Bunyan, John - Pilgerreise - Sechszehntes Kapitel.

Die Pilger bei den Hirten auf den lieblichen Bergen.

Hierauf gingen unsere Pilger bis sie kamen zu den lieblichen Bergen, welche dem Herrn des Hügels gehörten, wovon wir schon früher geredet haben. Sie stiegen die Berge hinauf, um die Gärten und Baumhöfe, die Weinberge und Wasserquellen zu besehen, welche dort sind. Da tranken sie und wuschen sich, auch aßen sie in den Weingärten, so viel sie wollten.

Auf den Höhen dieser Berge waren Hirten, die ihre Heerden weideten. Zu diesen gingen deßwegen die Pilger und fragten, auf ihre Stäbe gelehnt, (wie es müde Pilger zu thun pflegen, wenn sie stehen bleiben, um mit Jemandem am Wege zu sprechen): „Wem gehören diese lieblichen Berge und die Schafe, die darauf weiden?„

Hirten. Die Berge sind Immanuels Land und liegen im Angesicht seiner Stadt; auch die Schafe sind sein und Er hat sein Leben für sie gelassen. 1)

Chr. Ist dies der Weg zur himmlischen Stadt?

Hirt. Ja, ihr seid auf dem rechten Wege.

Chr. Wie weit ist's noch bis dahin?

Hirt. Gar weit; nur nicht für Diejenigen, welche hineinkommen werden.

Chr. Ist der Weg ein sicherer oder gefährlicher?

Hirt. Er ist sicher für die Gerechten, aber die Übertreter fallen darinnen. 2)

Chr. Gibt es Erquickungen da für Pilger, die auf dem Wege müde und matt geworden sind?

Hirt. Der Herr dieser Berge hat uns den Auftrag ertheilt, der Pflege der Fremden nicht zu vergessen; deßwegen steht euch Alles zu Diensten, was dieser Ort bietet. 3)

Auch sah ich in meinem Traume, daß die Hirten, als sie merkten, daß sie Pilgrime vor sich hatten, ihnen verschiedene Fragen vorlegten, die sie wie anderwärts beantworteten, wie z. B. Woher kommt ihr? Wie seid ihr auf diesen Weg gekommen? Durch welche Mittel seid ihr darauf geblieben? denn nur Wenige von denen, die sich anschickten hierherzukommen, zeigen sich auf diesen Bergen. Als aber die Hirten ihre Antworten vernahmen, waren sie darüber erfreut, blickten sie gar freundlich an und sprachen: „Willkommen auf den lieblichen Bergen!“

Die Namen dieser Hirten waren: Erkenntnißreich, Erfahren, Wachsam und Aufrichtig. Sie nahmen die Pilger bei der Hand, führten sie in ihre Zelte und ließen sie an Allem Theil nehmen, was bereitet war. Dabei sagten sie: „Wir wünschten, daß ihr eine Zeitlang bei uns bleiben möchtet, damit wir näher mit einander bekannt würden, besonders aber, daß ihr euch labtet an den Gütern dieser lieblichen Berge Gern willigten unsere Pilger darin ein. Somit aber begaben sie sich zur Ruhe, weil es schon sehr spät war.

Dann sah ich in meinem Traume, wie die Hirten früh Morgens Christ und Hoffnungsvoll aufweckten, daß sie mit ihnen auf die Berge gehen möchten. So geschah es denn, und nach allen Seiten hin hatten die Pilger eine liebliche Aussicht. Darauf fragten die Hirten einander: „Sollen wir diesen Pilgern einige besonders merkwürdige Punkte zeigen?„ Als sie dies nun einmüthig beschlossen hatten, führten sie dieselben zuerst auf den Gipfel eines Berges, Irrthum genannt, der an einer Seite sehr steil war; hier hießen sie die Pilger bis zum Fuße des Berges hinabschauen. Hier sahen nun Christ und Hoffnungsvoll Menschen liegen, die durch einen Sturz von der Höhe in die Tiefe ganz zerstückelt worden waren. „Was bedeutet das?“ fragte Christ. Da sagten die Hirten: „Habt ihr nicht gehört von denen, welche in Irrthum verführt worden sind durch Hymenäus und Philetus, im Glauben an die Auferstehung der Todten?„ 4) Sie antworteten: „Ja.“ Da sagten die Hirten weiter: „Nun, das sind die, welche ihr da unten am Fuße des Berges zerschmettert liegen sehet; sie sind, wie ihr bemerket, unbegraben geblieben bis auf diesen Tag, zum Exempel für Andere, daß sie sich nicht auch zu hoch versteigen oder dem Rande des Berges zu nahe kommen.

Darauf sah ich, daß sie die Hirten auf die Spitze eines andern Berges führten, deß Name Warnung ist. Hier hießen sie dieselben weit hinausschauen. De erblickten sie mehrere Menschen, die zwischen den Gräbern auf und niedergingen; zugleich bemerkten sie, daß diese Menschen blind seien, denn sie strauchelten oft über den Gräbern und konnten nicht dazwischen durchkommen. „Was bedeutet denn dies?„ fragte Christ. Darauf antworteten die Hirten: „Sehet ihr nicht unten an diesen Bergen einen Steg, welcher links von diesem Wege auf eine Wiese führt?“ Sie antworteten: „Ja.„ „Nun,“ sagten die Hirten, von diesem Stege geht ein Pfad, der gradezu auf die Zweifelsburg führt, welche der Riese Verzweiflung inne hat und diese Menschen (hier zeigten sie auf die hin, die zwischen den Gräbern wandelten) kamen auch einst auf ihrer Pilgrimschaft, wie ihr, grade bis an jenen Steg. Weil aber der rechte Weg an jener Stelle rauh war, so zogen sie es vor, davon ab und auf die Wiese zu gehen. Hier aber wurden sie vom Riesen Verzweiflung ergriffen und in die Zweifelsburg geworfen. Nachdem sie daselbst eine Zeitlang im Kerker gesessen, stach der Riese ihnen zuletzt die Augen aus und führte sie dann zwischen diese Gräber, wo er sie umherirren läßt bis auf diesen Tag, damit das Wort des Weisen erfüllet würde: Ein Mensch, der vom Wege der Klugheit irret, der wird bleiben in der Todten Gemeinde. 5) Da blickten Christ und Hoffnungsvoll sich unter einem Strom von Thränen an; doch sagten sie den Hirten kein Wort.

Hierauf sah ich in meinem Traume, daß die Hirten sie mit sich an einen andern Ort in eine Tiefe mit hinab nahmen, wo eine Thür an der Seite des Hügels war. Sie öffneten die Thür und ließen die Pilger hineinsehen. Diese bemerkten nun, daß es drinnen sehr dunkel und voller Rauch war. Auch glaubten sie ein prasselndes Geräusch, wie von einem Feuer, zu vernehmen und ein Geschrei von Gequälten, dabei kam ihnen ein Geruch wie Schwefel entgegen. „Was bedeutet das?„ fragte Christ. Da erwiederten die Hirten: „Dies ist ein Nebenweg zur Hölle, der Weg, auf welchem die Heuchler gehen: solche nämlich, die wie Esau, ihre Erstgeburt, oder wie Judas ihren Meister verkaufen, die das Evangelium lästern, wie Alexander und die da lügen und sich verstellen, wie Ananias und sein Weib Sapphira.

Da sagte Hoffnungsvoll zu den Hirten: „Ich bemerke, daß Jeder dieser Leute das Aussehen eines Pilgers hatte, wie wir's jetzt haben. Ist's nicht so?“

Hirt. Ja, und so war's sogar eine geraume Zeit hindurch.

Hoffn. Wie weit mochten sie wohl auf ihrer Pilgrimschaft gekommen sein, ehe sie so jämmerlich verworfen worden sind?

Hirt. Einige weiter, Andere nicht so weit, bis zu diesen Bergen.

„O,„ sagten da die Pilger zu einander, „wie nöthig ist's dann, daß wir zu dem Allmächtigen flehen, daß er mächtig sein möge in unserer Schwachheit!“

Hirt. Allerdings, wenn er euch aber Kraft gegeben, werdet ihr sie auch wohl gebrauchen. 6)

Um diese Zeit bekamen die Pilger ein Verlangen, weiter zu reisen, und die Hirten waren damit einverstanden. So wanderten sie denn mit einander bis zum Ende des Gebirges. Hierauf sagten die Hirten zu einander: „Lasset uns den Pilgern die Thore der himmlischen Stadt zeigen, wenn sie im Stande sind durch unser Fernglas zu sehen.„ Die Pilger aber nahmen das Anerbieten gerne an. Und nun führten die Hirten sie auf den Gipfel eines hohen Berges, Hell genannt, wo sie ihnen das Fernglas in die Hand gaben, um durch dasselbe zu sehen. 7)

Die Pilger versuchten's nun zwar, allein die Erinnerung an das, was ihnen die Hirten zuletzt gezeigt hatten, machte, daß ihre Hände zitterten und dadurch wurden sie denn verhindert, einen sichern Blick durch das Glas zu thun. Doch meinten sie etwas einem Thore Ähnliches und auch Einiges von der Herrlichkeit jenes Ortes zu erblicken. Bevor sie aber weiter gingen, sangen sie:

Tiefverborg'ne Dinge werden offenbaret
Von den Hirten, — Dinge, wie sie sonst kein Mensch bewahret. —
Zu den Hirten kommt, wollt ihr in Tiefen sehen,
Was geheim ist lernt man hier verstehen!

Als sie nun im Begriff waren, abzugehen, gab ihnen einer von den Hirten eine Beschreibung des Weges mit. Ein Anderer ermahnte sie, sich vor dem Schmeichler in Acht zu nehmen. Der Dritte warnte sie davor, auf dem Zaubergrunde einzuschlafen. Der Vierte wünschte ihnen Gott zum Geleite. Da erwachte ich aus meinem Traume.

1)
1 Joh. 10,12.
2)
Hos. 14,10.
3)
Hebr. 13,2.
4)
1 Tim. 1,19. 20. 2 Tim. 2, 17. 18.
5)
Sprüch. 21, 16.
6)
Luk. 19,16. ff.
7)
5 Mos. 34,1.