Luk. 10,25-37
„Du sollt Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten als dich selbst“; wie? wenn die Liebe Gottes das ganze Herz des Menschen einnehmen soll, hat dann die Liebe des Nächsten auch noch eine Statt? sollen wir denn zwei Herren zugleich dienen? oder kann das Herz geteilt werden, dass es einesteils Gott, andernteils dem Nächsten diene? Gott soll geliebt werden von ganzem Herzen; aber diese Liebe bringt, gleichsam als Frucht, die Liebe des Nächsten mit sich. Beide Arten von Liebe widerstreiten sich nicht, sondern ein gebiert die andere. Wer Gott liebt, liebt auch die, welche Gott zu lieben befohlen. Aber wer ist mein Nächster? Der Eine sagt: ich bin mir selbst der Nächste. Der Andere: mein Nächster ist, der mir durch das Blut verwandt ist. Der dritte: der mir wohl tut, denn wer mir Übles zufügt, ist mir fremd.
Im Gleichnis vom Samariter zeigt nun Jesus, wie auch unser Feind unser Nächster sei: „Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab gen Jericho und fiel unter die Mörder, die zogen ihn aus“ usw. Wir übergehen die Allegorien, die unter Jerusalem die heilige, unter Jericho die verfluchte Stadt, unter dem Reisenden den Sünder, unter den Räubern die ihn peinigenden bösen Geister, unter dem Priester und Leviten, die vorübergingen, die äußeren Kirchengebräuche, Opfer, Werke, die den Menschen nicht rechtfertigen, unter dem barmherzigen Samariter Christum verstehen, der die Sünden vergibt, den Geschlagenen heilt und ihn dem Wirt, d.h. den Dienern der Kirche, zu weiterer Pflege übergibt. Der erste und wesentliche Sinn des Gleichnisses ist, dass unter dem „Nächsten“ nicht nur der Freund, sondern auch der Feind zu verstehen sei. Als der Jude in seinem Elend den Priester und den Leviten erblickte, welche freudige Hoffnung konnte er da auf seine Rettung schöpfen! Aber siehe, beide gehen vorüber, uneingedenk ihrer Pflicht der Liebe. Opfer und gottesdienstliche Verrichtungen halten sie für ihre guten Werke; die Sorge für die Armen und Geschlagenen liege dem gemeinen Volke ob. Als der Jude den Samariter erblickte, was meinst du werde er anders gedacht haben, als der werde ihn, den Halbtoten, vollends gar umbringen? Doch wo die Hoffnung am kleinsten, ist der Erfolg oft am größten. Der Samariter erweist ihm alle Liebe. Er erblickt in ihm zwar seinen Feind, aber den, der in der Not ist, und das rührt ihn und weckt seine Liebe, jene Liebe, die nach Paulus nicht eifert, sondern freundlich ist, nicht das Ihre sucht, sondern das des Nächsten ist.
Tue das, spricht Jesus, so wirst du leben. Aber, fragst du, wer kommt auf diesem Weg zum Leben, zum Himmelreich? Das ist Jesus allein, der also den Vater von ganzem Herzen liebte und seinen Nächsten, wie sich selbst, ohne alle Fehl und Sünde. Unter allen andern Menschen ist kein Einziger gerecht erfunden. Allerdings ist von den Gottlosen gewiss, dass sie weder das Gesetz Gottes erfüllen, noch ins Reich Gottes gelangen. Von den Frommen und Heiligen aber bezeugt die Heilige Schrift, dass, wenn sie auch den heiligen Geist haben, doch immer Etwas von der Sünde in ihnen zurückbleibt und sie das Gesetz nie vollkommen erfüllen. Denn das Gute, sagt Paulus, das ich will, tue ich nicht, und das Böse, das ich nicht will, tue ich. Das Gesetz ist geistlich; ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft. Nun ist allerdings ein Weg zum ewigen Leben, der durch das Gesetz und seine Werke; der andere Weg aber ist Christus und der Glaube an Christum. Christus hat nicht bloß für sich zu seinem Besten das Gesetz vollkommen erfüllt, sondern die Sünden der Menschen gesühnt, sie mit dem Vater versöhnt, durch seinen Gehorsam es verdient, dass die, die an ihn glauben, mit seiner Gerechtigkeit beschenkt und so von Gott angesehen werden, als hätten sie mit ihren Werken das Gesetz vollkommen erfüllt. So bleibt uns kein anderer Weg zum ewigen Leben als der durch Christum, der uns zu Kindern Gottes und Erben des ewigen Lebens gemacht hat. Wer seine Sünden erkennt und an Christum sich hält, allein von Gottes Gnade Vergebung der Sünden erwartet, durch seinen Glauben aber auch sich antreiben lässt, Früchte des Glaubens zu bringen, jene Werke, die das Gesetz vorschreibt, der wird das ewige Leben haben und ins Himmelreich eingehen. Du hast also zwei Wege, die dich ins Himmelreich führen, das Gesetz und Christus, und da du auf jenem wegen deiner Sünde nicht zum Ziel kommen kannst, so folge um so mehr mit vollem Glauben Christo, dass du durch ihn gerechtfertigt zum Heil gelangst.
Quelle: Klaiber, Karl Friedrich - Evangelische Volksbibliothek, Band 2