Bunyan, John - Pilgerreise – Die Pilgerin - Neuntes Kapitel.

Kampf und Sieg über den Riesen Verzweiflung. Zerstörung der Zweifelsburg. Ankunft in den lieblichen Bergen. Es brach nun die Zeit an, daß unsere Pilger ihren Weg fortsetzen mußten; sie rüsteten sich daher zur Abreise, ließen ihre Freunde kommen, besprachen sich mit ihnen und setzten auch eine Zeit fest, wo sie sich einander dem Schutze ihres Herrn zur Weiterreise anvertrauen wollten. Hinwiederum kamen Solche, die ihnen von dem brachten, das sie besaßen, und welches heilsamlich war für die Schwachen und für die Starken, für Weiber und Männer, und sie luden auf, was ihnen noth war. 1)

Darauf gingen sie denn ihres Weges weiter, und ihre Freunde begleiteten sie, soweit es angemessen war; dann befahlen sie einander noch einmal dem Schutze ihres Königs an und nahmen Abschied von einander.

So zog denn die Pilgergesellschaft weiter, Muthherz an der Spitze derselben. Da sie aber um der schwachen Frauen und Kinder willen nicht rasch gehen durften, konnten Hinkfuß und Schwachmuth ebenfalls mitkommen.

Nach ihrem Ausgange aus der Stadt und dem Abschiede von ihren Freunden, langten sie alsbald an der Stelle an, wo Getreu den Tod erduldet hatte. Hier machten sie Halt und dankten Dem, der ihn mächtig gemacht, sein Kreuz so standhaft zu tragen, und um so mehr, weil sie selber den Segen verspürt, den eine so männliche Standhaftigkeit in den Leiden mit sich führt.

Sie gingen hierauf eine gute Strecke weiter und sprachen von Christ und Getreu, und wie Hoffnungsvoll sich nach Getreu's Tode an Christ angeschlossen habe. Darüber waren sie bei dem Hügel Gewinn2) angelangt, wo die Silbergrube war, wodurch Demas sich von seinem Pilgerwege abbringen ließ, und in welche, wie Etliche vermuthen, Nebenwege hineinfiel und umkam. Darüber stellten sie deßwegen ihre Betrachtung an. Als sie aber zu dem alten Denkmal gekommen waren, welches jenem Hügel gegenüber stand, nämlich zur Salzsäule, die auch im Angesichte Sodoms und des todten Meeres stand, verwunderten sie sich, wie ehedem auch Christ gethan, daß Männer, d« solche Erkenntniß und Reife des Verstandes, wie sie besaßen, so verblendet gewesen waren, hier umzuwenden. Doch bedachten sie auch andererseits, wie der natürliche Sinn nicht geneigt ist, sich durch den Schaden Linderer belehren zu lassen, zumal, wenn das, worauf sie hinsehen, eine anziehende Kraft auf das thörichte Auge ausübt.

Nun sah ich in meinem Traume, daß sie zu dem Strome kamen, der diesseits der lieblichen Berge3) fließt — dem Strome, an dessen beiden Seiten köstliche Bäume wachsen, dessen Blätter, innerlich eingenommen, gut gegen Kümmernisse sind; allwo die Wiesen das ganze Jahr hindurch grünen, und man sicher ruhen kann. 4) An dem Ufer dieses Flusses, auf den Wiesen, waren auch Hütten und Hürden für Schafe, und ein Haus zur Nahrung und Pflege der Lämmer, nämlich der Kindlein solcher Frauen, die sich auf die Pilgerfahrt begeben. Da war auch Einer, der ihrer wartete und Mitleiden haben konnte mit ihrer Schwachheit,5) der die Lämmer in seine Arme sammelt und in seinem Busen trägt und die Schafmütter führet. 6) Christin nun mahnte ihre vier Schwiegertöchter, ihre Kleinen der Sorge dieses Mannes anzuvertrauen, damit dieselben an diesen Wassern auferzogen, ernährt, gehegt und gepflegt würden und Keins von ihnen in Zukunft verloren gehen möchte. Wenn Eins von ihnen in die Irre geräth oder sich verliert, bringt er es wieder zurück; Er verbindet das Verwundete und wartet des Schwachen. 7) Hier gebricht es ihnen niemals an Speise, Trank oder Kleidung; hier sind sie sicher vor Dieben und Räubern, denn dieser Mann lasset eher sein Leben, als daß Er eins von denen, die Ihm anvertraut sind, sollte umkommen lassen. Hier können sie guter Erziehung und Mahnung gewiß sein, und werden unterwiesen zu wandeln auf gutem Wege, und das ist, wie ihr wisset, eine Gnade, welche nicht gering anzuschlagen ist. Hier gibt es, wie ihr sehet, köstliche Wasser, anmuthige Wiesen, duftende Blumen, allerlei Bäume und namentlich solche, die gesunde Früchte tragen — Früchte, nicht wie die, von denen Matthäus aß, die aus Beelzebubs Garten über die Mauer gefallen waren, sondern Früchte, welche Gesundheit bringen, wo sie nicht ist, und sie erhalten und fördern, wo sie ist. Deßwegen waren sie's denn wohl zufrieden, ihre Kleinen Ihm zu übergeben, und was sie dazu noch mehr ermunterte, war der Umstand, daß alles Dies auf Kosten des Königs geschah, und daß solch eine Verpflegungsanstalt für Kinder und Waisen hier war.

Nun gingen sie weiter, und da sie an die Abwegswiese8) zu der Steige gekommen waren, über welche Christ mit seinem Gefährten Hoffnungsvoll ging, als sie von dem Riesen Verzweiflung ergriffen und in die Zweifelsburg gesteckt wurden — da setzten sie sich nieder und überlegten, was zu thun am Besten sei: nämlich, ob, da ihrer jetzt so Viele bei einander wären und einen Mann, wie Muthherz zum Führer hätten, es nicht gerathen sei, bevor sie weiter zögen, einen Angriff auf den Riesen zu machen, seine Burg zu zerstören und die Pilger, die sich etwa darin befänden, in Freiheit zu setzen. Hier nun rieth der Eine dies und der Andere jenes. Einer warf die Frage auf: ob es gestattet sei, sich auf einen unheiligen Boden zu begeben? Ein Anderer sagte, das dürfe man, vorausgesetzt, daß es zu einem guten Zweck geschehe. Muthherz aber bemerkte darauf: Obgleich die zuletzt vorgebrachte Behauptung nicht als allgemein und unbedingt gültig zugegeben werden kann, so habe ich doch auch ein Gebot, daß ich der Sünde Widerstand thun, das Böse überwinden und den guten Kampf des Glaubens kämpfen soll. Und nun saget mir denn, womit sollte ich diesen Kampf kämpfen, wenn nicht mit dem Riesen Verzweiflung? Darum will's ich wagen, seinem Leben ein Ende zu machen und die Zweifelsburg zu zerstören. Und nun sprach er: Wer will mit mir gehen?

Ich, sagte der alte Redlich, und wir auch, sprachen Matthäus, Samuel, Joseph und Jakob, Christin's vier Söhne, denn es waren vier starke Jünglinge. 9) So ließen sie denn die Frauen auf der Straße zurück und bei ihnen Schwachmuth und Hinkfuß mit seinen Krücken, damit diese Beiden die Frauen beschützen möchten, bis sie wieder zurückkämen; denn obwohl der Riese dort so nahe wohnte, so konnte doch jedes kleine Kind, wenn sie nur die Straße einhielten, sie richtig führen. 10)

So zogen denn Muthherz, der alte Redlich und die vier jungen Männer die Zweifelsburg hinauf, um den Riesen Verzweiflung aufzusuchen. Als sie an das Burgthor kamen, klopften sie ungewöhnlich hart an. Der alte Riese kam hierauf an's Thor und hinter ihm sein Weib Mißtrauen. Wer und was ist der, welcher so kühn ist, den Riesen Verzweiflung auf solche Weise zu belästigen?

Das bin ich, Muthherz, erwiederte dieser, einer von den Dienern des Königs der himmlischen Stadt und ein Führer der Pilger zu derselben bin —und mein Begehren ist, daß du mir dein Thor zum Eingange öffnest; zugleich bereite dich nur vor zum Kampfe, denn gekommen bin ich, dir den Kopf herunter zu schlagen und die Zweifelsburg zu zerstören.

Indessen dachte der Riese Verzweiflung, eben weil er ein Riese sei, es könne ihn Niemand überwinden. Dazu dachte er: wie! mich, der ich vor Zeiten Engel besiegt habe — sollte dieser Muthherz bange machen? So legte er denn seinen Harnisch an und zog hinaus. Eine Stahlhaube setzte er auf sein Haupt, gürtete einen feurigen Panzer um seine Brust und trat hervor in Schuhen von Eisen, eine große Keule in seiner Hand. Sofort griffen ihn die sechs Männer an und bedrängten ihn von vorne und von hinten. Als nun auch Mißtrauen, die Riesin, hervorkam, um ihm Beistand zu leisten, streckte der alte Redlich sie mit einem Schlage zu Boden. Nun kämpften sie auf Tod und Leben, und der Riese Verzweiflung ward zur Erde geworfen, aber ohne sogleich zu sterben. Er kämpfte gewaltig und hatte, wie man zu sagen pflegt, ein Leben wie eine Katze; Muthherz aber ward sein Tod, denn er ließ nicht ab von ihm, bis er ihm den Kopf von den Schultern getrennt hatte.

Darnach gaben sie sich daran, die Zweifelsburg zu zerstören, und das war, wie ihr wohl denken könnt, nicht mehr so schwer, nachdem der Riese Verzweiflung gefallen war. Sieben Tage lang waren sie mit dieser Zerstörung beschäftigt, und fanden in der Burg einen Pilger, namens Verzagt, der fast zu Tode gehungert war, nebst seiner Tochter Bänglichkeit; diesen beiden ward auf diese Weise das Leben gerettet. Allein verwundert haben würdet ihr euch, wenn ihr die Leichname gesehen hättet, die hin und wieder im Burghofe lagen und die Todtengebeine, von denen der Kerker dort angefüllt war.

Nachdem Muthherz und seine Gefährten diese Heldenthat vollbracht hatten, nahmen sie Verzagt und dessen Tochter unter ihren Schutz; denn es waren doch redliche Leute, obwohl sie als Gefangene des Riesen in der Zweifelsburg gesessen hatten. Auch nahmen sie ferner des Riesen Haupt mit (denn seinen Leib hatten sie unter einem Haufen Steine begraben), und gingen wieder die Straße hinab, um ihren Gefährten zu zeigen, was sie ausgerichtet hatten. Als Schwachmuth und Hinkfuß nun sahen, daß es wirklich das Haupt des Riesen Verzweiflung war, wurden sie ganz heiter und froh. Christin aber konnte, wenn es darauf ankam, auf der Bratsche und ihre Schwiegertochter Barmherzig auf der Laute spielen. Da sie nun so heiter gestimmt waren, spielten sie ihnen ein Stück, und Hinkfuß tanzte dazu. Er nahm Bänglichkeit, die Tochter Verzagt's, bei der Hand, und so tanzten sie denn auf der Straße. Er mußte zwar eine Krücke in der Hand halten, aber, ich kann euch versichern, es ging dennoch ganz gut, und auch das Mädchen schickte sich trefflich an, indem sie sich genau nach dem Takt bewegte. Was jedoch den armen Verzagt anlangte, so war ihm an der Musik nicht viel gelegen. Er hielt mehr auf's Essen, wie auf's Tanzen, denn er war beinahe ausgehungert. Christin gab ihm deßhalb aus ihrer Flasche von dem stärkenden Getränk zur augenblicklichen Erquickung und machte ihm dann Etwas zu essen, und so kam der Alte bald wieder völlig zu sich und fing recht aufzuleben an.

Als nun dies Alles vorbei war, sah ich in meinem Traume, wie Muthherz das Haupt des Riesen Verzweiflung nahm und dasselbe auf einem Pfahl an der Heerstraße aufstellte, gerade dem gegenüber, welchen Christ den nachfolgenden Pilgern zur Warnung errichtet hatte, damit sie den Grund und Boden des Riesen nicht betreten möchten. Dann setzte er darunter auf einen Marmorstein die folgenden Verse:

Dies ist das Haupt von Dem, deß Namens bloßer Klang
Der Pilger Herz mit Angst und Furcht durchdrang.
Zerstört ist seine Burg, sein Weib Mißtrauen fand
Den Tod, getroffen von Muthherzens tapfrer Hand;
Auch für Verzagt und seine Tochter Bänglichkeit
Erstritt er Freiheit im gewalt'gen Streit.
Wer daran zweifelt, schau' dies Holz nur an,
Und — schwinden muß des Zweifels ganzer Wahn:
Dies Haupt, um welches selbst der Krüppel hüpft,
Bezeuget, daß er aller Furcht entschlüpft.

Nachdem diese Männer sich gegen die Zweifelsburg so tapfer erwiesen und den Riesen Verzweiflung erschlagen hatten, zogen die Pilger weiter und kamen zu den lieblichen Bergen, wo Christ und Hoffnungsvoll sich an den mancherlei Annehmlichkeiten des Ortes erquickt hatten. Sie machten ebenfalls Bekanntschaft mit den dortigen Hirten, von denen sie, wie früher Christ, in ihren Bergen willkommen geheißen wurden. Da sie sahen, daß Muthherz diesmal in so zahlreicher Begleitung kam, sprachen sie zu ihm (denn sie kannten ihn sehr wohl): Ei, Lieber, da hast du eine große Gesellschaft mitgebracht; sage uns doch, wo du all diese gefunden hast?

Hierauf erwiederte Muthherz:

Zuerst ist Christin hier mit ihren Kindern,
Vier Söhne sind's, zugleich mit ihren Frauen,
Die festen Blicks mit sicherem Kompaß schauen
Dem Lande zu, wo heilsbegier'gen Sündern
- Sich wunderbar erschleußt der Gnadenport,
Sie hinzuführen an den Friedensort.
Mit ihnen dort die Krone zu empfangen,
Schloß Redlich sich als Pilger ihnen an,
Und Hinkefuß zugleich, ein biedrer Christenmann;
Schwachmuth, der Gute, auch ist mit gegangen
Nebst seiner Tochter Bänglichkeit,
Denn Beide mochten nicht dahinten bleiben,
So gut sie konnten, gern die Pilgerfahrt betreiben.
Wohlan! seid ihr denn nun bereit,
Uns Herberg' freundlich zu gewähren, oder müssen
Wir weiter ziehen? bitte, laßt's uns wissen.

Das ist eine liebliche Gesellschaft, sagten darauf die Hirten. Ihr seid uns willkommen, denn wir sind versehen sowohl mit dem, was sich für die Schwachen, als auch was sich für die Starken eignet. Unser Fürst hat ein Auge auch für das, was dem Geringsten von diesen gethan wird. 11) Deßwegen kann uns auch Schwachheit nicht hindern an der Aufnahme.

So führten sie die Pilger zur Thüre des Pallastes und sprachen: Kommet herein, Schwachmuth, Hinkfuß und Verzagt mit deiner Tochter Bänglichkeit. Diese, sagten die Hirten zu Muthherz, rufen wir mit Namen, weil sie sehr geneigt sind, sich hinter Andere zurückzuziehen; was aber euch und die Übrigen anlangt, so stellen wir Alles eurer gewohnten Freiheit anheim.

Darauf sagte Muthherz: Heute sehe ich, wie euch die Gnade aus den Augen leuchtet, und daß ihr wahrhaftige Jünger unseres Herrn seid, indem ihr die Schwachen nicht von euch stoßet,12) sondern ihnen vielmehr den Weg zum Pallaste mit Blumen bestreuet, wie es sich gebühret.

Die Schwachen und Elenden gingen denn so hinein, und Muthherz folgte mit den Andern, als sie sich denn Alle niedergelassen, sagten die Hirten zu den Schwächern: Was begehret ihr nun? Denn hier wird Alles daran gewandt, um die Schwachen zu stärken und die Ungehorsamen zu warnen.

Hierauf bereiteten sie ihnen ein Mahl von leicht verdaulichen, wohlschmeckenden und nahrhaften Speisen. Nachdem sie dasselbe eingenommen, begaben sie sich zur Ruhe, ein Jeglicher an seinen Ort.

Nachdem der Morgen angebrochen und sie sich angekleidet und gefrühstückt hatten, führten die Hirten sie, weil der Tag hell und die Berge hoch waren, auf's Feld und zeigten ihnen, nach ihrer Gewohnheit, vor der Weiterreise manche Merkwürdigkeit, und zwar außerdem was Christ früher gesehen hatte — noch folgendes Andere und Neue.

Zuerst den Berg des Wunders, wo sie in einiger Entfernung einen Mann sahen, der Berge versetzte durch sein Wort. Da fragten sie die Hirten, was das zu bedeuten habe? Sie sagten ihnen, dies sei der Sohn eines gewissen Gnadengroß, wovon ihr in dem ersten Theile der Pilgerreise bereits gelesen habt. 13) Er ist dahin gestellt, die Pilger zu unterweisen, wie sie alle Schwierigkeiten, die ihnen begegnen möchten, durch den Glauben aus dem Wege räumen sollen. 14) Ich kenne ihn, sprach Muthherz, er ist ein Mann, der manche Andere weit übertrifft.

Hierauf führten sie dieselben an einen andern Ort, den Berg der Unschuld. Da erblickten sie einen Mann, der ganz in Weiß gekleidet war, welchen zwei Andere, Vorurtheil und Übelgesinnt beständig mit Koth warfen. Aber siehe, wie sehr sie ihn auch bewarfen, der Koth fiel bald wieder ab, und sein Gewand sah so hell aus, als ob es nicht besteckt worden wäre. Da fragten die Pilger: Was soll das bedeuten? Und die Hirten gaben zur Antwort: Dieser Mann heißt Gottselig und das Gewand, welches er anhat, soll die Unschuld seines Lebens anzeigen. Die aber, welche ihn mit Koth bewerfen, sind solche, die seine guten Werke hassen; allein, wie ihr sehet, daß der Koth nicht haftet auf seinen Kleidern, so soll es dem ergehen, der unschuldig lebet in dieser Welt. Wie viele ihrer auch sein mögen, die solche Menschen beflecken wollen, so geben sie sich doch nur vergebliche Mühe; denn Gott wird nach kurzer Zeit machen, daß ihre Unschuld hervorbreche wie das Licht und ihre Gerechtigkeit wie der helle Mittag. 15)

Darnach brachten sie dieselben zum Berg der Liebe. Dort zeigten sie einen Mann, der eine dicke Rolle Tuch vor sich liegen hatte, woraus er allerlei Kleidungsstücke zuschnitt für die Armen, die um ihn herum standen. Allein seine Tuchrolle ward dennoch nicht kleiner. Da fragten sie: Was ist das? Das soll euch anzeigen, antworteten die Hirten, daß der, welcher ein Herz dafür hat, von seiner Arbeit den Armen mitzutheilen, niemals an Etwas Mangel haben wird. 16) Wer Andere erquickt, soll wieder erquickt werden. Durch den Kuchen, welchen die Wittwe dem Propheten gab, ward das Mehl in ihrem Topfe nicht gemindert. 17)

Nun wurden sie zu einem Orte geführt, wo sie einen Mann, Namens Narr und einen andern, Namens Mangelwitz sahen, die sich damit befaßten, einen Mohren weiß zu waschen; indessen, je mehr sie wuschen, desto schwärzer wurde er. Als sie nun die Hirten fragten: Was dieses auf sich habe? sagten dieselben: so geht es mit den schlechten Menschen; alle Mittel, die angewandt werden, ihnen einen guten Schein beizubringen, machen sie zuletzt nur noch abscheulicher. So ging es auch mit den Pharisäern, und so wird es gehen mit allen Heuchlern.

Da sprach Barmherzig zu ihrer Schwiegermutter Christin: Ich möchte wohl, wenn es sein könnte, die Höhle in dem Berge besehen, oder, wie es gewöhnlich genannt wird, der Nebenweg zur Hölle. Da theilte Christin den Hirten diesen Wunsch ihrer Schwiegertochter mit. Und so gingen sie zur Thüre, die an der Seite des Hügels war; man öffnete sie und hieß Barmherzig eine Weile horchen. Sie horchte und hörte Einen rufen: Verflucht sei mein Vater, daß er meine Füße abgehalten hat vom Wege des Friedens und des Lebens! Ein Anderer rief: O, daß ich wäre in Stücke zerrissen worden, ehe ich, um mein Leben zu erhalten, meine Seele verloren! Noch Einer rief: Wenn ich wieder in's Leben zurücktreten könnte, wie wollte ich mich dann selber verläugnen, damit ich nicht käme an diesen Ort! Dann war es, als wenn die Erde selbst unter den Füßen des jungen Weibes gedröhnt und gebebt hätte. Sie sah leichenblaß aus und ging zitternd von dannen, indem sie sprach: Heil einem Jeglichen, der gerettet wird von diesem Orte der Qual!

Als nun die Hirten ihnen alle diese Dinge gezeigt hatten, führten sie dieselben wieder in den Pallast zurück und warteten ihnen auf mit Allem, was das Haus vermochte. Barmherzig, als ein junges Weib, ward hier nach Etwas lüstern, welches sie sich schämte, zu fordern. Ihre Schwiegermutter, welche bemerkte, daß es ihr nicht wohl war, fragte sie, was ihr fehle? Da sagte Barmherzig: dort im Speisezimmer hängt ein Spiegel, wovon ich meinen Sinn nicht abziehen kann, und ich fürchte, daß es mir übel gehen wird, wenn ich den Spiegel nicht bekomme.

Da versetzte Christin: ich will dein Begehren den Hirten kund thun; sie werden es dir wohl nicht abschlagen.

Allein Barmherzig sprach: Ich schäme mich, diese Männer mein Verlangen wissen zu lassen.

Ei, meine Tochter, erwiederte jene, es ist keine Schande, sondern eine Tugend, nach so Etwas zu verlangen.

Nun dann, sagte Barmherzig, so frage denn gefälligst die Hirten, ob sie den Spiegel verkaufen wollen?

Derselbe war auserlesen unter Tausenden. Auf der einen Seite stellte er einem Manne seine eigenen Gesichtszüge genau dar,18) und auf der andern das Angesicht und Ebenbild des Königs der Pilger selbst. 19) Ja, es haben Einige mir gesagt, daß sie in diesem Spiegel sogar die Dornenkrone auf seinem Haupte, so wie die Wundenmale in seinen Händen, seinen Füßen und seiner Seite darin gesehen haben. Ja, dieser Spiegel besitzt eine solche Vortrefflichkeit, daß er Jedem den Herrn zeiget, wie er ihn zu sehen begehret, im Leben oder im Tode, auf der Erde oder im Himmel, im Stande der Erniedrigung oder der Erhöhung, in seinen Leiden oder in seiner Herrlichkeit.

Christin nahm deßwegen die Hirten bei Seite (ihre Namen waren: Erkenntniß, Erfahrung, Wachsam und Aufrichtig) und sprach zu ihnen: Eine meiner Schwiegertöchter hat ein dringendes Verlangen nach Etwas, das sie in diesem Hause gesehen hat, und dieselbe hat mir gesagt, es würde ihr übel ergehen, wenn man es ihr versagte.

Erfahrung. Rufe sie, rufe sie; sie soll sicherlich bekommen, wozu wir ihr verhelfen können.

So wurde Barmherzig nun gerufen und gefragt: Was ist es denn, das du zu haben wünschest?

Sie erröthete aber und sprach: den großen Spiegel im Speisezimmer.

Da lief Aufrichtig hin und holte ihn, und mit freudiger Zustimmung ward er ihr gegeben. Nun verneigte sie sich, stattete ihren Dank ab und sprach: Hieran erkenne ich, daß ich Gnade gefunden habe vor euren Augen.

Auch gaben sie den andern jungen Frauen, was sie begehreten und ihren Männern wurde großes Lob ertheilt, daß sie im Vereine mit Muthherz den Riesen Verzweiflung geschlagen und die Zweifelsburg zerstört hätten.

Der Christin aber hingen die Hirten ein Halsband um und ebenso auch ihren vier Schwiegertöchtern; desgleichen schmückten sie dieselben mit Ohrringen und mit Juwelen um ihre Stirnen.

Als die Pilger gesonnen waren, von dort abzureisen, ließen die Hirten dieselben ziehen im Frieden, ertheilten ihnen aber nicht die Warnungen, welche sie Christ und seinem Gefährten früher gegeben hatten. Sie thaten es aber um deßwillen nicht, weil sie Muthherz zum Führer hatten, der genau mit den Dingen bekannt war und ihnen die Warnungen gerade wenn es Zeit war, ertheilen konnte, nämlich dann, wenn gerade die Gefahr sich nahete. Was für Warnungen auch Christ und sein Gefährte von den Hirten erhalten, so waren sie denselben doch, gerade als die Zeit gekommen, wo sie Gebrauch davon hätten machen sollen — entgangen. In dieser Hinsicht hatte also diese Gesellschaft vor der andern einen Vorzug.

- Sie reiseten nun von da weiter und sangen:

Wie war die Tafel dort so reich besetzt
Mit dem, was Pilger labet und ergötzt
Wie willig nimmt man Jeglichen dort auf,
Der nach dem Himmel richtet seinen Lauf!
Was haben Köstliches sie uns beschert! —
Sie gaben, was als Pilger wir begehrt,
Und haben herrlich uns noch ausgeschmückt,
Daß Pilger Jeglicher in uns erblickt.

1)
Apostelg. 28, 10.
2)
Theil I. S. 120 ff.
3)
Theil I. S. 181.
4)
Ps. 23,2.
5)
Ebr. 4,15. ; 5,2.
6)
Jes. 40,11.
7)
Jer. 23,4. Hes. 34,11-16.
8)
Thl. I. S. 125 ff.
9)
1 Joh. 2,13. 14.
10)
Jes. 11,6.
11)
Matth. 25,40.
12)
Hes. 34,21.
13)
Theil I. S. 143.
14)
Mark. 11,23. 24.
15)
Ps. 37,6.
16)
Sprüch. Sal. 11,24.
17)
1 Kön. 17, 8-16.
18)
Jak. 1, 23.
19)
2 Kor. 3, 18. ; 1 Kor. 13, 12.