahrheit lehrt. Immerhin trägt aber ein rechter Sinn und ein klares Gewissen bei einem Prediger nicht wenig dazu bei, ihm Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Ferner wird ja schwerlich ein Mensch, dem es nicht eben um die Wahrheit geht, sich mutwillig Leiden schaffen. Dabei fällt auf die Gegner der Verdacht, dass sie mit ihrer Beschneidungspredigt viel mehr für ihre eigene Ruhe sorgen, als Christo treulich dienen wollen. Alles in allem: Paulus war fern von jedem Ehrgeiz, von Habsucht, von Rücksicht auf die eigenen Person, da er Gunst und Beifall verachtete, aber den Verfolgungen und der Wut der Menge sich lieber aussetzte, als dass er nur einen Finger breit von der Reinheit des Evangeliums abwich.
So hätte ja das Ärgernis usw. Gern fasst der Apostel den Gesamtgehalt seiner Predigt im Kreuz zusammen und nennt das Evangelium das „Wort vom Kreuz“, wenn er dessen schlichte Einfalt dem Bombast menschlicher Weisheit oder Gerechtigkeit entgegenstellen will (1. Kor. 1, 18 ff.). War doch die Knechtsgestalt des Evangeliums den Juden mit ihrem falschen Vertrauen auf eigene Gerechtigkeit ganz ebenso anstößig, wie den Griechen mit ihrem törichten Weisheitsdünkel. In der Tat hätte also Paulus die Predigt von der Beschneidung nur wieder aufzunehmen brauchen, um den Anstoß des Kreuzes zu beseitigen: die Juden hätten ihm dann weiter keine Schwierigkeit gemacht, sondern hätten sich seine Predigt wohl gefallen lassen. Ein gefälschtes Evangelium, welches sich aus Moses und Christus zusammensetzte, und bei welchem sie ihre frühere Ausnahmestellung behaupten könnten, wäre ihnen kein Ärgernis.
V. 12. Wollte Gott, dass sie auch ausgerottet, genau übersetzt „abgeschnitten“ würden! Jetzt erreicht des Apostels Entrüstung ihren Höhepunkt: er betet Verderben auf die Verführer der Galater herab. Der Ausdruck spielt dabei auf die Beschneidung an, mit der sie sich so eifrig abgaben: um der Beschneidung willen zerrissen sie die Gemeinde, - möchten sie darum doch selbst abgeschnitten werden! Freilich scheint solche Verwünschung zur apostolischen Sanftmut wenig zu stimmen, welche doch allen das Heil und niemandem das Verderben gönnen sollte. Doch trifft dies eben nur solange zu, als wir die menschlichen Personen im Auge behalten: denn Gott legt uns aller Menschen Heil ans Herz, wie auch Christus für die Sünden der ganzen Welt gestorben ist. Zuweilen aber erhebt sich der fromme Eifer über jede Rücksicht auf Menschen, und sieht allein Gottes Ehre und Christi Königreich an. Denn so viel höher Gottes Herrlichkeit steht als der Menschen Heil, so viel höher müssen wir uns auch zur Liebe zu ihm und zum Eifer für seine Sache erheben. So kann es geschehen, dass die Gläubigen in der alleinigen Spannung auf Gottes Ehre Welt und Menschen völlig vergessen, dass sie lieber die ganze Welt untergehen, als Gottes Ehre irgend geschmälert sehen möchten. Aus einer solchen Stimmung haben wir uns des Apostels Verwünschungsgebet zu erklären. So muss denn jede Anklage auf grausamen und lieblosen Sinn verstummen. Denn wie viel mehr wiegt doch die ganze Gemeinde, als ein einziger Mensch! Das wäre ein grausames Mitleid, welches die Gemeinde einem einzigen Menschen opfern wollte! Sehe ich Gottes Herde in Gefahr, sehe ich den Wolf wie vom Satan getrieben auf sie eindringen, - soll da nicht die Sorge um die Gemeinde alle meine Gedanken gefangen nehmen, sodass mir nichts anderes in den Sinn kommt, als den Wolf zu töten und die Gemeinde zu retten? Bei alledem gönne ich niemandem das Verderben: aber die Liebe und die Sorge um die Gemeinde reißt mich sozusagen in eine Verzückung hinein, die mich gar nichts anderes mehr denken lässt. Niemand kann ein rechter Hirte der Gemeinde sein, der von solchem Eifer nichts weiß.
V. 13. Ihr aber seid zur Freiheit berufen. Nunmehr wendet sich die Rede zum rechten Gebrauch der Freiheit. Wir haben zum ersten Korintherbrief (8, 1 u. 9; 10, 23) dargetan, dass die Freiheit selbst von ihrem Gebrauch noch zu unterscheiden ist. Die Freiheit selbst wohnt im Gewissen und hat es allein mit Gott zu tun, ihr Gebrauch aber bewegt sich in den Äußerlichkeiten des Lebens und hat es mit den Menschen zu tun, nicht mit Gott allein. Nachdem daher Paulus die Galater ermahnt hat, nicht zu dulden, dass etwas von ihrer Freiheit verloren gehe, heißt er sie nun im Gebrauch derselben maßvoll sein. Ferner schreibt er als Regel für deren rechten Gebrauch vor, sie nicht zu einem Vorwande oder Anlass der Willkür zu machen. Denn die Freiheit ist nicht dem Fleische gegeben, das vielmehr unter dem Joch gefangen gehalten werden muss, sondern sie ist ein geistliches Gut, für das nur fromme Seelen empfänglich sind.
Sondern durch die Liebe diene einer dem andern. Dies ist die Weise, wie man die Freiheit zügeln muss, dass sie sich nicht in flatternden und maßlosen Missbrauch verliere: die Freiheit soll sich durch die Liebe regieren lassen. Dabei wollen wir immer im Sinne behalten, dass jetzt nicht davon die Rede ist, wie wir vor Gott frei werden, sondern wie wir unsere Freiheit im Verkehr mit den Menschen gebrauchen sollen. Ist es mit dem Gewissen recht bestellt, so erträgt dasselbe freilich auch nicht die geringste Spur von Knechtschaft: dass man sich aber in äußeren Dingen beuge und Verzicht leiste, ist ganz ungefährlich. Alles in allem: wollen wir einander in der Liebe dienen, so müssen wir stets auf des Nächsten Erbauung bedacht sein. So geraten wir nie in ein zügelloses Wesen, sondern verwerten die Gnade Gottes zu seiner Ehre und des Nächsten Wohl.
V. 14. Denn alle Gesetze usw. Leise kann man einen stillen Gegensatz hören zwischen dieser Ermahnung Pauli und der Lehre der falschen Apostel. Denn während jene allein auf die Zeremonien pochten, streift Paulus hier kurz die wahren Pflichten und Aufgaben der Christen. Dahin also zielt diese Empfehlung der Liebe, dass die Galater wissen sollen, dass die christliche Vollkommenheit hauptsächlich auf ihr beruhe. Doch wir müssen sehen, warum er alle Gesetzesvorschriften unter der Liebe zusammenfasst, da doch das Gesetz aus zwei Tafeln besteht, deren eine von der Verehrung Gottes und den Pflichten der Frömmigkeit redet, und nur die andere von der Nächstenliebe. Einen Teil aber zum Ganzen zu machen, wäre ja töricht. Mit der Erinnerung an die Gottesliebe, von welcher die erste Tafel handelt, ist hier nicht auszukommen: denn Paulus redet ganz deutlich eben von der Nächstenliebe. Wir müssen uns daher um ein besseres Verständnis bemühen. Mag nun die Beobachtung der ersten Tafel an sich viel höher stehen, als die der zweiten, - so bleibt doch wahre Frömmigkeit vor Menschensinnen ebenso verborgen, wie Gott unsichtbar ist. Sollten nun auch die Zeremonien zum Erweise der Frömmigkeit dienen, so ist doch darauf kein Verlass: denn in diesem Stück beweisen nur zu oft gerade die Heuchler den größten Eifer. Darum will Gott als Beweis unserer Liebe zu ihm die Bruderliebe sehen. Diese heißt also nicht bloß hier, sondern auch Röm. 13, 8 des Gesetzes Erfüllung, nicht weil sie besser wäre als Gottesdienst, sondern weil sie die kenntliche Erscheinung desselben ist. Der unsichtbare Gott stellt sich uns gewissermaßen in den Brüdern gegenüber, und fordert für sie, was wir ihm schuldig sind. So fließt denn freilich die Nächstenliebe allein aus Gottesfurcht und Gottesliebe. Und vermöge dieses unlösbaren Zusammenhanges zwischen Wurzel und Frucht kann Paulus so reden, als wäre die letztere das Ganze.
Liebe deinen Nächsten. Denn wer liebt, lässt jedem sein Recht zukommen, tut niemand Unrecht oder Schaden, tut vielmehr, soweit er kann, allen Gutes. Um was sonst handelt es sich aber in der ganzen zweiten Gesetzestafel? Eben dies sagt Paulus im Römerbriefe. Als unseren „Nächsten“ haben wir übrigens jeden Menschen anzusehen, mit welchem uns ja die gemeinsame Natur verbindet. Wie Jesaja sagt (58, 7): „Entzeuch dich nicht von deinem Fleisch.“ Besonders aber muss die gemeinsame Gottesebenbildlichkeit uns aneinander ketten. So schwindet jeder Unterschied zwischen Freund und Feind: denn selbst die Schlechtigkeit der Menschen kann das Recht der Natur nicht zerstören. – Der Zusatz: „wie dich selbst“ will im Hinblick auf unsere natürliche Neigung zur Selbstliebe ganz besonders einprägen, dass Gott von uns fordert, vielmehr an den Nächsten zu denken. Wir werden aber niemals aufrichtig und nach Gottes Sinn den Nächsten lieben, wenn wir nicht unsere Selbstsucht ausrotten. Denn hier handelt es sich um entgegengesetzte Triebe. Die Selbstliebe erzeugt Vernachlässigung und Verachtung der Mitmenschen, erzeugt einen grausamen Sinn, ist die Quelle der Habsucht, von Räuberei, Betrügerei und ähnlichen Lastern, treibt uns zur Ungeduld und entfacht die Rachgier: darum verlangt Gott, dass sie sich in Liebe kehre.
V. 15. So ihr euch aber untereinander beißt usw. Sowohl aus der Sache als aus den Worten lässt sich vermuten, dass die Uneinigkeit in der Lehre auch andere Streitigkeiten unter den Galatern zur Folge hatte. An dieser Folge zeigt nun der Apostel, ein wie verderbliches Übel solche Uneinigkeit in der Gemeinde ist. Auch ist wahrscheinlich, dass der Herr ihren Ehrgeiz, Stolz und andere Laster mit Irrlehren gestraft hat, wie er zu tun pflegt und wie er dies auch 5. Mo. 13, 2 bezeugt. Redet nun der Apostel von „beißen und fressen“, so werden ihm böswillige Verleumdungen vorschweben, Verdächtigungen, Schimpfworte und sonstige Beleidigungen mit Worten, aber auch Unbill, die durch Betrug oder Gewalt geschieht. Und was wird das Ende sein? Paulus sagt: dass ihr untereinander verzehrt werdet. Dem gegenüber ist es doch die Art der Liebe, dass man einander schützt und hegt. Wenn wir doch, so oft der Teufel uns zum Streite reizt, immer daran dächten, dass aus dem inneren Widerstreit der Glieder nichts anderes hervorgehen kann als der völlige Untergang des ganzen Leibes! Wie elend aber und unvernünftig ist es, dass wir, die wir desselben Leibes Glieder sind, mutwilliges Verderben über uns heraufbeschwören!
V. 16. Ich sage aber: Wandelt im Geist! Damit folgt ein Fingerzeig auf das Heilmittel. Gilt es doch, einem so schweren Übel, welches den Untergang der Gemeinde bedeutet, mit allen Kräften zu steuern. Doch wie geschieht dies? Wenn wir uns nicht durch das Fleisch, sondern durch Gottes Geist regieren lassen. Der Ausdruck gibt übrigens zu verstehen, dass die Galater fleischlich sind und des göttlichen Geistes bar, weil sie eine für Christenmenschen unwürdige Haltung zeigen. Denn worin sonst hatten ihre Streitigkeiten ihren Grund als in der Herrschaft fleischlicher Leidenschaft? Das ist also ein Zeichen, dass sie nicht nach dem Geiste wandeln. Beachtenswert ist der Ausdruck: ihr werdet die Lüste des Fleisches nicht vollbringen. Wir entnehmen demselben, dass Gottes Kinder, so lange sie die Last dieses Fleisches tragen, zwar noch allerlei sündhaften Neigungen unterworfen sind, dass sie aber an dieselben nicht völlig gebunden und verkauft sind, sondern angespannten Widerstand leisten. Freilich steht der geistliche Mensch über die Begierden des Fleisches nicht so erhaben da, dass sie ihn nicht oftmals reizen: aber er unterliegt nicht, noch überlässt er ihnen die Herrschaft, - kurz, er „vollbringt“ sie nicht (vgl. Röm. 8, 1 ff.).
V. 17. Das Fleisch gelüstet wider den Geist. Der Apostel erinnert an den schweren Kampf, ohne welchen niemand zum geistlichen Sieger werden kann. Die Schwierigkeit aber liegt darin, dass unsere seelische Art dem Geiste Gottes widerstrebt. Will doch unter dem „Fleisch“, wie wir zu Röm. 7, 18; 8, 3. 7 dargelegt haben, die ganze Art und Natur des Menschen verstanden sein. Ist „Geist“ die erneuerte Natur oder die Gnadenkraft der Erneuerung, so kann das Fleisch nichts anderes sein als der alte Mensch. Wenn eben die ganze Natur des Menschen sich wider Gottes Geist auflehnt und ihm widerstrebt, so bedarf es harten und schweren Kampfes und der gewaltsamsten Anstrengungen, wenn wir dem Geiste gehorchen wollen. Der Anfang muss mit der Selbstverleugnung gemacht werden. Hier können wir sehen, wie Gottes Wort unseren Geist einschätzt: unser Geist und göttliches Wesen stimmen zusammen wie Wasser und Feuer. Daraus lässt sich abnehmen, dass der freie Wille keinen Tropfen des wahrhaft Guten in sich birgt. Oder soll etwa gut heißen, was das Widerspiel des Geistes Gottes ist? So heißt es auch Röm. 8, 7: „fleischlich gesinnt sein ist eine Feindschaft wider Gott“.
Dass ihr nicht tut, was ihr wollt. Dies bezieht sich ohne Zweifel auf die Wiedergeborenen. Denn fleischliche Menschen haben keinen Kampf mit bösen Begierden, kein rechtes Verlangen, in welchem sie sich nach Gottes Gerechtigkeit sehnen. Und da Paulus die Gläubigen anredet, so deutet dieses „Wollen“ nicht auf die natürliche Neigung, sondern auf die heiligen Gedanken und Absichten, welche Gott uns durch seine Gnade einhaucht. Paulus sagt also, dass die Gläubigen trotz alles guten Strebens dennoch in diesem irdischen Leben sich nicht so weit emporringen, dass sie Gott vollkommen dienen. Ein Wollen und Begehren haben sie wohl, aber die volle Wirkung entspricht dem nicht. Diesen Gedanken haben wir zu Röm. 7, 15 genauer erörtert.
V. 18. Regiert euch aber der Geist usw. Wenn also die Gläubigen auf Gottes Wege nur hinkenden Schrittes vorwärts kommen, so mögen sie doch nicht den Mut darüber verlieren, dass sie dem Gesetze Gottes noch nicht Genüge tun. Darum spendet ihnen Paulus hier (wie auch Röm. 6, 14) den Trost: ihr seid nicht unter dem Gesetze. Denn daraus folgt, dass ihnen, was noch fehlt, nicht angerechnet wird, sondern ihre Werke Gott so angenehm sind, als wenn sie fehlerfrei und ganz vollkommen wären. – Übrigens bewegt sich dieser Gedanke zugleich in der Bahn der begonnenen Erörterung über die Freiheit. Den Geist, von welchem Paulus hier redet, nannte er ja vorher (4, 5. 6; vgl. Röm. 8, 15) den Geist der Kindschaft: er ist es, welcher die Menschen frei macht, indem er ihnen das Joch des Gesetzes abnimmt. Paulus will sagen: Wollt ihr endlich einmal die Streitereien beendigen, mit denen ihr euch selbst am meisten quält, so wandelt im Geist! Denn dann werdet ihr der Herrschaft des Gesetzes entrinnen: das Gesetz wird euch dann nur noch eine Lehre bedeuten, die euch allerlei Fingerzeige gibt, die aber das Gewissen nicht weiter gebunden hält. Sind wir aber dem Gesetz nichts mehr schuldig, so leben wir auch frei von den Zeremonien, die ja doch nur Symbole der Knechtschaft sind.
V. 19. Offenbar sind aber die Werke des Fleisches. Nachdem der Apostel den Christen im Allgemeinen das Ziel vorgehalten hat, nach welchem sie streben müssen, um dem Geiste zu gehorchen und dem Fleische zu widerstehen, malt er jetzt ein Bild einerseits des Fleisches und auf der anderen Seite des Geistes. Wenn die Menschen sich selbst kennten, würden sie dieser Erläuterung nicht bedürfen: denn sie sind in der Tat nichts als Fleisch. Aber unsere angeborene heuchlerische Art lässt uns die eigene Hässlichkeit erst sehen, wenn der Baum an seinen offenbaren Früchten kenntlich wird. Darum gibt der Apostel einen Fingerzeig, gegen welche Laster wir kämpfen müssen, wenn wir nicht nach dem Fleische leben wollen. Er nennt zwar, wie er auch am Schluss andeutet, nicht alle Laster: aber der Leser kann die Reihe leicht selbst vervollständigen. Ehebruch und Hurerei stehen an erster Stelle, dann folgt die Unreinigkeit, unter welcher jegliche Art von Schamlosigkeit begriffen sein will. Gleichsam das Mittel zu ihrer Ausübung ist die Unzucht im weitesten Sinne, Zügellosigkeit aller Art. An diese vier zusammengehörigen Stücke schließt sich dann (V. 20) die Abgötterei, worunter hier allerlei grober, offensichtlicher Aberglaube verstanden wird. Eine Reihe der weiter sich anschließenden Laster hängt aufs engste untereinander zusammen. Feindschaft und Zorn unterscheiden sich vornehmlich darin, dass die eine lange währt, der andere schnell verraucht. Neid pflegt den Anlass für beide zu bieten. Zu denken haben wir dabei sowohl an den gemeinen Neid, welcher dem anderen seinen Vorzug nicht gönnt, als auch an den scheinbar edleren und doch ebenso fleischlichen Ehrgeiz, welcher selbst das Hervorragendste leisten möchte. Hier liegt deshalb die Wurzel aller Zwietracht, von Rotten d. h. Parteiungen und Hass. Verzeichnet also der Apostel in dieser Reihe keineswegs bloß grob sinnliche Verirrungen, wie (V. 21) Saufen, Fressen und dergleichen, so lässt sich daraus abnehmen, dass er das Wort „Fleisch“ in einem viel umfassenderen Sinne braucht. Denn der Neid, der Vater aller Parteiungen, hat doch nichts Sinnliches an sich: sein Sitz ist das Gemüt. Von allen diesen Sünden sagt Paulus, dass sie (V. 19) offenbar sind. So vermag niemand sich einen besonderen Vorzug anzudichten. Denn was nützt es, des Fleisches Herrschaft leugnen zu wollen, wenn doch die Frucht den Baum verrät?
V. 21. Von welchen ich euch habe zuvor gesagt usw. Diese strenge Drohung soll nicht nur die Galater erschrecken, sondern auch in versteckter Weise die falschen Apostel treffen, welche unter Zurückstellung solcher weit nützlicheren Lehre über die Zeremonien stritten. Zugleich wollen wir aus diesem Verfahren des Apostels lernen, dass man nicht müde werden darf, zu mahnen und zu drohen, nach dem Wort des Propheten (Jes. 58, 1): „Rufe getrost, schone nicht und verkündige meinem Volke ihr Übertreten“. Was aber den Inhalt der Drohung angeht, so lässt sich kaum etwas Erschreckenderes sagen als: die solches tun, werden das Reich Gottes nicht erben. Wer wird nun noch wagen, Sünden leicht zu nehmen, die vor Gott ein so schwerer Gräuel sind? Freilich scheint solcher Ausspruch jedem Menschen die Hoffnung der ewigen Seligkeit abzuschneiden. Denn wer würde nicht von irgendeinem der genannten Fehler angefochten? Doch gilt es zu bedenken, dass Paulus nicht jedem die Abschneidung aus Gottes Reich androht, der einmal solche Sünden begangen, sondern nur denen, die unbußfertig darin zu beharren gedenken. Auch die Heiligen haben zuweilen große Mühe, aber sie kehren auf den rechten Weg zurück. Sie sind also bei dieser Aufzählung nicht mit gemeint, weil sie nicht gegen sich falsche Nachsicht üben. Kurz, es rufen alle Androhungen des göttlichen Gerichts uns zur Selbstbesinnung, für die Gott immer Vergebung bereit hat; aber sie werden zu einem Zeugnis gegen uns, wenn wir verstockt bleiben. – Dass wir das Reich Gottes „erben“, sagt Paulus, weil wir nur nach dem Rechte der Kindschaft das ewige Leben erlangen können (vgl. Röm. 8, 17).
V. 22. Die Frucht aber des Geistes ist Liebe usw. Hatte der Apostel soeben der ganzen Menschennatur ihr Urteil gesprochen, weil sie nur verderbte und abscheuliche Früchte hervorbringt, - so leitet er jetzt alle Tugenden wie alle guten und edlen Gedanken aus dem Geiste ab, d. h. aus der Gnade Gottes und der Erneuerung, die uns durch Christum zu teil wird. So gibt er uns zu verstehen, dass vom Menschen nur Böses, alles Gute aber vom Geiste Gottes kommt. Mögen unwiedergeborene Menschen noch so viele treffliche Beispiele von Sanftmut, Treue, Mäßigung und Selbstlosigkeit sehen lassen, - so wird sich das alles doch als trügerischer Schein erweisen. Was nach dem Maßstabe der menschlichen Gesellschaft gelten mag, bleibt vor Gott nicht rein, wenn es nicht aus dem Quell aller Reinheit stammt. Unter Freude ist hier (anders wie Röm. 14, 17) jene heitere Freundlichkeit im Verkehr mit dem Nächsten zu verstehen, die sich von allem mürrischen Wesen freihält. Treue ist Wahrhaftigkeit im Gegensatz zu List, Trug und Lüge. Friede steht im Gegensatz zu Zank und Streit. Geduld ist die Sanftmut der Seele, die alles gut aufnimmt und sich nicht sofort reizen lässt. Das weitere wird keiner Erklärung bedürfen. Paulus beschreibt aber die Früchte, aus denen man auf eines Menschen Gemütsverfassung zurückschließen kann. Nun könnte jemand fragen: können dann aber die Ungläubigen und Götzendiener überhaupt dem Gericht verfallen, welche sich durch den Schein besonderer Tugenden auszeichnen? Denn ihren Werken nach scheinen sie Geistesmenschen zu sein. Ich antworte: wie nicht alle Fleischeswerke bei einem fleischlichen Menschen sichtbar sind, sondern nur dieses oder jenes Laster die Fleischesart verrät, so ist der Mensch nicht wegen einer Tugend als geistlich zu achten. Denn seine übrigen Untugenden offenbaren, dass das Fleisch in ihm herrscht. Es lässt sich dies auch an allen teilweise tugendhaften Ungläubigen wohl sehen.
V. 23. Wider solche ist das Gesetz nicht. Paulus will sagen: wo der Geist regiert, hat das Gesetz keine Herrschaft mehr. Denn indem Gott unsere Herzen nach seiner Gerechtigkeit bildet, befreit er uns von der Strenge des Gesetzes, so dass er nicht mit uns nach dessen Satzungen handelt und nicht unsere Gewissen unter der Schuld bleiben lässt. Zwar hört das Gesetz nicht auf, lehrend und mahnend seine Pflicht zu tun, aber der Geist der Kindschaft macht von der Unterjochung frei.
V. 24. Welche aber Christo angehören. Dies fügt Paulus hinzu, um zu zeigen, dass solche Freiheit allen Christen gilt, die dem Fleisch den Abschied gegeben haben. Zugleich liegt darin eine Erinnerung, worin eigentlich ein wahres christliches Leben besteht, damit niemand sich als ein Christ ausgebe, der es nicht ist. Heißt es aber, dass Christi Glieder ihr Fleisch „kreuzigen“, so entnehmen wir daraus, dass die Abtötung des Fleisches nur eine Wirkung des Kreuzes Christi sein kann. Hier ist kein Menschenwerk: vielmehr pflanzt uns Gottes Gnade in die Gemeinschaft des Todes Christi, sodass wir fortan nicht mehr uns selber leben (Röm. 6, 5). Nur dann können wir das Vorrecht der Kinder Gottes genießen, wenn wir in wahrer Selbstabsage und Abtötung des alten Menschen mit Christo begraben sind. Freilich wird ja das Fleisch noch nicht völlig abgestorben sein: aber es übt keine Herrschaft mehr und beugt sich dem Geist. Das Fleisch samt den Lüsten und Begierden führt uns der Apostel vor Augen wie die Wurzel mit ihren Früchten. „Fleisch“ heißt ja die Verderbnis der Natur selbst, aus welcher alles Böse hervorquillt. Welches Unrecht nach alledem, Christi Glieder noch an das Gesetz fesseln zu wollen, von welchem doch alle durch den Geist Wiedergeborenen frei sind!
V. 25. So wir im Geist leben. Nach seiner Weise entnimmt Paulus nun der Lehre eine Ermahnung. Der Tod des Fleisches ist das Leben des Geistes. Wenn nun der Geist Gottes in uns lebt, so möge er auch unser ganzes Tun und Treiben regieren! Denn immer wird es viele geben, die unverschämt prahlen, sie lebten im Geiste: aber Paulus weist sie an, dies nicht durch leere Worte, sondern durch die Tat zu beweisen. Denn wie die Seele im Leibe nicht müßig lebt, sondern den Gliedern und jedem Körperteil Bewegung und Kraft mitteilt, so kann auch der Geist Gottes nicht in uns sein, ohne sich durch äußere Wirkungen tätig zu erweisen. Ist Gottes Geist wirklich die innere Kraft unseres Lebens, so müssen wir auch im Geist wandeln, d. h. denselben im äußeren Handeln zur Erscheinung kommen lassen. Die Werke sollen Zeugnisse des geistlichen Lebens sein.
V. 26. Lasset uns nicht eitler Ehre geizig sein. Nunmehr folgen besondere Ermahnungen, die den Galatern nötig waren, aber auch nicht weniger für unsere Zeit passen. Die Mutter vieler Übel, sowohl in der ganzen menschlichen Gesellschaft, als zumal in der Kirche ist die Ehrsucht, vor der ein Christ sich also hüten soll. Mögen die Weltweisen immerhin nicht jeden Ehrgeiz verurteilen, so ist für einen Christen doch die Ruhmsucht unter allen Umständen verwerflich, weil sie den Gesichtspunkt dafür verrückt, wo man eigentlich wahren Ruhm zu suchen hat: allein bei Gott! Losgelöst von Gott ist alles eitel. – Dass die Menschen einander entrüsten und hassen, ist die Folge ihres Ehrgeizes. Wer selbst nach der höchsten Stufe strebt, kann ja anderen nichts gönnen. Daraus kommen dann Verkleinerungen des anderen, Kränkungen und Reibungen.